Schiller heute

Sind seine klassischen Werte von gestern?

Von Helmut KoopmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Koopmann

"Das letzte Halbjahrhundert sah eine Regression des Menschlichen, einen Kulturschwund der unheimlichsten Art, einen Verlust an Bildung, Anstand, Rechtsgefühl, Treu und Glauben, jeder einfachsten Zuverlässigkeit, der beängstigt. Zwei Weltkriege haben, Roheit und Raffgier züchtend, das intellektuelle und moralische Niveau (die beiden gehören zusammen) tief gesenkt [...]. Wut und Angst, abergläubischer Haß, panischer Schrecken und wilde Verfolgungssucht beherrschen eine Menschheit, welcher der kosmische Raum gerade recht ist, strategische Basen darin anzulegen, und die Sonnenkraft äfft, um Vernichtungswaffen frevlerisch daraus herzustellen". Und so "taumelt eine von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit unter Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem gar nicht mehr ungewollten Untergang entgegen". Eine düstere Zeitanalyse - Thomas Mann hat sie 1955 in seiner Schiller-Rede, wenige Monate vor seinem Tode, der Öffentlichkeit präsentiert, aber so ganz unzeitgemäß will sie uns auch heute nicht scheinen. Was tun, wenn man nicht in ohnmächtiger Resignation verharren will? Thomas Mann wußte damals noch ein Heilmittel: Schiller war sein Lieferant, es war dessen "Aufruf zum stillen Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze, edlerer Sitten", die ihm Heilung von den Gebrechen der eigenen Zeit verhieß. Wer Schillers Botschaft vernehme, könne dem Untergangstaumel, so Thomas Manns dringlich angebotene Therapie, ein Ende bereiten. Und so sprach er denn vom "Willen zum Schönen, Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst, zur Liebe, zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst" und davon, daß diese Botschaft Hoffnung gebe; die Menschheit werde von Ängsten und Untergangsvisionen erlöst, folge sie ihr.

Das war Festredendonner von einiger Stärke, und auch der Effekt war damals stark: Schiller war zu einer Art Ersatzchristus geworden. Aber war das nicht des Guten ein bißchen zu viel, auch wenn man bedenkt, daß dieser Huldigungsstil damals nicht unüblich war? Konnte Schiller leisten, was Thomas Mann von ihm erwartete?

Andere Zeiten hatten es mit den klassischen Werten nicht so schwer: in den Jahren einer völkisch-nationalen Theaterpolitik etwa standen Kampfvorstellungen, Opfergedanken und Treuegelöbnisse hoch im Kurs, und wie das aussah, wenn aus Schillers "moralischer Anstalt" eine nationalpolitische Erziehungsanstalt wurde, zeigt etwa ein Heft der Zeitschrift "Das Theater" von 1938, wo das Ideal einer Einheit von Staat und Volk, die Eingliederung in die Ordnung der Gemeinschaft, die Würde der Nation und die Freiheit als unbedingt zu vermittelnde und vermittelbare Werte Schillers erschienen; der Wertekatalog wurde als ganzes zum "staatsbürgerlichen Ideal". Wie das die Volksgenossen verstanden, zeigt der Zusatz: "Adolf Hitler hat sein [Schillers] Wunschbild zur Wirklichkeit werden lassen". Wie es damals um die Aktualisierung Schillerscher Werte stand, demonstrierten die Siegesfeiern schon unmittelbar nach der sogenannten Machtergreifung 1933: "Wilhelm Tell" wurde überall gespielt mit der Begründung, daß dort "die Sehnsucht nach einem starken und freien deutschen Volk" dokumentiert sei: da war Wilhelm Tell zu Adolf Hitler geworden, und auf der Bühne erschien Adolf Hitler als Wilhelm Tell. Eine korrumpierte Literaturgeschichte verkaufte damals passend dazu die Ideen in Schillers Werk als Ideen der Nazis. 1934 war Schiller bei den Nazis endgültig zum Volkshelden geworden - die folgten damit einer langen Tradition, denn so war Schiller schon 1859 gefeiert worden, nicht weniger heftig auch 1905 und 1909. Zur Sonnenwende 1934 bemühte sich alles, was jung war und laufen konnte, nach Marbach am Neckar: dort endete ein Staffellauf Tausender von Hitlerjungen. Wenn damals von Schiller die Rede war, dann von der "siegenden Kraft seines Glaubens an das Hohe, Edle in uns", und wenn man von den Goethefeiern des Jahres 1932 nicht so recht gewußt hatte, ob die Huldigungen an Goethe, Hauptmann oder Hindenburg gerichtet waren, so war die Inanspruchnahme Schillers in Weimar 1934 nur zu eindeutig: Goebbels nannte ihn den "Dichter der deutschen Revolution" und den "bewundernswerten Gestalter deutscher Kraft". Man konnte damals lesen: "Kampfbereitschaft, das ist Schillers große Forderung. Wer nicht kämpfen will, wer glaubt, sich selbst nicht wagen zu müssen, die Sternstunde errechnen zu können, in der ihm alles von selbst in den Schoß fällt, über den rollt das Rad der Fortuna hinweg". In Nazi-Nähe gehörte auch der Satz: "Opferbereitschaft, das ist jenes andere große Thema von Schillers Dichtung: die Räuber für ihren Hauptmann [...]' einer für alle, und alle für einen'". Ernst Bertram, Germanistik-Ordinarius in Köln, übertrumpfte das alles noch mit einer hymnischen Rede, die davon handelte, daß das "heutige Gedenkbild Schillers" ein "dorisches Standbild mit der Siegerbinde" sei. Er verherrlichte Schillers Werk als "strengen Traum von adligster deutscher und dorischer Schönheit" - was Thomas Mann zu der Bemerkung veranlaßte: "Mein alter Freund Bertram hat neulich, in einer Weimarer Festrede auf Schiller, diesen einen 'dorisch-germanisch-friderizianischen' Menschen genannt. Die Leute sind nicht bei Verstand. Man möchte sie immer warnen: 'Kinder, bedenkt doch, wie sich das alles in wenigen Jahren ausnehmen wird'". Es nahm sich damals aber nur zu überzeugend aus.

