Schlagfluss, Schwindsucht und Ennui

Krankheit aus Patientensicht in der Frühen Neuzeit

Von Ines HeiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Heiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die aktuelle Forschungsdiskussion zum Thema "Krankheit" umfasst nahezu alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen: Philologien und Literaturwissenschaften ebenso wie Anthropologie, Soziologie und die verschiedenen Zweige der historischen Wissenschaften. Fragestellungen und Arbeitsweisen sind dabei durchaus unterschiedlich, gleiches gilt für die Qualität der Ergebnisse und den Zuwachs an Erkenntnissen, die jeweils erzielt werden. Die hauptsächliche Schwierigkeit scheint dabei - besonders im deutschen Sprachraum - darin zu bestehen, dass ein Austausch zwischen den einzelnen Fächern nur punktuell, oft zeitlich stark verzögert stattfindet und dass neue theoretische Zugänge wenig - meist gleichfalls verspätet - zur Kenntnis genommen werden.

Dass dies auch anders möglich ist, zeigt Michael Stolberg in seiner Studie "Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrungen in der Frühen Neuzeit". Geradezu beispielhaft führt er vor, wie effektiv interdisziplinäres Arbeiten sein kann und wie erfolgreich neuere kulturwissenschaftliche Theorien - etwa das Verständnis von Krankheit als semantischem Netzwerk - bei der Analyse historischer Quellen eingesetzt werden können. Stolberg folgt dabei in seinem Ansatz der Forderung Roy Porters, Krankheits- und Medizingeschichte "von unten", also nicht aus Sicht der behandelnden Mediziner, sondern aus der der direkt betroffenen, nicht schulmedizinisch ausgebildeten Kranken zu schreiben. Als Quellen legt er seiner Untersuchung hauptsächlich die Gattung der 'Patientenbriefe' zugrunde, eine Textsorte, die ihre Entstehung der in der Frühen Neuzeit verbreiteten Praxis verdankt, bei medizinischen Koryphäen brieflich um ärztlichen Rat nachzufragen. Stolberg hat neben drei großen Sammlungen mit mehr als 2.000 Briefen (an den kurfürstlichen Leibarzt Thurneisser in Wien, an die medizinische Fakultät in Paris und an den berühmten Lausanner Arzt Auguste Tissot), die detailliert gesichtet wurden, in Auszügen die umfangreiche Korrespondenz Samuel Hahnemanns - des Begründers der Homöopathie - aus dem 19. Jahrhundert herangezogen, dazu verschiedene kleinere deutschsprachige Sammlungen (an Daniel Horst in Frankfurt, an Sebastian Schobinger in St. Gallen, an Albrecht von Haller in Bern). Der untersuchte Zeitraum umfasst damit das ausgehende 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts; geografische Schwerpunkte bilden Frankreich und das deutsche Sprachgebiet, auch englische Briefe werden zu Vergleichszwecken eingebunden.

Der Vorteil dieser geschickt gewählten Quellengrundlage liegt auf der Hand: In den Patientenbriefen kommen die Kranken selbst zu Wort, sie schildern aus eigener Sicht Krankheitsverlauf und -ursachen; sie beschreiben ebenso, welche Behandlungsschritte sie bereits durchlaufen haben oder welche weiteren Maßnahmen sie für sinnvoll erachten würden. Da nur in einer Minderzahl der Fälle zusätzlich zu der brieflichen Konsultation auch ein direkter, persönlicher Kontakt zwischen Arzt und Patienten stattfand - und ein solcher meist auch nicht erwartet wurde -, waren die Kranken bestrebt, ihre Beschwerden möglichst genau darzulegen, um so eine gute Behandlungsgrundlage zu schaffen. Viele der Briefe sind entsprechend sehr umfangreich und schildern mehrjährige Krankheitsgeschichten. Auf Basis dieser Schreiben ist daher ein Rückgriff nicht nur auf das individuelle Erleben punktueller, zeitlich begrenzter und krisenhafter Krankheitsphasen möglich, es kann vielmehr auch weiter auf ein allgemeines Verständnis und Empfinden von Körperlichkeit geschlossen werden.

