Kontingenz und Differenz

Ein Sammelband stellt zwölf Philosophinnen des 20. Jahrhunderts vor

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es lassen sich wohl schwerlich gegensätzlichere Philosophinnen des 20. Jahrhunderts finden als Judith Butler, die Ikone der Gender-Theorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts, und Agnes Heller, für die Gender Studies barer Unsinn sind, da diese, wie sie in ihrer Autobiografie erklärt, "das große Nichts" lehrten, weshalb sie Gender Studies an ihrem Lehrstuhl auch nicht zulasse. Denn dort dürften nur "Dinge" gelehrt werden, "die Sinn haben" (vgl. zu Hellers Autobiografie literaturkritik.de 4/2000).

In einem von Regina Munz herausgegebenen Sammelband werden Butler und Heller nicht nur zusammen mit zehn weiteren Philosophinnen des gerade vergangenen Jahrhunderts (darunter Edith Stein, Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Seyla Benhabib und Sandra Harding) vorgestellt, es wird auch das Wirken aller unter ein gemeinsames Stichwort gesetzt, und zwar das der Kontingenz. Der Terminus sei mehr als "ein in Mode gekommener Begriff", der sich einer genaueren Definition entziehe, erklärt die Herausgeberin in der Einleitung. Er verweise auf Ermöglichungs- und Unsicherheitshorizonte und diene zur "Markierung von Veränderungspotential". Darüber hinaus bezeichne das Stichwort einen "wichtige[n] Ansatz feministischer Kritik".

Die "theoretische Ausgangslage" der einzelnen Beiträge bezeichnet die Herausgeberin zu Recht als "sehr verschieden". Ihre Qualität ist es ebenfalls. Einige von ihnen sind als "Einführungen in unbekannte Denkwelten" angelegt, andere nahezu rein biografisch und wieder andere sind nicht weniger als "Diskussionsbeiträge", die sich ebenso sicher auf dem Niveau der vorgestellten Philosophin als auch auf der Höhe des aktuellen Diskurses bewegen. Dies gilt etwa für Patricia Purtscherts Beitrag über Judith Butler, in dem die Autorin nicht nur Butlers Begriff der Kritik konzis vorstellt und seinen Zusammenhang mit Wissen, Macht und Subjektivierung darlegt, sondern die Theoreme der Gender-Theoretikerin darüber hinaus erfolgreich gegen allerlei aktuelle Einwände verteidigt. Butlers Denken, so nimmt Purtschert auf den die Textsammlung einenden Leitgedanken Bezug, könne als Auseinandersetzung mit der "Kontingenz des Politischen" verstanden werden, mit der die Theorie gerade darum unablässig beschäftigt sei, weil sich diese Kontingenz theoretisch nicht einholen lasse.

Was nun aber die oben genannten Differenzen zwischen Butler und Heller betrifft, so treten diese in den beiden ihnen gewidmeten Beiträgen nicht zu Tage. Denn Rachael Sotos geht in ihrem Artikel über Agnes Heller nicht auf deren Haltung zu den Gender Studies ein. Allerdings fristet die Geschlechterphilosophie in Hellers Denken auch ein derart randständiges Dasein, dass man deren Thematisierung in einem Portrait der in den USA lehrenden ungarischen Philosophin auch kaum erwarten würde. Eine Geschlechtertheorie - insofern man hier überhaupt von einer Theorie reden kann - macht sich in Sotos' Darstellung eher subtextuell bemerkbar, wobei nicht immer ganz deutlich wird, was denn nun genuin Heller'sches Gedankengut ist und was Sotos' Interpretation. So etwa, wenn die Autorin Hellers Denken mit Mütterlichkeit in Beziehung setzt, und darlegt, in ihrer "Theory of Modernity" entwickle die "postmarxistische Denkerin" die "mütterliche Erfahrung platonischer Verwunderung" zu einem "Ethos aufgeklärter Ignoranz". Eindeutig Sotos' Interpretation ist jedoch, dass Heller ihre "mütterlichen Instinkte gegenüber dem Neugeborenen" (womit die Moderne gemeint ist) nicht ablegen könne. Hier werden - wie auch immer fragwürdige - Überlegungen Hellers zu Instinkten degradiert, wenn Sotos dies auch gar nicht pejorativ meinen mag. An anderer Stelle kommt die Autorin noch einmal auf Hellers vermeintlich mütterliches Denken zu sprechen: Heller kleide ihre Auffassung der "praktischen Begrenzungen durch eine Verpflichtung gegenüber der Gegenwart typischerweise in mütterliche Termini" (Herv. R.L.). "Ein wirkliches Kind", zitiert Sotos Heller zum Beleg, "hat einen größeren Anspruch auf ein Elternteil als ein mögliches". Von Müttern oder Mütterlichkeit ist hier allerdings gar nicht die Rede, sondern ganz geschlechtsunspezifisch von Eltern und Kind. Es könnten - wenn man überhaupt darauf abheben will - also ebenso gut väterliche Termini sein. Wie man sieht, differiert die Qualität der vorliegenden Arbeiten über die philosophischen Ansätze und Theoreme von Butler und Heller ebenso sehr wie diese selbst.

