Kapitalismus und Kritik

Luc Boltanski und Eve Chiapello über eine fruchtbare Beziehung

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem Drama "Erste Vorstellung" lässt Rene Pollesch seine Figuren folgenden Dialog sprechen:

F: Du hast keinen Kontakt zur Wirklichkeit, weil du deine Produktionsverhältnisse nicht hinreichend analysierst! Kreativität ist nur Aufforderung zur Eigeninitiative!
B: Und das kommt andererseits kaum vor in der Kultur oder so was, zu arbeiten oder nicht zu arbeiten in den neoliberalen Verhältnissen HIER! Weil Künstler ihre Arbeitsbedingungen kaum analysiern. Deshalb sind linksprogressive Künstler vielleicht so gefragt auf dem Kunstmarkt, weil sie kritiklos in neoliberalen Verhältnissen leben und arbeiten. Und dann scheiss ich doch auf ihre INHALTE!

Dieses Textfragment bietet einen wunderbaren Einstieg in die Problematik des Verhältnisses von Kapitalismus und Kapitalismuskritik, wie sie von den französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem Buch "Der neue Geist des Kapitalismus" dargestellt wird. Deutlich wird vor allem eines an der Passage aus dem vor ähnlich selbstreflexiven Stellen strotzenden Pollesch-Stück: Zwischen künstlerischen, kulturellen Arbeitsweisen und neoliberalem Kapitalismus gibt es eine inhaltliche Überschneidung. Dass sogar mehr als dies, nämlich die Aneignung eines künstlerischen Arbeitsethos durch den Kapitalismus zu behaupten ist, der heute als Norm an den Regelarbeitnehmer weitergegeben wird, ist eine der Hauptthesen des französischen Theoriewälzers.

Als Ausgangspunkt dient dem Buch die Behauptung, der Kapitalismus brauche einen Geist bzw. eine Ideologie, welche die Mobilisierung und das Engagement der Menschen für die kapitalistische Akkumulation bewirken kann. In Ablehnung vulgärmarxistischer Ideologietheoreme, die kapitalistische Ideologien als reine Verschleierungsmaßnahmen begreifen, werden diese hier als eine Gesamtheit von Glaubenssätzen gedacht, welche sich institutionell verkörpern, im Handeln verdinglichen und in der Realität verankern. Anschließen wollen Boltanski und Chiapello hingegen an Max Weber und seine Betrachtung anknüpfen, dass Menschen überzeugende moralische Gründe benötigen, um sich dem Kapitalismus anzuschließen; es muss ihm ein Sinn eingehaucht werden, der außerhalb der reinen Profitmaximierung liegt bzw. diese übersteigt, damit er sich legitimieren sowie Engagement und Einsatzbereitschaft einfordern kann. Er muss dabei wirtschaftswissenschaftliche Argumente wie technischen Fortschritt oder die Effizienz einer konkurrenzstimulierten Produktion überbieten, um drei Fragekomplexe zu betreuen: Wie ruft die Einbindung in den kapitalistischen Akkumulationsprozess auch bei denen Enthusiasmus hervor, die keinen großen Nutzen aus ihm ziehen; wie können die, die in den kapitalistischen Prozess integriert sind, für sich und ihre Kinder eine minimale Absicherung erhalten, und wie lässt sich im Sinne des Gemeinwohls die Teilnahme am kapitalistischen Projekt rechtfertigen? Die Antworten auf die Fragen, wie sich der Kapitalismus rechtfertigt und vor allem, wie er sich überdies auch noch wünschenswert macht, liegen nach Ansicht der Autoren im Geist des Kapitalismus begründet, der nicht mehr jeden Profit legitim, nicht jede Bereicherung gerecht und nicht jede Akkumulation zulässig findet.

