Die Andere Bibliothek im Ohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Wasserzeichen der Poesie verschwindet nicht so leicht." Seit 15 Jahren besteht Hans Magnus Enzensbergers "Andere Bibliothek". Trotz widriger Umstände, darunter ein Verlagswechsel, konnte sie sich bei den Lesern und im Buchhandel behaupten. Eines der programmatischen Hauptstücke dieser Bibliothek erschien 1985. Damals hatte Hans Magnus Enzensberger alias Andreas Thalmayr eine Anthologie herausgegeben, die Furore machen sollte. Ein Lyrik-Steadyseller bis heute, der in 164 Spielarten vorführt, dass Lyrik-Lesen lehrreich sein und zugleich Freude bereiten kann.

Eine Auswahl dieser Anthologie ist als Hörbuch bei Eichborn erschienen. In ihr zeigt Hans Magnus Enzensberger auf virtuose Weise, daß Lesen "immer auch zerstören" bedeutet - zerstören und wieder zusammensetzen. Unterteilt ist das Hörbuch in fünf Folgen und 25 Kapitel, das entspricht 25 Varianten, Gedichte zu zitieren und zu konterkarieren, zu parodieren und zu paraphrasieren. Diese Varianten heißen Jargon, Parodie, Reduktion oder Negation, Krebsgang, Nonsense oder Rezept. Mit "liebevoller Rohheit" rückt Enzensberger den 'guten' wie den 'schlechten' Texten auf den Leib, zerstückelt sie wie Hamann mit dem Hackebeilchen und setzt sie wieder zusammen wie Doktor Frankenstein. Unter diversen Pseudonymen, darunter Andreas Thalmayr und Serenus M. Brezengang, erprobt er die oft erstaunliche Haltbarkeit und Qualität von lyrischen Texten. Hans Magnus Enzensberger verrät uns die Zutaten der Dichtung und stellt sie 'echten' Rezepten gegenüber. Johann Rottenhöfers "Omelette", ein köstliches "Pfannkuchenrezept" aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, kontrastiert mit Günter Eichs Variante aus dem Kriegsjahr 1945. Gert Heidenreich liest die Komponenten und Resultate. Ein spielerischer, lustvoller, gleichwohl lehrreicher Zugang zur Lyrik.

Balkonien erscheint immer noch als das schönste Urlaubsland. Besonders dann, wenn man im Urlaub einmal unter Menschenfresser, grausame Antipoden, Piraten und Parasiten gefallen ist. Und das ist ja fast der Regelfall, möchte man glauben, wenn man sich Hans Magnus Enzensbergers Anthologie "Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt" reinzieht. Diese Warnung vor dem Reisen (und vor den Reisenden) ist jetzt auch als Hörbuch bei Eichborn erschienen. Sie gibt grausam Einblick in die "Todeszonen" der Welt, in den Ekel des Massentourismus, in die Ödnis exotischer Welten und die Beutelschneiderei der Eingeborenen.

Auf fünf Kontinente führt uns dieses selten praktische Reise-Hörbuch. Dabei kommt es völlig ohne Karten und Bilder aus. Es empfiehlt ja auch keine Urlaubsziele, sondern rät vom Reisen ab: zu gefährlich, zu teuer, zu redundant. Alle Katastrophen sind schon erlebt, alle Urlaubsziele schon entzaubert, alle Exotik ist perdu, aller Anreiz verflogen. Vollgültigen Ersatz bietet diese Doppel-CD, man höre sie auf dem Balkon oder im heimischen Terrarium.

Lutz Hagestedt

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu hören. Gelesen von Hans Magnus Enzensberger, Gert Heidenreich und Birgitta Assheuer.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
2 CD, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3821851228

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Titelbild

Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt. Gelesen von Hans Magnus Enzensberger, Gert Heidenreich und Birgitta Assheuer.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
2 CD, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3821851236

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