Misery likes company

Toni Morrison singt das Hohelied der "Liebe"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

L steht für L., eine der beiden Erzählstimmen des neuen Romans der Nobelpreisträgerin Toni Morrison. Schon von den ersten Zeilen an macht sie dem Leser klar: Die heutige Zeit ist nicht mehr die ihre, heute halten die Frauen ihre Knie nicht mehr schicklich zusammen, sondern strecken "ihr Dreieck beim Tanzen in die Fernsehkameras", als bestünden sie aus nichts anderem, heute gibt es keine Geheimnisse mehr, die bewahrt werden, heute "plappern die Zungen von selbst und der Kopf hat Pause". L. dagegen weiß noch, wie es war, als Schweigen nichts Seltsames war, als sie, das stille Wesen, noch als diskret galt.

Trotz ihrer Abneigung gegen unnütze Worte beschließt sie allerdings, eine Geschichte zu erzählen, oder besser: zu summen, damit sie sich als Hintergrundgeräusch in die Gedanken der Menschen schleicht, eine Geschichte, "aus der man lernt, wie skrupellose Weiber einen guten Mann zugrunde richten können".

Dieser Entschluss mag mit ihrem vollen Namen zusammenhängen: L. trägt den Namen des dreizehnten Kapitels des ersten Korintherbriefes, wie sie später selbst stolz verkündet: Love. Und ihre Liebe zu Bill Cosey und noch mehr zu dessen Frauen treibt sie dazu, sich einzumischen, auch heute noch zwischen die Streitenden zu treten und zu vermitteln. Zumindest im Stillen. Denn noch viel später wird sich herausstellen, dass L. schon vor Jahren gestorben ist. Doch selbst nach ihrem Tod bleibt sie den Frauen des Romans quasi als guter Geist erhalten: Sie erzählt deren wahre Geschichte, soweit man die Wahrheit kennen kann, im Wechsel mit einer unbenannten Erzählinstanz, die die Perspektive verschiedener Beobachter einnimmt.

Ansonsten aber vermeidet der Roman, der von der Liebe erzählt wird und sie im Titel trägt, im Manuskript bedeutungsvoll diesen Begriff. Das Gefühl mag zwar in vielen seiner Spielarten und Varianten existieren, als Mutterliebe, als romantische oder sexuelle Liebe, doch die Figuren des Romans ringen mit den Worten, um zu beschreiben, was sie empfinden.

Nicht Mitleid war es, insistiert Heed, was der alte Bill Cosey empfand, als er sie als Elfjährige zur Frau nahm und sie aus den ärmlichen Verhältnissen herausholte, in denen sie aufgewachsen war. Aber was 'es' wirklich war, kann sie nicht sagen. ",Es war, es war ...' Sie konnte es nicht aussprechen, und nach 1947 hatte auch er es nicht mehr gesagt. Jedenfalls nicht zu ihr, und sie hatte ihm vierundzwanzig Jahre lang zugehört. Die Schreie, die sie bei seinem Tod ausstieß, galten der Tatsache, dass sie dieses Wort nie wieder hören würde."

I steht für den Ingrimm, mit dem Heed und Christine, die Enkeltochter Coseys, sich belauern und bekämpfen. Früher einmal waren sie beste Freundinnen gewesen, doch als der Patriarch sich entschloss, Heed zu ehelichen, wurden sie bittere Rivalinnen um seine Gunst und Anerkennung. Heute leben die beiden Frauen allein in Coseys verfallener Villa und scheinen darauf zu warten, dass die jeweils andere stirbt und ihr somit das Erbe des schwarzen Hoteliers überlässt, um das sie seit Jahren streiten. In Einsamkeit alt geworden, fehlt ihnen mittlerweile die Kraft, ihre Streitigkeiten handgreiflich auszutragen, aber für Intrigen und spitze Worte reicht es noch immer. Ansonsten haben die beiden einen stillschweigenden Waffenstillstand ausgehandelt: Christine sorgt für die von Arthritis geplagte Heed und diese lässt ihre Stiefenkeltochter dafür weiterhin im selben Haus wohnen. Immer in Angst um ihre Zukunft leben die beiden in der Vergangenheit, halten an alten Kränkungen und Streitigkeiten fest, um überhaupt noch etwas vom Dasein zu haben.