Der Geist des Kapitalismus greift stets auf Rechtfertigungsapparate zurück, die nicht in seiner Ordnung liegen: von dort werden Ansprüche abgeleitet, die sich grundlegend von den reinen profitgesteuerten Erfordernissen unterscheiden. Er schöpft also aus außerhalb seiner selbst liegenden Ressourcen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt eine hohe Überzeugungskraft besitzen und aus den prägenden, ja sogar kapitalismusfeindlichen Ideologien, die Teil des kulturellen Kontextes sind. Der Geist des Kapitalismus ist demnach durchdrungen von kulturellen Erzeugnissen, die zu deutlich anderen Zwecken entwickelt wurden als zur Rechtfertigung des Kapitalismus. An diesem Punkt kommt folgerichtig die Kapitalismuskritik ins Spiel. Denn nur mit der Kritik kann der Kapitalismus überhaupt einen Geist erzeugen, das heißt, nur mit seinen Gegnern kann er moralische Kategorien oder Gerechtigkeitsstrukturen integrieren. Der Geist des Kapitalismus ist die synthetisierende Dynamik aus der Entwicklung des Kapitalismus und der Kritik an ihm, wobei die Kritik demgemäß als Motor der Veränderung des Geistes des Kapitalismus fungiert. Der auf eine Ideologie angewiesene Kapitalismus nutzt seine Kritiker, um sich selbst zu korrigieren und sich in dieser Flexibilität zu stabilisieren. Wenn man den Geist in dieser Form als Produkt des Aufeinandertreffens von Kritik und Kapitalismus begreift, lohnt es sich, um dem Geist ein wenig auf die Schliche zu kommen, eine Art Soziologie der Kritik zu betreiben. Dazu unterscheiden Boltanski und Chiapello vier verschiedene Quellen der Empörung, aus denen sich der Antikapitalismus seit jeher speist: Der Kapitalismus wird verantwortlich gemacht a) für die Entzauberung und fehlende Authentizität der Menschen und Dinge, b) die Unterdrückung von Freiheit, Kreativität und Autonomie, c) Ungleichheiten und Armut sowie d) die ungesunde Alleinorientierung an Egoismus und Eigeninteresse und die damit einhergehende Zerstörung der gemeinschaftlichen Solidarität. Angesichts der Schwierigkeiten, alle Empörungsmotive in einem kohärenten kritischen Rahmen zu integrieren, fusionieren die Module a) und b) in der idealtypischen Einstufung der Autoren zur Künstlerkritik sowie c) und d) zur Sozialkritik. Während die Künstlerkritik als eine radikale Infragestellung der Werte und Grundoptionen des Kapitalismus auftritt und den Sinnverlust bzw. das verloren gegangene Bewusstsein für das Schöne und Große als Folge der Standardisierung und der Warengesellschaft ins Zentrum der kritischen Analyse stellt, versucht die Sozialkritik Ungleichheits- und Armutsprobleme zu fokussieren und sich in Ausbeutungstheorien an der Verarmung der unteren Klassen in reichen Gesellschaften abzuarbeiten.

