Erzählung von Erinnerungen anderer

Zu Heinz Ludwig Arnolds Rowohlt-Monografie über die Gruppe 47

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als 1966 die Gruppe 47 wegen ihres vermeintlich zu großen Einflusses unangenehmen Angriffen ausgesetzt war und ein Heft der Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter" zur Plattform ihrer Verteidigung machte, las auch Wolfgang Koeppen dieses "Streitheft" und schrieb an Hans Werner Richter, Gründer und Übervater der Gruppe: "Natürlich interessierte es mich sehr und las ich es gern, wie mich immer literarische Gespräche, Erregungen, Polemiken, Verleumdungen, Hysterien, Wahnsinn, literarischer Klatsch interessieren, und daß wir das alles wieder, ein literarisches Leben haben oder noch haben, verdanken wir Ihnen und der Gruppe." Von heute aus gesehen hat diese nicht in jeder Hinsicht positive Würdigung schon fast den Charakter eines Nachrufs, denn 1967 ging es mit der Gruppe de facto zu Ende, was allerdings so eindeutig nicht absehbar war. Doch die zwei Jahrzehnte davor hat sie das literarische Leben der Bundesrepublik geprägt und sich dadurch dem literarhistorischen Gedächtnis so fest eingeschrieben, dass ohne sie die Literatur der frühen Bundesrepublik schwer vorstellbar ist.

Die Möglichkeiten, sich über sie zu unterrichten, sind zahlreich. Schon früh wurde ihre Entwicklung begleitet von aufmerksamer Selbst- und Fremdbeobachtung, deren Ergebnisse in vielen Feuilletonartikeln und bald auch in Überblicksdarstellungen veröffentlicht worden sind. Solche Darstellungen sowie Texte und Materialien bieten der "Almanach der Gruppe 47", 1962 vom Gruppenchef Richter selbst herausgegeben, und das Handbuch des Gruppenmitglieds Reinhard Lettau "Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik", erschienen 1967. Beide Publikationen haben ihren Informationswert bis heute behalten. Von späteren Darstellungen seien erwähnt das Metzler-Bändchen von Friedhelm Kröll "Gruppe 47" (1979) und der von Heinz Ludwig Arnold herausgegebene Sonderband von "Text + Kritik - Die Gruppe 47. Ein kritischer Grundriß" (1980, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage 2004). Wer einen möglichst authentischen Eindruck haben will, sei auf Arnolds Hörbuch "Die Gruppe 47. Zwei Jahrzehnte deutscher Literatur" (2002) hingewiesen. Dort kann man u. a. Richter, Grass, Bachmann sowie Diskussionsmitschnitte im Originalton hören; und der Begleittext skizziert die Geschichte der Gruppe klar, knapp und zuverlässig.

Arnolds souveräne Stoffbeherrschung kommt dem vorliegenden Bändchen zugute; trotz vieler Details bleiben die großen Linien sichtbar. Unfruchtbare abstrakte Definitionen, etwa soziologischer Art, werden vermieden. Geteilt wird die Skepsis, die Helmut Heißenbüttel 1977 in einem Gespräch mit Studenten, die über die Gruppe arbeiteten, zum Ausdruck brachte: "Was Sie jetzt tun, ist natürlich ganz typisch, Sie systematisieren es, und wenn Sie es systematisieren, kann man nichts dagegen sagen. Nur: Es stimmt nicht." Praktiziert wird die historische Methode: Das Wesen der Gruppe zeigt sich in ihrer Geschichte. Diese wird erzählt von den bescheidenen Anfängen bis zu einem Ende, das unausweichlich war, weil die Gruppe so, wie sie einst gegründet worden war und von ihren Protagonisten bis zum Schluss verstanden wurde, den Erfolg nicht überleben konnte. Sie war sich selbst zu groß geworden. Nicht von ungefähr lautet der Titel des letzten Kapitels: "Der große Erfolg und das Ende der Gruppe 47". Aus einem kleinen Kreis mehr oder weniger befreundeter Autoren, die gegenseitig ihre Texte kritisierten, war eine von Berufskritikern dominierte und von Lektoren, Verlegern und Medienvertretern besuchte Literaturmesse geworden, mit deren Hilfe Autoren auf den Markt drängten. Die gelegentliche Rückbesinnung auf die Anfänge war halbherzig und bezeugte eher die Hilflosigkeit gegenüber einer zwangsläufigen Entwicklung als den festen Willen, das Steuer herumzuwerfen, was mancherlei Verzicht gefordert hätte.

