Kollektive Gefühle

Karl Otto Hondrichs "Liebe in den Zeiten der Weltgesellschaft"

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel des Buches und zugleich des ersten Kapitels in ihm ist eine Anspielung auf den berühmten Roman von Gabriel García Márquez. Auf Literatur beruft sich der seit 1972 in Frankfurt lehrende Soziologe Karl Otto Hondrich wiederholt, wenn auch nicht so häufig wie der von ihm verehrte Sigmund Freud. Was haben Literatur, Soziologie und Psychologie gemeinsam? Nicht zuletzt das Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen. Und wo sich Soziologen wie Hondrich nachdrücklich für die emotionalen Grundlagen dieser Beziehungen interessieren, steht eines der kompliziertesten Phänomene auf dem Spiel, das zu den erstrangigen Themen der Literatur und Psychologie gehört: die Liebe.

Dass menschliches Verhalten maßgeblich durch Gefühle motiviert wird, ist nach Hondrich eine Einsicht, die noch vor einem Jahrhundert für die Soziologie konstitutiv war, von der in den gegenwärtigen Sozialwissenschaften jedoch nicht mehr viel übrig geblieben sei. "Moderne Sozialwissenschaftler meinen, die soziale Welt werde von Systemen bewegt, von Kommunikation ,,von 'rational choice' der Individuen oder von globaler Ökonomie. Gegen diese - wie ich meine - Fehleinsichten des sozialen Lebens versuche ich, auf den Schultern von Emile Durkheim, Georg Simmel und Sigmund Freud deren frühe Einsichten wiederzugewinnen." Dass die Einsichten über die Wirklichkeit und Wirkungsmacht von Gefühlen aus dem sozialwissenschaftlichen Horizont ausgeblendet wurden, hat Gründe. Hondrich fasst sie pointiert zusammen: "Als Gefühle beleidigen sie, nur allzu oft, unsere Rationalität; als kollektive Gefühle unsere Individualität; als unbeabsichtigte Gefühle und Handlungsfolgen unseren Willen, die Wirklichkeit zu gestalten; als verborgene Gefühle unseren Anspruch auf Aufklärung und Aufrichtigkeit."

Die in dem Buch gesammelten Essays haben die Macht und Eigenart von Liebesgefühlen ganz unterschiedlicher Art im Blick: die oft geforderte und überfordernde Liebe zu Fremden aus anderen Kulturen, die das Recht der Ehe für sich reklamierende Liebe zwischen Homosexuellen oder die Verliebtheit in jungen und Vertrautheit in alten Paarbeziehungen. Ein Essay reflektiert die von Intellektuellen überheblich als Massenhysterie beargwöhnte Trauer um die tote Diana, ein anderer (autobiografischer) amüsant und melancholisch die Liebe zwischen Herr und Hund (Charly).

Im Zentrum jedoch stehen Ehe und Familie. Und dabei ist das Buch ein soziologisches Pamphlet: eine Attacke gegen die Konjunktur der "Individualisierungsthese", wie sie am prominentesten Ulrich Beck publik gemacht hat. "Individualisierung" meint vor allem die "Freisetzung von traditionellen Bindungen". Vorgegebene Bindungen der sozialen und kulturellen Herkunft werden durch neue Bindungen ersetzt, die der Einzelne selbst wählt und zusammenstellt. Jeder bastelt eigenständig an seiner Biografie. Hinter der These steht die Vorstellung von wachsender Freiheit in einer modernen Gesellschaft, die sich in ihrer Grundstruktur von traditionsbestimmten zu frei wählbaren Kollektivitäten gewandelt hat.

Der Blick auf solche Individualisierungsprozesse richtet sich vor allem auf Veränderungen von Paar- und Liebesbeziehungen. Die Befunde sind bekannt: Paarbeziehungen haben eine immer kürzere Haltbarkeit, die Trennungs- und Scheidungsrate nimmt dramatisch zu, die Zahl der Kinder ab. Die Freiheit der Individualisierung ist maßgeblich eine Freiheit, sich den Partner selbst zu wählen - und sich von ihm zu trennen. Früher bildete sich ein Paar gemäß vorgegebenen Rollen. Heute, so behaupten die Individualisierungstheoretiker, sind diese Rollenzwänge weggefallen. Jedes Paar erfindet seine eigene Individualität.

Solchen Vorstellungen von Freiheitsgewinn stellt Hondrich eine soziologische Skepsis entgegen, die hinter jeder neuen Wahlmöglichkeit eine Verschiebung oder auch Verdrängung von Zwängen vermutet. Jede Wahlfreiheit eines Individuums bedeutet nach Hondrich auch Ausübung eines Zwangs auf ein anderes, das von dieser Wahl betroffen ist. Hat der eine Teil des Paars die Freiheit, sich zu trennen, so übt er damit auf den anderen Teil den Druck aus, dies zu akzeptieren.

In der Freiheit, sich zu trennen und neue Bindungen einzugehen, sieht Hondrich weitere normierende Zwänge wirksam werden. Menschen, die sich aus einer Paarbeziehung gelöst haben, so seine Beobachtung, wenden sich oft verstärkt ihrer Herkunftsfamilie, also den Eltern und Geschwistern zu und suchen in ihr Rückhalt. Vor allem aber sieht er die neuen Freiheiten an eine Liebes- und Ehenorm rückgebunden, die die Vorstellungen von Paarbeziehungen seit über 200 Jahren prägt, und zwar auf oft zwanghafte und destruktive Weise.