Den Geist des Kapitalismus als historisch variabel in Abhängigkeit zum Stand der Akkumulation bzw. Produktion und der Art der Kritik gesetzt, kann man in drei historischen Aggregatzuständen wahrnehmen. Der dritte Geist, der für die Autoren das zu belegende Innovationsmoment des Kapitalismus darstellt, ist beseelt von Netzwerkkonzepten, die in einer "projektbasierten Polis" aufgehen. Diese Polisvariante, die als neue und siebte Form der "Ordnung von Größe" identifiziert wird, fordert und belohnt Mobilität, Verfügbarkeit und die Vielzahl an Kontakten. In ihrer Grammatik lässt sich Größe, also das, was besonders die Werte der Polis verkörpert, einmal am Grad der Aktivität messen. Indem Aktivität in Abhängigkeit zur Teilnahme oder Initiation von Projekten gedacht wird und das Leben als eine Folge von Projekten, betreibt man die Auflösung der Gegensätze zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, Lohnarbeit und Nicht-Lohnarbeit. Ähnlich den Analysen des britischen Soziologen Nikolas Rose wird konstatiert, dass die Individuen ein Projekt aus sich selbst machen, also in einer permanenten Neukonfiguration zum Zwecke der Selbstoptimierung personal growth betreiben sollen. Nutzen aus Autonomie zu ziehen, Sicherheit und Stabilität abzulehnen, mobil, kommunikativ, polyvalent und anders zu sein - dies begründet Größe in der neuen Polis, deren basaler Moment Beziehungen sind. In dieser konnexionistischen Welt sind diejenigen erfolgreich, die Projekte wechseln können, neue Netze knüpfen, sich dabei für neue Netze empfehlen und begehrlich machen. Nicht-Göße entsteht bei Unfähigkeit zur Vernetzung, beim Festhalten an dauerhaften Verbindungen, die einen selbst nicht erweitern. Nur jene Verbindungen sind sinnvoll, die als Selbsttechnologie eine Maximierung des Ich-Unternehmens versprechen. Nun besteht der Clou der Arbeit der beiden Autoren nicht nur darin, diese Erkenntnisse, die theoretisch in so vielen Publikationen zum Thema neuer Arbeits- und Organisationsorganisationen auftauchen, empirisch an die Managementliteratur der 90er Jahre zurückgebunden zu haben, sondern auch darin, in der "künstlerischen Kritik" der 60er Jahre die Wurzel dieser heute zur Norm gewordenen Entwicklungen zu sehen. Wie die amerikanische Autorin Marina Vishmidt die Konzeptkünstler und ihre Ideen von beispielsweise der Entmaterialisierung des Kunstobjektes als Prototypen der neuen affektiven, immateriellen Arbeiter entwirft, zeigen Boltanski und Chiapello, wie die Forderungen der Kapitalismuskritik nach mehr Autonomie, Kreativität und nach authentischeren Beziehungen in den Katalog eines kapitalistischen Habitus integriert wurden. Mit der Übernahme traditionell künstlerischer Eigenschaften wie Kreativität und Spontaneität durch das Management-Dogma der flexibilisierten Ökonomie werden "künstlerische" Seinsweisen begehrenswert und notwendig. Die Kritik, die in den 60er Jahren die bürgerliche Gesellschaft als bürokratisch und autoritätsfixiert beschrieb, wurde angeeignet und integriert. Nicht nur Boltanski und Chiapello haben das registriert: Macht man sich die Mühe wie Ulrich Bröckling und vergleicht heutige Managementliteratur mit anarchistischen Texten, trifft man analog auf ganz erstaunliche und unangenehme Überschneidungen. Gleichzeitig wird in sehr überzeugender Weise geschildert, wie die Sozialkritik, personalisiert durch Gewerkschaften und radikallinke Parteien, immer mehr an Boden verlor und keinen Einfluss mehr ausüben konnte, obwohl die sozialen Ungleichheiten sich immer mehr unter dem Einfluss einer alleinigen öffentlichen Präsenz und Integration der "künstlerischen" Kritik verschärften. Verantwortlich dafür wird aber auch eine fehlende Aktualisierung der Kritik gemacht, die sich von den Transformationen des Systems orientierungslos machen ließ.

Da Boltanski und Chiapello aber keine traurige Geschichte davon schreiben wollen, wie der Kapitalismus durch seine Integrationskraft und Flexibilität immer stabiler und dabei immer unerträglicher wird, setzen sie eben Hoffnungen in erneuerte Formen der Kritik. Einerseits in eine modernisierte Sozialkritik, die auf die Herausforderung der Globalisierung nicht mit veralteten Nationalkategorien antwortet, andererseits mit einer nicht-instrumentalisierten künstlerischen Kritik, die die vom Kapitalismus angebotenen Entfaltungspotenziale als zeitgenössische Form der effizientesten Ausbeutung der Menschen enttarnt und sich neu formiert. Die Figuren in Dramen von Rene Pollesch haben das schon begriffen, wenn wieder einmal das "ICH WILL DAS NICHT LEBEN" aus ihnen herausbricht.

Titelbild

Luc Boltanski / Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Tillmann.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2003.
736 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3896699911

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