Die Herausgeberin sieht den größten Gegensatz zwischen den vorgestellten Philosophinnen allerdings gar nicht zwischen Butler und Heller, sondern zwischen Simone Weil und Luce Irigaray, womit sie dann vielleicht doch nicht so ganz Unrecht hat, lehnt Weil doch "im Gegensatz" zu Irigaray die Kontingenz "zumindest des eigenen Körpers" rigoros ab.

Maja Wicki-Vogts Beitrag über Simone Weil, der umfangreichste des Bandes, gehört zu denjenigen, die sich weitgehend auf Biografisches beschränken. Dabei macht sich die Autorin nicht nur gelegentlicher Redundanzen schuldig, sondern auch einer etwas überdehnten Beschreibung von Weils Familiengeschichte, die sie bis auf die Großeltern hin zurückverfolgt. Neben - oder in Zusammenhang mit - Weils Ablehnung der Kontingenz des eigenen Körpers konstatiert Wicki-Vogts deren "völlig verinnerlichte Negationen zentraler Teile ihrer persönlichen Besonderheit", nämlich Frau und jüdisch zu sein. Der "Unerbittlichkeit des Leidensdrucks", den ihr diese beiden Kontingenzen zugefügt haben, habe Weil die "Unerbittlichkeit ihres moralischen Strebens nach Gerechtigkeit und ihre intellektuelle Wahrheitssuche" entgegengesetzt.

Nicht nur die Artikel zu Butler und Heller erweisen sich als ähnlich unterschiedlich wie die Denkerinnen, denen sie gewidmet sind, sondern auch diejenigen zu Weil und Irigaray, enthält sich Franziska Frei Gerlach doch weitgehend biografischer Anmerkungen zu der neben Hélène Cixous und Julia Kristeva dem Dreigestirn des französischen Feminismus zuzurechnenden Denkerin und konzentriert sich vielmehr auf den theoretischen Ansatz der Autorin des über die 70er Jahre hinaus wirkungsmächtigen Werkes "Spekulum" (1974) sowie auf die Missverständnisse in dessen Rezeption. So weist sie etwa auf die oft übersehenen Divergenzen zwischen den drei Theoretikerinnen hin. Ähnlich kenntnisreich, wie Purtschert Einsprüche gegen Butlers Ansatz widerlegt hat, nimmt Frei-Gerlach manchem "weit verbreitete[n] Einwand", der gegen Irigaray vorgebracht wird, die Plausibilität. Die populäre Kritik etwa, die französische Philosophin und Psychoanalytikerin schreibe nicht gegen die androzentrische Ordnung an, sondern stelle diese nur "mit umgekehrten Wertigkeiten versehen" fest, kann der Autorin zufolge "über die am Kontingenzbegriff orientierte Spezifizierung von Irigarays Differenzbegriff" entkräftet werden. In ihrer gründlich durchdachten Argumentationskette, die man auch dann mit Gewinn lesen kann, wenn man Irigarays Ansatz nicht präferiert und Frei-Gerlach nicht in allen Punkten folgen will, räumt die Verfasserin durchaus ein, dass es nicht "einer gewissen Widerständigkeit" entbehrt, die "Differenztheoretikerin" Irigaray als "Denkerin der Kontingenz" zu lesen, da ihr auf einer dualen Logik basierender Begriff der Geschlechterdifferenz "die Ordnung der Dinge" anders organisiere als derjenige der Kontingenz, der "Zufälligkeiten und eine Vielzahl von Möglichkeiten" impliziere. Doch lasse sich eben diese Widerständigkeit angesichts der zwei verschiedenen Differenzbegriffe, mit denen Irigaray operiere, produktiv wenden. Denn der Unterschiede beider Begriffe mache sich gerade daran fest, "wie sie im Hinblick auf die Frage der Kontingenz organisiert sind". Letztlich gehe es Irigaray bei der "Wiedereinsetzung der sexuellen Differenz" nicht um "Kontingenzreduktion", sondern um das "Offenhalten von Möglichkeiten".

Titelbild

Regine Munz (Hg.): Philosophinnen des 20. Jahrhunderts.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2004.
284 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3534164946

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