Konzentrierte Bühnenkunst

Peter Hacks' letzte Dramoletts

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Hacks, der im vergangenen Jahr verstorbene Meister der großen dramatischen Form, hat sich ganz untypisch von der Bühne verabschiedet, die in den letzten Jahren immer weniger von ihm aufführen wollte: mit drei Dramoletts, die nun in einem schmalen Band versammelt vorliegen. Die Kurzform mag auf den Zustand des schwerkranken Autors zurückgehen, der nicht mehr wusste, ob er ein größeres Werk würde beenden können. Vor allem aber entspricht die Verkleinerung dem Zustand der "Jetztzeit"; mit diesem Titel überschrieb Hacks einen Abschnitt seiner gesammelten Gedichte und bezeichnete so eine Welt nach der Zerstörung des Sozialismus, in der es nurmehr Gegenwart und keine Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Fortschritt mehr zu geben scheint. Zu geben scheint: In seinen letzten Lebensjahren wies Hacks immer wieder auf Krisensymptome im Kapitalismus hin und äußerte die Hoffnung, die "Jetztzeit" könnte bald überwunden werden.

Die Dramoletts bewegen sich in dem Spannungsfeld von zuweilen forcierter Zukunftshoffnung und Verlusterfahrung, und die Vermittlung zwischen den Polen wird zum Problem. Dies Problem ist es wert, genauer untersucht zu werden; dass Hacks sich ihm stellt, statt, wie es heute von Literatur erwartet wird, Geschichte allenfalls im Privaten gespiegelt zu beschreiben, macht die Lektüre selbst seiner Nebenwerke produktiv.

"Der Parteitag" ist das optimistischste der Dramoletts. Eine "Partei der Sozialvisionären Wiedergeburt", leicht als PDS zu dechiffrieren, scheint durch die Fixierung auf politische Mitte und Kompromissbereitschaft gelähmt. Der Parteitag eine einzige Absurdität, der Vorstand intrigant und mehrheitlich vor allem darauf bedacht, nur nicht für revolutionär gehalten zu werden - das ist eine Gelegenheit für Hacks, die Anpassung reformistischer Linker in pointierten Dialogen bloßzustellen. Der Umschwung am Ende ist dann als Theatercoup gut, als politischer Beitrag dünn: Die Delegierten jubeln der Tochter des ehemaligen Parteichefs "Erich Ostertag" zu, die jeglichem Revisionismus eine Absage erteilt und mit einem Bekenntnis zum Bolschewismus wohl neue Parteivorsitzende wird.

Das Problem ist hier nicht Hacks' politisches Programm; schaut man sich das Tempo an, in dem gerade unter sozialdemokratischer Regierung der Unterschied von Arm und Reich wächst, so ist das Entstehen einer neuen radikalen Linken nur eine Frage der Zeit. Die Schwierigkeit liegt in der Umsetzung: Der Jubel der bislang falsch Geführten, als sei der Fehler nur ein Fehler der Chefs und nicht auch der des Bewusstseins der Parteimehrheit sowie der Interessenlage einer Funktionärsschicht, deren Leben mit Landtagsmandaten, Bürgermeister- und gar Ministerämtern bei einer Wendung zum Radikalen durchaus ungemütlicher würde. Dass sich am Ende eine Art Familiendynastie abzeichnet, bringt die Kleinform in unnötige Nähe zum Königsdrama, dessen Zweckmäßigkeit für das prachtvolle, große Stück Hacks überzeugend begründet hat.

Kaum wäre vorzustellen, wie man dieses Ende heute ohne unfreiwillige Komik auf die Bühne bringen könnte, hätte Hacks eine jubelnde Delegiertenschar vorgesehen. Den Hauptverlauf aber hört man über Lautsprecher, auf der Bühne bleiben nur ein Intrigant und ein bewusst altertümlich bezeichneter "Bureaudiener", der den Diebstahl von Akten verhindert. Das Dramolett bleibt bei dem, was der dramatischen Kleinform angemessen ist: beim Kammerspiel - selbst wenn sich im zweiten Stück, tatsächlich einem Königsdrama, der Konfliktraum zum Hegemonialkampf zwischen Staaten ausweitet. Die Titelfigur Phraates, König von Parthien, steht im Krieg gegen das übermächtige Rom. Einer seiner Söhne ist treuer und erfolgreicher Feldherr, der andere steht im geheimen Bund mit dem Feind, und beide wollen Samsi erobern, eine Königstochter, die an den parthischen Hof geschickt wurde und die Phraates für sich selbst vorgesehen hat. Die Handlung zeigt zunächst die Unfähigkeit des alten Tyrannen, Privates und Politisches zu trennen. Aus Eifersucht verfolgt er beide Söhne und überlässt so Rom fast den Sieg. Erst als er tödlich verwundet ist, gibt er diesen Kampf auf und überträgt dem treuen Sohn die Macht, Samsi und einen Plan, die Herrschaft Roms zu beseitigen.