E steht für Erinnerungen. Toni Morrison bedient sich einer ausgeklügelten Ver- und Enthüllungstaktik und inszeniert einen schmerzhaften Erinnerungsprozess. Dabei macht sie sich die Unzuverlässigkeit und Lückenhaftigkeit von Reminiszenzen zunutze, um Auslassungen zu verschleiern und Widersprüchlichkeiten zu erklären. Während der Leser noch einem Faden des dicht gesponnenen Beziehungsgeflechts folgt und ihn zu entwirren sucht, verwirrt sich irgendwo ein zweiter mit einem dritten. Andeutungen weichen nur langsam deutlichen Hinweisen auf die wirklichen Mechanismen und Strukturen, die die Geschichte, die L. summt, prägen. Immer mehr wird jedoch klar, dass der Roman um eine Leerstelle kreist und sich ihr nur behutsam annähert.

B steht für Bill Cosey, die heimliche Hauptfigur. Acht von neun Kapitelüberschriften sind ihm gewidmet und charakterisieren ihn scheinbar wohlwollend als Freund, Fremden, Wohltäter, Liebhaber, Ehemann, Behüter und Vater, später zweideutiger als Phantom. In den vierziger Jahren gehörte ihm das eleganteste Strandhotel für Farbige an der US-Ostküste, wo er seinen Gästen die "schönstmögliche schöne Zeit" versprach. Als die Zeiten sich jedoch änderten, die Bürgerrechtsbewegung aufkam und die Gäste ausblieben, ging es nicht nur mit seinem Hotel, sondern auch mit ihm selbst bergab.

Zu Beginn des Romans ist auch er längst tot - und bestimmt doch noch immer das Leben von ganz Sooker Bay, vor allem aber das der Frauen, die ihn liebten und um ihn kämpften. Mit jeder Seite des Romans erkennt der Leser neue Facetten dieser Figur, die sich ihm aber doch auch immer mehr entzieht. Jeder der Beteiligten hat etwas anderes über ihn zu berichten, für jeden stellte er sich anders dar. Immer wieder muss der Leser sein Bild von Bill Cosey neu überdenken und kann am Ende nur Christine und Heed zustimmen, die nach Jahren der Feindschaft und des Ringens um die Liebe des alten Mannes und ihre Erinnerungen an ihn erkennen, dass Bill Coseys Status in der Familie auch von ihrer Anbetung des Geliebten abhing, dass sie den Mythos des Patriarchen selbst erschaffen haben: "Er war überall. Und nirgends." - "Von uns erfunden?" - "Er hat sich selbst erfunden." - "Wir müssen mitgeholfen haben."

E steht also für Erkenntnisse. Die Verdrängungsmechanismen der beiden übrig gebliebenen Cosey-Frauen funktionieren gut, und es gibt vieles, an das man sich nicht erinnern mag. Enttäuschungen und verletzter Stolz schwärten über lange Jahre und verhindern eine Annäherung so lange, bis es fast zu spät ist. Die Figuren des Romans begreifen nur langsam, dass Liebe nicht immer nur Sehnsucht nach Nähe, nach Wärme und Zuwendung bedeutet, sondern auch eine zerstörerische Kraft ist, die Menschen nicht nur dazu bringen kann, über sich hinauszuwachsen, sondern auch furchtbar klein zu werden.

Wer nun wen skrupellos zugrunde gerichtet hat, bleibt dem Urteil des Lesers überlassen.

Titelbild

Toni Morrison: Liebe. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Thomas Piltz.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
281 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 349804494X

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