Daß Schillers Werte, etwa "Freiheit", freilich auch anders verstanden werden konnten, zeigte schon 1933 der spontane Applaus des Publikums in einer Bremer Aufführung des "Don Karlos" bei Posas Forderung "Geben Sie Gedankenfreiheit"; Posas Worte lösten 1937 selbst in Berlin einen Beifallssturm aus. Das hatte Folgen: ab 1941 durfte "Wilhelm Tell" auf Anordnung Hitlers nicht mehr gespielt oder in den Schulen behandelt werden, weil die "Heimholungsaktionen" ganzer Völker ins Reich nicht gut zum Selbstbestimmungswillen der Schweizer paßten; Schiller, erst von den Nazis hofiert, wurde plötzlich zum Staatsfeind, Tell zum Widerstandssymbol. So zeigte Schiller selbst den Nazis eine gefährliche Doppelsinnigkeit. Aber ist er heute eindeutiger und überzeugender? So mancher wird 1955 Thomas Manns "Versuch über Schiller" und seinen Appell, die Werte des "Schönen, Wahren und Guten, der inneren Freiheit, zu Frieden und rettender Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst" hochzuhalten und zu befolgen, seinerseits als klassische Phrase verstanden haben. Thomas Mann hat bei aller Feiertagsrhetorik das Problematische der Schillerschen Wertverkündungen zwar auch gesehen: "Was dieser Mensch anstrebte mit dem Schwung des Redners, der Begeisterung des Dichters: das Universelle, Umfassende, rein Menschliche, ist ganzen Generationen als verblaßtes Ideal, als überholt, abgeschmackt, veraltet erschienen, und so mußte ihnen denn auch sein Werk erscheinen". Eben das aber könnte man auch gegen den Festredner von 1955 ins Feld führen: was Thomas Mann vielleicht aus Altersgroßzügigkeit das Universelle, Umfassende und rein Menschliche nannte, das erscheint seinerseits heute in manchem als überholt, abgeschmackt und veraltet. Hatte Brecht nicht doch recht, als er schrieb: "Die Wahrheit [der Klassiker] ist im Kriege gestorben. Sie gehören unter unsere Kriegsopfer". Brechts Nachruf war zwar schon 1929 in einem Gespräch über Klassik zu lesen gewesen. Aber auch heute stellt sich die Frage: gibt es sie überhaupt noch, die "klassischen Werte", und sind sie noch vermittelbar?