Dies Stück zeigt Hacks noch einmal auf dem Höhepunkt seines Könnens. Auf gerade einmal sechzehn Druckseiten ist die Entwicklung eines ganzen Dramas konzentriert. Jeder Satz ist politisches Handeln und charakterisiert die Person so gut wie die Situation. Damit ist die Pointe nie Selbstzweck, sondern jede Spitze erhellt einen Konflikt. Der Gegenwartsbezug bleibt dabei klar. Schauplatz ist der Palast des treuen Sohns, den die römischen Weltherrscher zerstört haben. In den Trümmern des Alten wird der Plan formuliert, seinerseits in die Offensive zu gehen.

Das funktioniert in der Parabel; in die triste Gegenwart dagegen führt das letzte Dramolett zurück, die "Berliner Novelle". Schon der Titel, in seiner Missachtung der Gattungsgrenzen, deutet auf Zerfall; ein gattungsbewusster Autor wie Hacks wollte sich hier sicher nicht der bedauerlichen Mode des deutschen Theaters andienen, Filme, Romane, Erzählungen, Briefe und Tagebücher auf die Bühne zu bringen, und nur wenn es unbedingt sein muss, auch mal ein Drama. In diesem pessimistischsten der drei Texte gibt es keine dramatische Entwicklung. Bei allem ziellosen Gerede könnte man meinen, es handle sich um ein Konversationsstück, riefe nicht der Titel "Novelle" auch in Erinnerung, das es um ein außerordentliches Ereignis gehen muss. Das tritt am Ende tatsächlich ein, doch denkbar freud- und folgenlos.

Schauplatz ist die Wohnung der Familie Schiller im östlichen Berlin. Dietmar Schiller, vor der Wende Hauptabteilungsleiter, konnte zwar gerichtlich seine Entlassung abwenden, doch wird er nun an der Humboldt Universität zu Hilfsdiensten eingesetzt. Dazu gehört die Betreuung von Besuchern wie Professor di Verona vom Kalamazoo College, Michigan, der früher für die Durchführung seiner Studiengruppenreisen von Schillers Beurteilung abhing. Zerfall allerorten, auch im Wohnheim, dessen Fahrstuhl streikt. So will Schiller di Verona, der als Einbeiniger keine Treppen steigen kann, in seiner Wohnung unterbringen. Der Gast sieht den Ruin einer Familie: Schillers Frau ist mit einem zwielichtigen Geschäftsmann liiert, Schillers Tochter, eine riesenhafte Leichtathletin, vergewaltigt regelmäßig den Vater. Und das ist wohl das außerordentliche Ereignis, dem di Verona wider Willen beiwohnt. Keine Vergewaltigung eines Mannes durch eine Frau ohne Erregung, und so antwortet die Tochter auf die nahe liegende Frage di Veronas: "Ob es ihm recht ist? Teils ja, würde ich sagen, teils wieder nein. Aber es spielt gar keine Rolle; bedenken Sie, Professor, wieviel ich wiege."

Das Elend, die Freuden der Unterworfenen werden gegenstandslos gegenüber dem bloßen Gewicht der Macht. Was, wenn man wie Schiller wehleidige Klage vermeidet, bleibt übrig als zu dulden? Opportunist ist er nicht. Er nennt sich weiterhin Kommunist, als Dienstbote noch liebt er die Wissenschaft und setzt sich für die Universität ein, die ihn erniedrigt. Die häuslichen Qualen erträgt er gefasst. Aber stets der Druck der Ökonomie: die Notwendigkeit, eine Anstellung zu verteidigen, die eine Existenz immerhin knapp über der Sozialhilfe bedeutet, und die neue Angst, dass ein Fach, das sich nicht rechnet, abgeschafft wird (di Verona, der aus dem Land des unbegrenzten Kapitalismus kommt, seit je vertraut) - eine solche Existenz kennt keine Revolte, keine tragische Katastrophe. Dass Schiller aufrecht und bewusst überlebt, ist viel und bedeutet keinen Ausweg.

So erweist sich das Bändchen als wohlkomponiert. Der unvermittelte Aufbruch auf dem "Parteitag", die Lust am und im Leid am Ende kommentieren sich gegenseitig. Wie die Lehren aus den beiden Gegenwart-Dramoletts zu verbinden wären, das bleibt eine offene Frage. Was der erst durchs Sterben notgedrungen weise Tyrann im mittleren Stück erkennt, hilft praktisch wenig.

Derart erhoffte Peter Hacks am Ende seines Lebens eine offensive Wendung gegen eine marktwirtschaftliche Ordnung, deren zerstörerisches Potenzial immer deutlicher wird. Seine wie seit je mit sarkastischen Pointen versehene Sprache, seine Meisterschaft der entlarvenden Sentenz nehmen eine solche Offensive schon vorweg. Wie aber in der sozialen Realität der Schritt vom Arrangement im Elend zur Gegenwehr gelingen könnte, müssen wir herausfinden.

Titelbild

Peter Hacks: Das Hemd der Königin, auf Wunsch gekürzt. Drei Dramoletts.
Eulenspiegel Verlag, Berlin 2004.
61 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3359014901

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