"Erste Brocken losgeklopft"

Marko Martin kehrt mit "Sommer 1990" in die abtretende DDR zurück und versucht als Diarist die "versteinerten Spuren darin zum Sprechen zu bringen"

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Hätte man hier zu Lande", schrieb Ende August vorigen Jahres in der "Welt" der Journalist und Schriftsteller Marko Martin (Jahrgang 1970), "noch den Atem für jene identitätsstiftenden Erzählungen, die das Selbstverständnis einer Nation definieren, man hätte die Leute daran erinnern können, dass vor 15 Jahren die klagend-kindische Redefigur 'Vater-Staat' für ein paar wunderschöne Geschichtsmomente lang zu Grabe getragen beziehungsweise unter ungarisches Präriegras gestampft wurde: Wenn in diesem jubiläumstrunkenen Sommer - Weltkriegsbeginn, Normandie-Landung, Warschauer Aufstand, 20. Juli - tatsächlich etwas Entscheidendes vernachlässigt wurde, dann ist es die noch immer gegenwartsrelevante Erinnerung an jenen Pioniergeist, der im August und September 1989 Abertausende von Ostdeutschen dazu brachte, via Ungarn oder über die bundesdeutschen Botschaften von Prag und Warschau dem SED-Staat den Rücken zu kehren und ihr Glück auf eigene Faust zu suchen. Dass dabei jedoch nicht etwa grüblerische teutonische Identitätssuche das Handeln dieser flüchtenden Männer, Frauen und Kinder bestimmte, sondern der erzamerikanische und gleichzeitig universell gültige pursuit of happiness - diese großartige Tatsache musste und muss im Doppeldeutschland des ewigen Zauderns und Vergrämtseins ein solches Provokationspotenzial bergen, dass man der Ereignisse vom Frühherbst 1989 noch immer höchst selektiv gedenkt."

Etwa zur gleichen Zeit, als Martin in der "Welt" dem "verdrängten Heldenmythos" auf der Spur war, erschien sein Tagebuch "Sommer 1990". Dieser 200 Seiten umfassende Text, mit seinem Nachwort "Das zweite Vergessen. Fünfzehn Jahre danach" ist vom selben Grundanliegen getragen wie sein Beitrag in der "Welt". Es geht dem jungen Autor, der im Frühjahr 1989 die DDR verlassen konnte, um den Widerstand gegen die selektive Wahrnehmung: "So wie die Präsenz der Mauer ausgeblendet wurde," notiert Martin bei einem Aufenthalt in Berlin, "so wird jetzt ihr Fall wortlos und gleichgültig - die Begeisterung reichte nur für eine Nacht - zur Kenntnis genommen, als wäre alles austauschbar."

Marko Martins vierwöchige Spurensuche in der ehemaligen sächsischen Heimat samt ihrer schriftlichen 'Verarbeitung', wie der damals knapp 20-jährige Diarist festhält, soll "vielleicht zu einem Befreiungsprozeß" gerinnen: "sich der Risse bewußt zu werden, diese Landschaft abzustecken für später. Einen ersten Brocken losgeklopft, noch keine Literatur, aber ein Versuch, die versteinerten Spuren darin zum Sprechen zu bringen, irgendwann."

Ein knappes Jahr nach dem Fall der Mauer, den Marko Martin als verspäteter Abiturient am Bodensee miterlebt beziehungsweise eben nicht miterlebt hat, versucht er mit seiner Reise in die abtretende DDR zu verstehen, was in jenen Sommermonaten, bald nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik, im "Doppeldeutschland" geschehen ist: " Ich aber war nicht dabei. Stehe zwischen den Zeiten, den Ländern". Nur allzu bald und hellsichtig wird ihm klar: "Nichts wird wiederkommen. Die Wege haben sich getrennt. Wer einmal so fortgegangen ist, voll Schmerz und Hoffnung, der kommt niemals zurück, es sei denn für Augenblicke."