Doch zunächst: die Frage, so gestellt, ist nicht eindeutig zu beantworten. Denn es gibt nicht die Werte bei Schiller; der junge Schiller hatte einen anderen Wertekanon als der Schiller in den Jahren seiner Beschäftigung mit Kant, der Schiller der großen historischen Dramen einen anderen als der Dichter der Balladen; Schiller verkündete im vorrevolutionären Deutschland anderes als zum nachrevolutionären Frankreich. Es kommt hinzu, daß Schiller in seinen stärker "didaktischen" Werken, also vor allem in den Balladen, eher eindeutige Beispiele rechten (oder falschen) Verhaltens nennt als in seinen Dramen; spätestens von "Wallenstein" an bestimmen Mehrdeutigkeiten seine Stücke, und damit wird auch der Wertehorizont diffuser. Die alte Frage, ob Wallenstein ein Verräter sei oder ein Verkünder des Friedens, ist kaum eindeutig zu beantworten. Daß es "klassische Werte" bei Schiller gebe, ist in gewissem Sinne also eine Fiktion - so sehr man sie auf der anderen Seite immer wieder bei Schiller gefunden zu haben glaubte. Und so ist man versucht, erneut zu fragen: was ist geblieben? Und: was hatte man früher mißverstanden?

Versucht man, Schillers sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage nach Werten etwas zu bündeln, zeichnen sich drei Wertkomplexe ab, die zumindest für einen größeren Zeitraum bei Schiller auszumachen sind.

1. Selbstbestimmung

Am 18. Februar 1793 schrieb Schiller einen Satz nieder, der nicht nur ein Zeugnis seiner Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie ist, sondern der zugleich einen klassischen Grundwert zu beinhalten scheint: "Es ist gewiß von keinem Sterblichen Menschen kein größeres Wort noch gesprochen worden, als dieses Kantische, was zugleich der Inhalt seiner ganzen Philosophie ist: Bestimme Dich aus Dir selbst". Der Gegenbegriff lautet: Heteronomie, Fremdbestimmung. Schillers Autonomie-Forderung hat nichts zu tun mit der heute modischen Selbstverwirklichungsideologie, aber auch nichts mit der Goetheschen Forderung nach Selbstausbildung, wie das im Fünften Buch von "Wilhelm Meisters Lehrjahre" programmatisch zu finden ist (um im Roman selbst später widerlegt zu werden): "Daß ich es mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht". Hinter diesem Satz steht die Vorstellung, daß der Mensch werden könne, ja werden müsse, was er sei, das heißt: was in ihm angelegt sei - ein Entelechiegedanke, der seine Begründung in der damaligen Naturwissenschaft hatte. Hinter Schillers Forderung nach Selbstbestimmung steht anderes, nämlich der Kantische Gedanke, "daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat". Dahinter steht die Überzeugung, daß der Mensch ein Vernunftwesen sei und damit begabt zu Unabhängigkeit und Urteilsfähigkeit. Schillers Ideal: der "philosophische Kopf", der mündige Bürger. Wir könnten vom Intellektuellen sprechen, der nicht dem unterworfen ist, was Schiller einmal als "gemeine Empirie" bezeichnet hat. Man kann Freiheit auch negativ definieren: der Intellektuelle bedarf weder eines transzendenten Trostes noch eines philosophischen Systems, das ihm das Denken abnimmt. Was allein zählt, ist seine Selbstbestimmungsfähigkeit, die ihn nicht fremden Kräften ausliefert: weder einer nicht von ihm anerkannten Obrigkeit noch psychischem Druck. Der Intellektuelle folgt keiner Kirche und keiner Partei und keiner Nationalität. Fremdbestimmung mag im 18. Jahrhundert auch als politische Beschränkung empfunden worden sein, aber man würde Schillers Formel bzw. Kants Forderung "Bestimme Dich aus Dir selbst" mißverstehen, sähe man darin ein vorrangig politisches Postulat. Schiller sieht nicht so sehr die sozialen Verhältnisse seiner Zeit als Hindernis auf dem Weg zur Selbstbestimmung als vielmehr die Neigung des Menschen, sich mit dem Gegebenen zu bescheiden. Hinter der Forderung "Bestimme dich aus dir selbst" steht der Glaube an die Unzerstörbarkeit der menschlichen Vernunft und das Vertrauen auf die Richtigkeit ihrer Erkenntnisse. Darin ist Schiller ein Zögling des 18. Jahrhunderts, aber seine Botschaft ist offensichtlich übertragbar. Brecht hat die Forderung nach Selbstbestimmung in einem Gedicht etwas anders benannt, als er ihm den Titel gab: "Laßt euch nicht verführen".

