Wir sind so hässlich

Val Williams' grandiose Retrospektive des britischen Fotografen Martin Parr

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Parr gehört zu den einflussreichsten zeitgenössischen britischen Fotografen. Mit seiner kritischen und ironischen Beobachtung, seinem einzigartigen Blick auf das unfreiwillig Komische unserer Kultur, der mitunter kitschigen Farbigkeit der jüngeren Arbeiten und seinem freien Umgang mit Werbe- und Modefotografie hat er die Grenze zwischen Kunst und Journalismus überschritten.

Parrs Werk wurde in zahlreichen Veröffentlichungen und internationalen Ausstellungen präsentiert und ist in den Sammlungen des Museum of Modern Art in New York, des Victoria & Albert Museum in London und in der Bibliothèque Nationale in Paris vertreten. Seit 1994 ist Parr Mitglied der Fotoagentur Magnum. 2004 wurde er zum künstlerischen Leiter des Fotofestivals "Recontres internationales de la photographie" in Arles bestellt.

Die Retrospektive von Val Williams setzt sich erstmals eingehend mit Parrs künstlerischem Werdegang auseinander - von der Installation "Home Sweet Home" aus dem Jahr 1973, über die frühen Schwarzweiß-Aufnahmen von Hebden Bridge in Yorkshire, die Bilder von Irland und Salfort, bis hin zu den neueren Farbfotografien. Insgesamt versammelt der Band über 500 Aufnahmen, mehr als die Hälfte davon sind Erstveröffentlichungen.

Parr macht sich lustig über uns. Er macht sich lustig darüber, wie wir wohnen - frühe Aufnahmen bilden immer wieder die triste Heimeligkeit von Tapetenmustern ab -, was wir essen, wie wir uns kleiden und wie wir unsere Freizeit verbringen. Er hat es zu wahrer Meisterschaft darin gebracht, unseren schlechten Geschmack anzuprangern und die tumbe Zufriedenheit, mit der wir uns durch die Massenware abspeisen lassen.

Parrs Aufnahmen zeigen den Jahrmarkt der Eitelkeiten der britischen Mittelschicht, die Kathedralen des Konsums, die manische Jagd nach Freizeitvergnügen und globalem Tourismus. Menschen bar jeder ästhetischen Empfindung: geschmacklos gekleidet, grell geschminkt, in satter Behaglichkeit aufgedunsen oder braun gebrannt unter künstlichen Sonnen. Unvorteilhaft schwappt der Bauch über den Hosenbund, lichtet sich das Haar, quillt das Doppelkinn.

In ihren Einkaufswagen häufen Parrs Studienobjekte alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Ihre Nahrung besteht aus Müll; wo sie nicht unter Streuzucker oder Sahne verschwindet, trieft sie von Fett. Hässlich, skurril, lächerlich - das sind die Adjektive, die unter jedem Bild zu stehen scheinen. Steigender Wohlstand, die massenhafte Versorgung der Bevölkerung durch Konsumgüter und Dienstleistungen haben daran nicht das Geringste geändert. Aufdringlich und schlecht gekleidet fallen Parrs Landsleute noch in die fernsten Weltgegenden ein.

In seinen zahlreichen Selbstportraits macht Parr gute Miene zum hässlichen Spiel: In einem Akt ironischer Notwehr beschießt der Fotograf die Konsumgesellschaft mit dem gleichen Kitsch, den sie hervorbringt. Mal koloriert, mal weich gezeichnet. Das letzte Bild ist eine Fotomontage. Es zeigt einen Bodybuilder mit Parrs Kopf.

Titelbild

Val Williams (Hg.): Martin Parr.
Phaidon Verlag, Berlin 2004.
352 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-10: 0714893919

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