Selbstverständlich ist die Gruppe nicht isoliert zu betrachten. Ihre Geschichte ist eingebettet in die Vor- und Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und in deren politische, soziale und wirtschaftliche Konsolidierung. Die Parallelität zu den Hungerjahren und dem folgenden Wirtschaftswunder ist ebenso unübersehbar wie der Zusammenhang zwischen dem politischen und mentalitätsgeschichtlichen Umbruch der späten Sechziger und dem Ende der Gruppe. Welche Ursachen für dieses Ende man auch immer verantwortlich machen will, für eine literarische Institution bleibt es in jedem Fall bemerkenswert, dass literarische Gründe im engeren Sinne höchstens eine untergeordnete Rolle gespielt haben. An künstlerischen Meinungsverschiedenheiten ist die Gruppe nicht zerbrochen. Zwar gab es erhebliche ästhetische Divergenzen. Zwischen der um Schnörkellosigkeit bemühten so genannten "Kahlschlag-Literatur" und anderen Stilrichtungen, die ebenfalls vertreten waren, herrschte kein Einklang. Dem Realismus der frühen Jahre hatten sich bald artifizielle Erzählkunst, avantgardistische Lyrik und experimentelle Literatur zur Seite gestellt. Aber solche Spannungen wurden ausgehalten. Heißenbüttel z. B. las auf den Tagungen seit 1955 und wurde freundlich geduldet. Selbst Handkes Polemik gegen die "Beschreibungsimpotenz" hat wohl mehr durch die ungezogene Art, in der sie vorgebracht wurde, als in der Sache Ärgernis erregt. Über Grundsätzliches konnte man schon deswegen schlecht streiten, weil Richter Grundsatzdebatten verhinderte. Für den Zusammenhalt fast noch wichtiger dürfte gewesen sein, dass er ungeachtet des eigenen "linken" Engagements politisches Agieren innerhalb der Gruppe vermied; Resolutionen, wie etwa die gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, wurden nur am Rande der Tagungen konzipiert und verabschiedet. Trotz solch kluger Leitung erschwerte es die wachsende Zahl der Gruppenmitglieder und die zunehmende Heterogenität - je länger, je mehr - das Mindestmaß an Harmonie aufrecht zu erhalten, ohne das eine Gruppe nicht überleben kann.

Das alles und vieles mehr ist bekannt und in Arnolds Taschenbuch nachzulesen, das sich als Einführung versteht, nicht als neuer Forschungsbeitrag. Eine solche Bescheidung erlaubt auch, die erregte Debatte um den angeblichen Antisemitismus der Gruppe lediglich zu streifen. Arnold hält die in Klaus Brieglebs Buch "Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: ,Wie antisemistisch war die Gruppe 47?'" (2003) erhobenen Vorwürfe für konstruiert, was angesichts einer wirren und auf Plausibilität verzichtenden Argumentation noch recht freundlich klingt. Der reale Ausgangspunkt der Anklage: die Gruppe hat die Shoah nicht zu ihrem Hauptthema gemacht und ihr Verhältnis zu den Emigranten war problematisch, dürfe ihr bei angemessenem historischem Verständnis nicht vorgeworfen werden.

Als umsichtiger Historiker weiß Arnold, dass zum Verständnis der Gruppe die Kenntnis von Fakten und Texten nicht ausreicht; zusätzlich muss das Atmosphärische erfasst werden, das von kaum noch feststellbaren Imponderabilien abhing, bis hin zum Alkoholkonsum. Bei der Rekonstruktion ist man auf Erinnerungen angewiesen, und so gerät eine Geschichte der Gruppe zu einer Erzählung von Erinnerungen anderer. Über den anfechtbaren Quellenwert von Erinnerungen braucht kein Wort verloren zu werden; hier nur eine Äußerung Richters gegenüber Barbara König: "Du wirst es nicht für möglich halten, wie sich ein Gegenstand allein durch die Darstellung verändert. Auch wenn alles stimmt, was da berichtet wird, ganz stimmt es dann doch wieder nicht. In fünfzig Jahren wird kein Mensch mehr eine Ahnung haben, was die Gruppe 47 wirklich war." Selbst Richter sind einige Gedächtnisfehler nachzuweisen. Vertrackter jedoch als solche Fehler ist die Tendenz, halbwegs Erinnertes pointiert zu erzählen, was zum Anekdotischen führt. Man fragt sich zuweilen, ob die Geschichte der Gruppe so unterhaltsam war oder ob sie nur unterhaltsam erzählt wird.

Erinnerungen neigen dazu, Anfänge zu verklären; und das geschieht wahrscheinlich auch mit den Anfängen der Gruppe 47. Wer sich mit ihr beschäftigt, neigt unter dem Eindruck solcher Verklärung unwillkürlich dazu, die hungernden Kriegsheimkehrer, die eine Art Kumpanei verband, weitaus sympathischer und moralisch akzeptabler zu finden als die von bundesrepublikanischer Prosperität verwöhnten Angehörigen einer jüngeren Generation, die nur eigene Interessen zu verfolgen schienen. "Ich habe Grund zu der Annahme", so Wolfgang Hildesheimer an Richter im Herbst 1966, "dass die Gruppe 47 für die Jüngsten [...] nur ein Sprungbrett ist, dessen sie sich bedienen, um zu Erfolg zu kommen, dass also da keine wirkliche Zusammengehörigkeit mehr besteht. Vielleicht kann das auch gar nicht anders sein. Die Mentalität ist eine andere [...]. Ich glaube, dass gewisse menschliche Eigenschaften bei den Jüngsten einfach verkümmert sind." Ähnlich wie Hildesheimer scheinen auch andere empfunden zu haben. Auf die Frage, ob solche Urteile übernommen werden dürfen oder ob sie als übliche Begleiterscheinung nostalgischer Erinnerung geringes Gewicht haben, fällt eine Antwort schwer. Möglich, dass die Erschließung weiterer Quellen zur Objektivierung und Differenzierung der Bewertungen beitragen kann. Die von Sabine Cofalla vorbildlich edierten und kommentierten "Briefe von und an Hans Werner Richter 1947-1978" (1997) haben neugierig gemacht. Wenn ähnliche Briefeditionen folgten - archivierte Nachlässe gibt es zuhauf -, wäre mit neuen Impulsen für die Erforschung der Gruppe 47 zu rechnen.

Titelbild

Heinz Ludwig Arnold: Die Gruppe 47.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
159 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 349950667X

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