2. Höhere Selbstbestimmung: Sich mit Freiheit in die Notwendigkeit fügen

Schiller galt immer wieder als Freiheitsheld. Freiheit ist dabei oft nicht so sehr als Freiheit eines Einzelnen, sondern vielmehr als Freiheit eines Volkes verstanden, "Wilhelm Tell" etwa ist zur Ikone nationaler Freiheitswünsche erklärt worden. Doch es gibt kaum ein größeres Mißverständnis. Thomas Mann hat in seiner Schiller-Rede zu Recht von der "inneren Freiheit" gesprochen: Freiheit ist kein Nationalwert, sondern zunächst einmal an das Vermögen des Einzelnen gebunden, unabhängig zu sein. Freiheit ist, mit anderen Worten, ein innerer Zustand, der dem Menschen aber nur potentialiter zugesprochen ist: das "sapere aude", die Kantische Forderung "erkühne dich, weise zu sein" bedarf eigentlich der Ergänzung: "erkühne dich, frei zu sein"; der Mensch müsse sich zur Freiheit entschließen, sie ist ihm nicht gegeben, sondern aufgegeben. Der Vers "Frei will ich leben und also sterben" bezeichnet denn auch nicht einen erreichten Zustand, sondern ist eine Aufgabe. Sie muß dann erfüllt werden, wenn die Freiheit bedroht wird.

Daß das Leben betrüblich ist, verkünden schon Schillers frühe Theaterschriften. Schiller hat dort die Alltagswelt in den düstersten Farben ausgemalt, aber auch einen Ausweg aufgezeigt: "Wenn Gram an dem Herzen nagt, wenn trübe Laune unsere einsame Stunden vergiftet, wenn uns Welt und Geschäfte anekeln, wenn tausend Lasten unsre Seele drücken, und unsre Reizbarkeit unter Arbeiten des Berufs zu ersticken droht", dann bedarf es eines ausdrücklichen Entschlusses zur inneren Freiheit. Die "wirkliche" Welt: sie ist oft die Welt des innerlich Versklavten, der "in Fesseln der Künstelei und der Mode" lebt; in dieser Welt gibt es den "empfindsamen Weichling" ebenso wie den "rohen Unmensch", die Natur ist eine "so oft zu Boden getretene", wie der Pöbel "zum Thier" geworden ist. Das ist die Kehrseite der glanzvollen Gegenwartsbeschreibungen, wie sie sich in Schillers Jahrhundert so oft finden. Schiller erklärt die Welt als Schein, Trug und Täuschung. Besonderes Mißtrauen ist Staat und Gesetzen gegenüber angebracht, zumal letztere nichts wirklich ordnen, sondern nur Schlimmeres verhindern können. Gesetze, so Schiller, "drehen sich nur um verneinende Pflichten", und daß sie dem Chaos gerade noch zu steuern wissen, sagt Schiller auch: "Geseze hemmen nur Wirkungen, die den Zusammenhang der Gesellschaft auflösen". Auch die Religion, so Schillers düsteres Zeitgemälde, wirkt nur durch ein Medium, das für Schiller das zweifelhafteste aller Vermittlungsinstanzen ist, nämlich durch "das Sinnliche", und seine Folgerung ist kompromißlos: "Religion ist dem größern Theile der Menschen nichts mehr, wenn wir ihre Bilder, ihre Probleme vertilgen, wenn wir ihre Gemählde von Himmel und Hölle zernichten - und doch sind es nur Gemählde der Phantasie, Räzel ohne Auflösung, Schreckbilder und Lokkungen aus der Ferne". Das Gebiet der "weltlichen Geseze" endigt sich nur zu bald - Freiheit ist dort nicht zu erwarten. Aber auch die Welt des Glaubens macht eben nicht frei, sondern gaukelt dem Menschen nur Eingebildetes vor.

Schiller fügt diese Einzelheiten zu einem großen Gemälde zusammen, um zu zeigen: diese Welt ist nicht die beste aller denkbaren, sondern eher die schlechteste aller möglichen. Schillers Welt ist in diesem optimistischen, selbstgewissen und zukunftssicheren Zeitalter der ausgehenden Aufklärung düster und mit Schrecknissen belastet, und mehr als das: sie ist, so meint Schiller, in dieser ihrer fatalen Befindlichkeit, in ihrer Grundsubstanz nicht veränderbar. Es ist kein Zufall, daß Schiller keine einzige Komödie geschrieben hat, daß selbst dort, wo (wie etwa zu Beginn von "Kabale und Liebe") Komödiantisches in ein Trauerspiel eindringt, sich dieses als die nur schlimmere Form tragischer Verhältnisse enthüllt. Daß Schiller ein optimistischer Aufklärer gewesen sei, ist eine Legende. Aber sein Wertekanon - wenn wir tatsächlich von einem solchen sprechen wollen - ist bestückt mit Forderungen, sich die Miserabilitäten des Lebens vom Leibe zu halten, oder besser: sich das Wissen um die mögliche innere Unabhängigkeit nicht zerstören zu lassen.