Dieses Gefühl des Dazwischen-Stehens wird noch verstärkt durch das Bewusstsein, in den entscheidenden Momenten nicht nur nicht zugegen gewesen zu sein, sondern "die Vorgänge im Osten nur am Rande" verfolgt zu haben. Denn kurz vor seiner sommerlichen Reise liest Marko Martin sein Tagebuch aus der Wendezeit und erschrickt "über dieses Maß an Ignoranz und Verdrängung - was mußte passiert sein, was für ein Abschied, daß die frühere Heimat plötzlich völlig inexistent geworden war, gerade noch als Mutmacher mit negativen Vorzeichen". Doch genauso irritiert ist der Tagebuchschreiber, als er nach einer "reibungslosen Fahrt" am 2. August in Berlin ankommt und schon auf der Autobahn "Gesichtsgeographie beim Sekundenblick in den deutsch-deutschen Automobilverkehr" betreibt und bemerkt: "Die Gesichter hinter den Lenkrädern volkseigen erschaffener Produkte seltsam zerknirscht an diesem Sommermorgen, selbst wenn der volle Gepäckträger eine Urlaubsreise verrät."

Von der Schule geflogen, weil er die vormilitärische "Ausbildung" verweigert hat, will sich der angehende Abiturient vom Bodensee nun selbst ein Bild davon machen, was Monate später von der friedlichen Revolution geblieben ist. Auch um zu verstehen, wie das untergehende "Staatsgebilde psychologisch gemacht wurde", sucht Martin entscheidende Orte seiner Erinnerung, seiner zweiten Gegenwart, auf, etwa wenn er des toten 20-jährigen Chris Gueffroy gedenkt, der im Februar 1989 beim Fluchtversuch an der Mauer erschossen wurde: "Das Leben hat man ihm aus dem Leib geschossen, er kommt nicht wieder. Einzige, kleine Möglichkeit: das niemals vergessen, ihn nah im Gedächtnis halten, ihm wenigstens diesen zweiten Tod ersparen." In Momenten wie diesen bricht der Tagebuchschreiber in zornige, direkte Anklage aus: "So schnell geht töten, so endgültig und so schnell, Herr Mielke, Herr Modrow. Und so schnell kann das vergessen werden, Herr Diestel, Herr de Maizière."

Nicht vergessen, lebendig geblieben sind Momente der Befreiung in Tschechien, wie Martin bei einem Besuch in Prag festhält. Dort erlebt er Vaclav Havel und Dubcek, Mitglieder vom "Obcanske Forum". Nach seiner Rückkehr hat Martin nun die Kraft, in der sächsischen Provinz in Wittgensdorf, "wo ich bis zu meinem Rausschmiß im Juni 1988 Lehrling für Meß- und Regeltechnik war", einen ehemaligen Vorgesetzten zur Rede zu stellen. Der Dialog mit dem unverbesserlichen Lehrmeister gehört zu den literarisch besten Passagen des Tagebuchs, auch und gerade wenn an dessen Ende Martin zu Recht selbstkritisch festhält: "Noch nicht literarisch, nichts in sich Geschlossenes, die Teile driften auseinander, sie sammeln, erste Brocken vorerst nur zurechthauen, aus denen dann einmal die Adern und Verästelungen oder auch die Stricke hervorscheinen könnten, durch die dieses System an sich band, funktionieren ließ, Marionetten erschuf."

Gleichwohl geben die auseinander driftenden Teile, die verästelten Impressionen in "Sommer 1990" einen starken Einblick in die brodelnde Aufbruchshoffnung jener Monate. Insofern verzeiht man dem jugendlichen Tagebuchschreiber manche Redundanz, spiegelt "Sommer 1990" in der Tat, wie Reiner Kunze auf dem Klappentext betont, "Authentizität" wider. Schon allein deshalb ist die verspätete Publikation dieses fast eineinhalb Jahrzehnte vergessenen Textes zu begrüßen.

Titelbild

Marko Martin: Sommer 1990.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004.
206 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3421058431

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