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Diagnosen zum Gedächtnis der Gesellschaft

Von Birte TeitscheidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Birte Teitscheid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Gedächtnis der Gesellschaft ist im Wandel. Seit der Antike haben sich unterschiedliche Formen und Medien von Gedächtnis herausgebildet, welche den Anforderungen der jeweiligen Epoche in dem Punkt entsprachen, was erinnert und was vergessen werden sollte. Mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft erweitert sich die Kapazität an kulturellen Inhalten und Kommunikationen jedoch so drastisch, das neue Formen der Selektion gefunden werden müssen. Als Speicher ausrangiert, als Archiv überlastet, muss das Gedächtnis der Gesellschaft in der Lage sein, möglichst viel auszusortieren; die Massenmedien dienen als Werkzeuge dieser Vergessensleistung. Die vorliegende Studie von Elena Esposito nimmt die Wechselwirkungen zwischen den Differenzierungsformen der Gesellschaft und ihren Kommunikationstechnologien im Sinne einer Erweiterung zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisdebatte unter die Lupe.

Um den Gedächtnisbegriff herum hat sich im Laufe der letzten fünfzehn Jahre ein neues Paradigma kulturwissenschaftlicher Forschung etabliert, an dem bisher insbesondere die Geschichts- und Literaturwissenschaften beteiligt waren. Mit Elena Esposito hat sich eine Soziologin dieser Thematik angenommen. In ihrer Forschungsarbeit (die durch einen Gastaufenthalt am Institut für Philosophie an der Freien Universität Berlin zustande kam) werden zunächst drei Gesellschaftsstadien und ihre Gedächtnisformen historisch hergeleitet, bevor sie mithilfe der soziologischen Systemtheorie mit Inhalt versorgt werden. Espositos Vorgehen ist es, eine Definition von Gedächtnis zu finden, die von ihrer funktionalen Ausrichtung alle historischen Gesellschaftsstadien reflektiert und die zudem auf der evolutionären Praxis ihrer jeweiligen Medien (nicht-phonetische Sprache, Alphabet, Schrift/Buchdruck) aufbaut. Die Geschichte des Gedächtnisses ist aus dieser Perspektive, wie Jan Assmann im Nachwort bemerkt, besonders "die Geschichte seiner Medien".

Im Unterschied zu dem in den Kulturwissenschaften verwandten Begriff des kollektiven Gedächtnisses verzichtet Esposito in ihrer Definition von Gedächtnis gänzlich auf eine Thematisierung der Verbindung von gemeinsamer Vergangenheit und personaler Identität. Sie spricht von dem Gedächtnis der Gesellschaft als einer abstrakten Systemoperation, die aus der Gegenwart heraus vollzogen wird, aber nicht die Erinnerung des Geschehenen zur Aufgabe hat. Die Funktion von Gedächtnis besteht vielmehr darin, das Verhältnis von Redundanz und Varietät in den Kommunikationen der jeweiligen Gesellschaft auf Durchgängigkeit zu überprüfen. Wie Esposito veranschaulicht, ist das Gedächtnis als Technik im Sinne der antiken "ars memoria" besonders der Verfeinerung der Wiederholungsprozeduren verpflichtet gewesen. Dagegen hebt es als selbstregulierender Ordnungszustand vor allem auf die Varietät bzw. die Zufälligkeit in den Kommunikationen einer Gesellschaft ab.

Espositos theoretisches Vorgehen lässt sich ohne das Wissen um einige Luhmann'sche Standardtexte schwerlich nachvollziehen. Zudem spannt der in die soziologische Systemtheorie eingebaute Evolutionismus auch in ihrer Arbeit allzu mühelos einen Bogen von schriftlosen Gesellschaften zum Internet, ohne auf Zeitsprünge oder Überlappungen, etwa im Einsatz von Gebrauchsmedien, zu achten. Zu einem kulturwissenschaftlichen Gewinn wird ihre Analyse jedoch, wenn sie zum Gedächtnismodell der Neuzeit übergeht, in dessen Rahmen sich die Informationsgesellschaft etabliert. Dass der Einsatz von Massenmedien eine "ars oblivionalis" hervorbringt, deren Semantik darin besteht, möglichst wirkungsvoll und schnell zu vergessen, ist eine gewagte wie nahe liegende These, bei der Esposito allerdings nicht stehen bleibt. Ihr geht es darum aufzuzeigen, dass Massenmedien wie Radio, Zeitung und Fernsehen zwar ein Übermaß an Informationen (und damit an Kohärenz) erzeugen, mit Unvorhersehbarkeiten im Kommunikationsablauf jedoch (noch) nicht umgehen können. Erst mit der Computertechnologie ist die Vergessenskunst vollständig in einem Medium vereint.

Bei der Konzeption einer "ars oblivionalis" spielt die Vermehrung des Zufalls in den Kommunikationen der Gesellschaft eine tragende Rolle. Der Computer als nicht-triviale Maschine ermöglicht die Verarbeitung und Umwandlung der ursprünglichen Information in eine andere und ist damit befähigt, auf komplexe Umwelteinflüsse zu reagieren. In die Interaktivität des Netzes setzt Esposito die Hoffnung, das Reservoir an möglichen Informationen, Fiktionen und (Um-)Welten in den Kommunikationen der Gesellschaft auszuschöpfen, und zwar weit effektiver als dies das Speicher- bzw. Archivmodell einer "ars memoria" vermochte. Mit der Telematik von Computer und vernetztem Individuum stößt Esposito dann doch noch auf den Sinn des Mysteriums von Kommunikation (der in ihrem Fachgebiet gerne ausgeschlossen wird): das Gedächtnis der Gesellschaft zumindest bleibt darin ein funktioneller Hohlraum.

Titelbild

Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft.
Übersetzt aus dem Italienischen von Alessandro Corti.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
418 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3518291572

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