Seine argumentatives Ziel: der Schaubühne, die diese Welt vergessen lassen kann, ihre Berechtigung zu geben. Nur dort herrscht Gerechtigkeit, nicht auf dieser Welt, und nur dort werden jene Werte verkündet, die in der wirklichen Welt längst obsolet geworden sind. Aber die Schaubühne ist keine eigene poetische Welt jenseits der wirklichen, sie will Exempel statuieren, die ins Leben übertragbar sind, und zentraler Wert ist und bleibt nun einmal "Freiheit". Zur Freiheit muß man sich angesichts der Unvollkommenheit, ja der Bedrohlichkeit und Zerbrechlichkeit dieser Welt entschließen. Das kann geschehen, indem man lernt, sich mit Freiheit in die Notwendigkeit zu fügen.

Wenn Schiller dazu auffordert, dann bezeichnet er mit diesem Begriff der "Notwendigkeit" etwas, das viele Formen annehmen kann. Es kann der Zwang äußerer Verhältnisse sein, wie das schon seine frühe Erzählung vom Verbrecher aus verlorener Ehre zeigt, es kann etwas sein, was Schiller auch als Schicksal bezeichnet, also als über den Menschen verhängte blinde Gewalt; es kann schließlich auch eine Schuld sein, die nach Sühne verlangt - in jedem Fall ist es etwas von der Geschichte oder von den Verhältnissen Aufgegebenes, das den Menschen, um Schillers Wort zu gebrauchen, zu "zernichten" droht, und die schwierige Aufgabe ist es, dieses Schicksal nicht nur zu erleiden, sondern anzunehmen - ein fast übermenschlicher Anspruch Schillers an den Einzelnen, etwas Notwendiges noch zu einem Akt der Freiheit umzuwerten. Entschließt er sich tatsächlich dazu, sein Fatum zu akzeptieren, ein fremdbestimmtes Schicksal erleiden zu wollen, so äußert sich darin Selbstbestimmung in ihrer eigentlichen Form. Freiheit ist die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu bestimmen auch noch unter der Bedrohung durch anderes, durch Menschen und Mächte, denen er sich unterworfen weiß; Freiheit ist das Vermögen, dieser Bedrohung zu entkommen, indem man sich entschließt, das über den Menschen Verhängte als etwas Unvermeidbares in einem letzten Willensakt freiwillig und bewußt anzunehmen - nicht, um ihm aus dem Weg zu gehen, sondern um sich im Akt der Anerkenntnis des Unvermeidbaren die eigene Freiheit zu sichern.

Dabei gehen für Schiller die Bedrohungen der eigenen Freiheit nicht nur von äußeren Gegebenheiten aus; er weiß nur zu gut, daß Schuld nicht immer etwas von außen Verhängtes ist, sondern daß es ein Schuldigwerden im eigenen Inneren gibt. Das demonstriert "Maria Stuart" ebenso wie "Die Braut von Messina". Doch wo die eigene Schuld bejaht wird und in die Bereitschaft mündet, dafür zu sühnen, ist Freiheit als Selbstbestimmung möglich; Schuld muß beglichen werden, aber es wäre ein aus der Sicht Schillers wertloses Geschehen, würde sich die Sühne nur als äußerer Vorgang ereignen. Ein Mord kann nicht durch den Henker gesühnt werden, sondern nur durch die Einsicht des Mörders in die eigene Schuld und durch die innere Bereitschaft, dafür zu büßen. Daß ein Mensch auch in diesem Sinne sein Schicksal auf sich nehmen kann, zeigt, daß er sich selbst unter äußerstem Druck mit Freiheit in die Notwendigkeit zu fügen weiß.

Die Schaubühne ist das Forum, auf dem derartiges demonstriert wird - in der festen Zuversicht, daß das Beispiel unter den Zuschauern Schule mache. Dahinter steht Schillers Glaube, daß die Macht des Gewissens groß und unzerstörbar ist und daß eben dieses auch durch das Theater, durch die Dichtung vermittelt werden kann.