"Bis ins 18. Jahrhundert war die Heirat aus Liebe ein Skandal. Heute ist sie ein Gebot". Hondrich wird nicht müde, dieses Gebot in Frage zu stellen. "Welch' eine Torheit der Moderne, dauerhafte Bindung auf das stürmischste und windigste Gefühl gründen zu wollen! Aber niemand kann das ändern [...]. Je mehr wir nach lebenslanger - also immer längerer - Liebe und Leidenschaft verlangen, je mehr wir unsere Ansprüche an Harmonie steigern, desto sicherer sind Scheitern und Scheidung vorprogrammiert." Die moderne Ehe, auf romantischen Vorstellungen gegründet, destruiert sich nach Hondrich durch ihre zu hohen Ansprüche. "Nicht das Vergehen der romantischen Liebe macht dem Paar den Garaus, sondern nur das Festhalten an der Erwartung, dass sie nie vergehe."

Die Positionen, die Hondrich vertritt, sind nicht immer ganz klar. Verteidigt er einerseits die Anarchie der Emotionen gegenüber denen, die sie rationalistisch ignorieren oder missachten, so hält er sie andererseits selbst als Basis für langfristige soziale Bindungen ungeeignet. Eine Rückkehr zu vormodernen Formen der Paarbindungen, über die noch von den Eltern und aus Vernunftgründen entschieden wurde, scheint ihm durchaus begrüßenswert. Wenn er schreibt: "Nichts ist an die Stelle des diskreditierten Patriarchats getreten", die Ehe müsse heute "ohne innere oder äußere Entscheidungsinstanzen" auskommen, klingt ein Ton des Bedauerns durch.

Über die Realität der Paar- und Familienbande macht sich Hondrich allerdings keine Illusionen. Ähnlich wie in der Literatur Franz Kafka oder später Ingeborg Bachmann den Kriegszustand in privaten Beziehungsdramen gleichsam als Pendant zu militärisch geführten Kämpfen veranschaulicht haben, schildert Hondrich das Elend vieler Beziehungen als Horrorszenario: "was den hochzivilisierten Gesellschaften an militärischen und Bürgerkriegen - vielleicht - erspart bleibt, zahlen sich ihre Bürger als Männer und Frauen in Ehekriegen heim. In kleiner Münze, könnte man sagen - aber nicht weniger vernichtend. Ein großer Teil aller Gewalt entsteht aus Liebe und Enttäuschung. Wie Völker, die nicht mehr zusammen leben wollen, ihre Beziehungen blutig lösen, so lösen sich auch Eheleute oft mit größten gegenseitigen Verletzungen voneinander."

Die Institution der Ehe und Familie stellt Hondrich damit jedoch nicht in Frage. Im Gegenteil. Er argumentiert vorsichtig. Aber je weiter man in dem Buch liest, umso deutlicher bezieht er Position. "Wenn ein individueller Schritt in die Freiheit zugleich zwei Unfreiheiten hervorbringt, dann ist die Vorstellung eines Fortschreitens der modernen Gesellschaft zur Individualisierung als Befreiung im Ansatz verfehlt. Der Weg in die Freiheit ist immer auf einer in Unfreiheit, Unsicherheit, Ungeborgenheit." Anders als viele Kritiker der Familie in der Literatur und kulturkritischen Publizistik malt er nicht die Pathologien familiärer Beziehungen aus, auch wenn er sie kennt, sondern die Kosten der Trennung aus ihnen. Neuauflagen eines Liebes- und Eheromantikprogramms mit neuem Partner opfere nur eine Geborgenheit, die kaum zu ersetzen sei, und unterliege am Ende doch den Gesetzen der Verwandlung von romantischer in familiärer Liebe. Das mündet in den Appell: "Macht endlich Schluss mit der unglücklichen Weitergabe von Trennung und Verlassenwerden an Eure Kinder, macht es besser als Eure Eltern, arrangiert Euch, lasst ab von Eurem Paar-Perfektionismus." Der propagierte Weg des Heils besteht in der "Rücknahme überzogener Ansprüche" und in der "Entschiedenheit zur Partnerschaft". Und eine Partnerschaft mit mindesten zwei Kindern sollte es schon sein. Denn es existiere ein moralisches Grundgesetz, wonach jeder das Leben, das er erhalten habe, möglichst an andere weitergeben müsse.

Was immer man von den Thesen Hondrichs halten mag: Die zuerst in Zeitungen und Zeitschriften erschienen Essays sind vorzüglich geschrieben. Es gibt unter ihnen Glanzstücke der Formulierungskunst. Hondrich wäre ein würdiger Kandidat für den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Und ganz nebenbei formuliert er Bedenkenswertes darüber, wie sich wissenschaftliche Thesen etablieren. Sie werden, so Hondrich, nicht verworfen, "weil sie empirisch widerlegt oder methodologisch anfechtbar sind. Sie gelten, solange sie einem kollektiven Lebensgefühl entsprechen." Und keine These passe zum heutigen "Zeitgeist" besser als die Individualisierungsthese. Da bleibt zu fragen, ob sich dieser Zeitgeist nicht inzwischen in eine Richtung verändert hat, zu der Hondrichs Thesen viel besser passen.

Titelbild

Karl Otto Hondrich: Liebe in den Zeiten der Weltgesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
176 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3518123130

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