Kranke Welt

Johanna Bossinade über literarische Wirklichkeit und deren psychoanalytische Interpretation bei Ingeborg Bachmann

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was er selbst "in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe", schrieb Sigmund Freud an Arthur Schnitzler, sei diesem "durch Intuition" zugeflogen. Eine zwiespältige Anerkennung, die das ambivalente Verhältnis zwischen moderner Literatur und Psychoanalyse widerspiegelt, dem vor einigen Jahren die Beiträge eines von Thomas Anz in Zusammenarbeit mit Christine Kanz herausgegebenen Sammelbandes nachgegangen sind. Beleuchtet der Band - wie es im Untertitel heißt - "Kooperation und Konkurrenz" zwischen dem Wissenschaftlichkeit beanspruchenden Verfahren und der schreibenden Kunst, so richtet Johanna Bossinade am Beispiel der österreichischen Autorin Ingeborg Bachmann mit ihrer These, "daß sich zwischen Psychoanalyse und Literatur ein Arbeits- und Kooperationsverhältnis begründen lässt, von dem beide Seiten profitieren", ihr Augenmerk ganz auf einen der beiden Aspekte.

Die Bezeichnung "psychoanalytische Literaturinterpretation" allerdings lehnt sie ab. "Die Interpretation gilt der Psyche oder sie gilt der Literatur", konstatiert sie lapidar. "Psychoanalyse und Literatur" sei "erkenntnislogisch gesehen kein korrektes Paar". Man könne nur von Psychoanalyse und Literaturanalyse oder Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, beziehungsweise von psychischem Diskurs und literaturwissenschaftlichem Diskurs reden. Dennoch kann die Psychoanalyse Bossinade zufolge "tiefere Motivationsgeflechte" der Literatur aufdecken, während die Literaturanalyse ihrerseits den "Begriffs- und Deutungsrahmen" der Psychoanalyse befrage.

Das Anliegen der Autorin ist es, Ingeborg Bachmanns später Prosa "eine neue Facette hinzuzugewinnen", indem sie sich ihr mit dem Instrumentarium der Psychoanalyse nähert, denn diese rücke die "literarische Wirklichkeit" in einen "weiter ausdeutenden begrifflichen Rahmen". Die "leitende These" von Bossinades Untersuchung besagt, dass Bachmann "gegen die kranke Welt samt ihren falschen Idealen, ihren Hemmungen, ihrem Wahn, 'daß ich über alles verfügen kann', das Verfahren einer paradoxen Verkehrung in Stellung bringt".

Zum Zentrum ihrer Arbeit erklärt Bossinade ihre Analysen der Erzählungen "Das Gebell" (1972) und "Simultan" (1972) sowie des Romans "Malina" (1971), wobei nicht das umfangreiche Werk, sondern die beiden kürzeren Texte einer besonders detaillierten Untersuchung unterzogen werden. Um allerdings überhaupt bis zu diesem Zentrum vorzustoßen, nimmt die Autorin einen außergewöhnlich langen Anlauf, der vier von insgesamt fünf Kapiteln in Anspruch nimmt, und der sie von Fragen der "Interpretationen von Wirklichkeit" im Allgemeineren zu "Psychoanalytischen Interpretationen" über "Bachmanns Poetologie" und "Krankheit: die Metapher" endlich zu "Bachmann[s] späte[r] Prosa" führt, wie die fünf Überschriften lauten. Zwar sind die Kapitel nur lose miteinander verbunden und können, wie die Autorin hervorhebt, "je für sich gelesen werden", doch hat die Professorin für Literatur und praktizierende Psychoanalytikerin durchaus das eine oder andere Überlegenswerte zu sagen.

Vieles bleibt allerdings auch zu monieren. So sind die unzähligen Verweise auf Ähnlichkeiten zwischen Motiven, Darstellungsarten, Metaphern, Bildern, Anspielungen, Handlungselementen etc. in den Werken Bachmanns und denjenigen anderer AutorInnen wenig hilfreich. Dass etwa die "Zerreisungsphantasie" in "Das Gebell" an die in Schillers "Lied von der Glocke" des Feindes Herz zerreißende Panther "erinnert" und Bachmanns "Schmähwort" "Baronin" "an die Wiener Baronin in Freuds Witzbuch" oder gar, dass ein Werk von Peter Weiss ein "Gegenstück" ist, nicht zu einem Werk Bachmanns, sondern Unica Zürns - all das erscheint doch allzu assoziativ-beliebig. Gelegentlich weist Bossinade gar darauf hin, das kein Bezug zu einem bestimmten Werk der Literaturgeschichte auszumachen ist: "Wenn in einem polemischen Exkurs in 'Malina' die 'Krankheit der Männer' gegeißelt wird, geschieht das ohne erkennbare Reverenz an die geschlechtskritischen Essays Virginia Woolfs."

Das alles mag zwar von der Belesenheit und der Assoziationsfähigkeit der Autorin zeugen, doch droht in diesem Gestrüpp der Kreuz- und Querverweise unterzugehen, was Bossinade an wirklich Interessantem zu sagen hat. So etwa der Hinweis darauf, dass Bachmann oft mit "Schlüsselworten operiert, um das Leseinteresse auf besondere Problemzentren zu richten", wobei diese Worte das "Verfahren der paradoxen Verkehrung" unterstützen, indem sie "der Logik des einfachen Gegensatzes entgegensteuern", wie Bossinade am Beispiel des Schlüsselwortes "wirklich" zeigt.

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Johanna Bossinade: Kranke Welt bei Ingeborg Bachmann. Über literarische Wirklichkeit und psychoanalytische Interpretation.
Rombach Verlag, Freiburg 2004.
226 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 379309359X

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