3. Gesittung

Die Forderung, sich selbst zu bestimmen und sich mit Freiheit auch in die "Notwendigkeit" zu fügen, könnte den Verdacht nahelegen, daß die Werte Schillers Individualwerte sind, auf den Einzelnen bezogen, an seine Verantwortlichkeit appellierend. Das ist nicht falsch, bedarf aber der Ergänzung. Was Thomas Mann als "Gesittung" bezeichnet hat, gehört zu den Sozialwerten, von denen in Schillers Werk in unterschiedlicher Dosierung die Rede ist. Dem Staat hat Schiller nicht sonderlich getraut - er hatte allen Grund dazu. Um so wichtiger sind ihm Treue, Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit, Verständnis, Opferbereitschaft, ein Eintreten für den Bedrohten, im Extremfall ein Auf-sich-Nehmen des fremden Schicksals bis hin zum eigenen Untergang. Das alles findet sich in Schillers Dramen und immer wieder auch in Schillers Balladen. "Die Bürgschaft": nur eines der vielen Beispiele; eine Anleitung zum rechten Handeln, das für Schiller auch das gute Handeln ist. Irrationalismen sind aus diesem Wertekatalog weitgehend ausgeschlossen, Freundschaft etwa basiert auf einem Entschluß zu ihr, nicht auf einem Nähegefühl oder auf seelischer Übereinstimmung. Aber Freundschaft besteht andererseits auch aus mehr als aus dem Austausch von Gedanken, die zwischen Gleichartigen gewechselt werden. Es sieht so aus, als habe Schiller, vom Staat enttäuscht, alle Sozialwerte gewissermaßen als Kleingruppenwerte ausgeflaggt, denn sie sind eigentlich immer nur dort, also unter Freunden oder in der Familie zu finden - darin drückt sich ein Sozialbewußtsein aus, das bürgerlicher Herkunft ist und das Bürgerlichkeit als das Forum betrachtet, auf dem sich der "Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze, edlerer Sitten" am ehesten verwirklichen läßt. Bürgerlichkeit als Gemeinschaftsphilosophie, die ihre Verbindlichkeit aus der Einsicht gewinnt, daß nur so Werte gewahrt werden können. Schiller nennt das "Gesittung".

Was ist geblieben? Die Idealgestalt des sich selbst bestimmenden, freien Menschen, der sich nicht instrumentalisieren läßt, war ein Wunschtraum des 18. Jahrhunderts. Aber jeder Schiller-Leser weiß, daß der Versuch einer ästhetischen Erziehung ein Phantom war und daß Schillers Verkündigung, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele, von der Praxis der arbeitsteiligen Gesellschaft bereits überholt war, bevor sie geäußert wurde. Es war Schillers Versuch, die Welt zu einer besseren Form des Theaters zu machen, obwohl jeder Theaterbesucher schon damals sah, daß da nicht die Wirklichkeit verhandelt wurde, sondern eben "Werte" verkörpert wurden. Dem Intellektuellen, der "liberté de penser" und "freedom of thought" zu seiner Lebens- und Handlungsmaxime erheben kann, steht eben das entgegen, was Thomas Mann 1955 schon gegeißelt hatte: der "Verlust an Bildung, Anstand, Rechtsgefühl, Treu und Glauben, jeder einfachen Zuverlässigkeit, der beängstigt". Die Diagnose dürfte jetzt noch düsterer ausfallen. Der Verlust des Humanen äußert sich heute in Massenwahnphänomenen. Wir wissen, wie manipulierbar der Mensch geworden ist.

Ist der Glaube an den mündigen Bürger, der sich auch unter dem Druck der "Notwendigkeit" noch in Freiheit selbst bestimmen kann, ist der Glaube an den Sozialwert der "Gesittung" noch lebensfähig? "Kann sein - auch nicht", heißt es im "Wallenstein". Ein Trost mag sein, daß vielleicht nicht Schillers Werte, wohl aber Schillers Dramen, die unaufhörlich demonstrieren, daß sie Realität seien, die Jahre und alle pessimistischen Prognosen bislang unbeschadet überstanden haben. Die klassischen Werte sind unzweifelhaft von gestern. Aber sie könnten auch morgen noch nicht verjährt sein - falls dann noch Theater gespielt wird.