Mit den Grenzen, die die Patientenbriefe als Quelle für die Krankheits- und Körpererfahrungen der Menschen der Frühen Neuzeit aufweisen, setzt sich Stolberg in einer fundierten Quellenkritik gleichfalls auseinander: Erfasst wird zum einen nur ein Ausschnitt des sozialen Spektrums: das gehobene und mittlere Bürgertum, sowie der - meist niedere - Adel. Dies liegt unter anderem daran, dass ein gewisses Maß an Bildung notwendig war, um überhaupt solche Briefe verfassen zu können, selbst wenn man sich dafür möglicherweise eines anderen Schreibers bedienen konnte; dazu kamen die nicht unerheblichen Kosten, die mit der Konsultation einer medizinischen Koryphäe sowie mit anschließend notwendigen Medikamentenkäufen und Kuren einhergingen. Auch wird im Rückgriff auf die Patientenbriefe nicht das gesamte Feld möglicher Therapien und Behandlungen ausgeschöpft: In den Briefen wenden sich die Kranken an akademisch gebildete Mediziner und erwarten entsprechende Ratschläge; der gesamte Bereich alternativer Heilmethoden (Wunderheiler, Universalmedikamente, Selbstbehandlung z. B. durch Hausmittel etc.) wird weitgehend ausgespart oder lediglich am Rande in Zusammenhang mit fehlgeschlagenen Therapieversuchen erwähnt.

Stolbergs Erkenntnisse beziehen sich also auf eine relativ klar zu definierende soziale Gruppe und auf das ebenfalls recht deutlich abgegrenzte Feld "wissenschaftlicher" Medizinpraxis (obwohl hier die Übergänge zu anderen Behandlungsmethoden manchmal fließend sind). Diesen Untersuchungsgegenstand erschließen sie allerdings umfassend: Behandelt werden das Arzt-Patienten-Verhältnis im Allgemeinen, die Wertschätzung von Gesundheit, die Konstruktion von Sinn in einem persönlichen Krankheitsprozess, die Popularisierung medizinischen Wissens, häufig auftretende Krankheiten wie Schlagfluss, Gicht, Rotlauf, Scharbock, Pest, Englischer Schweiß, Schwindsucht mit den dazugehörigen Therapien und vieles mehr.

Die Untersuchungsergebnisse sind dabei oft überraschend: Gerade in der historischen Andersartigkeit vieler Krankheitsdeutungen und Symptome wird deutlich, wie sehr selbst ein Phänomen wie Krankheit, das auf den ersten Blick wie ein durch natürliche Umstände fest vorgegebenes Faktum wirkt, kulturell vermittelt ist und sich durch die Zeiten verändert. Versteht man heute etwa Krankheiten in erster Linie als Dysfunktion des Körpers oder bestimmter Körperteile, so war Krankheit in der Frühen Neuzeit eher etwas Eigenständiges, Körperfremdes: Krankheitsstoffe wie Schärfen oder Miasmen und Kontagien befielen den Körper und verursachten so entsprechende Symptome, bei Entfernung dieser Fremdstoffe setzte die sofortige Gesundung ein. Werden heute einzelne Krankheiten vor allem über spezielle Symptome definiert, so gab es in der Frühen Neuzeit gerade bei leichteren Erkrankungen eher das Verständnis einer allgemeinen Krankheit, die durch den Körper wandern und sich auf verschiedene Art äußern konnte: Stockungen, Schärfen oder Ablagerungen konnten zunächst Bauchschmerzen verursachen, dann ins Gesicht wandern und dort einen Ausschlag auslösen und schließlich als Wassereinlagerungen in den Beinen enden. Selbst das Verständnis der allgemeinen Anatomie des Körpers wich von den heutigen Vorstellungen in vieler Hinsicht ab: So existierte beispielsweise das Konzept eines Raumes zwischen Haut und Körper, in dem bestimmte Stoffe zirkulierten; auch ging man davon aus, dass Nahrung über Magen und Leber unmittelbar in Blut verwandelt werde, welches möglichst störungsfrei direkt in die Extremitäten strömen sollte, wo es "verbraucht" wurde.

Stolbergs Untersuchung beweist also - und dies auf gut lesbare, unterhaltsame und informative Art und Weise -, dass auf dem Gebiet der Medizingeschichte bzw. der medizinischen Anthropologie noch viele nicht erschlossene Bereiche existieren, die interessante weiterführende Fragestellungen versprechen. Sie belegt gleichfalls, dass die Beschäftigung mit diesem Forschungsgegenstand auch für die angrenzenden Wissenschaften ein Desiderat darstellt, indem sie aufzeigt, wie sehr der naive "erste Blick" auf historische Quellen oder literarische Texte täuschen kann: Krankheit ist eben nicht gleich Krankheit, sondern stets das Produkt immer neuer kultureller Vereinbarungen. Gerade unter dieser kulturwissenschaftlichen Perspektive ist eine weitere Auseinandersetzung mit dieser Thematik mehr als wünschenswert, sofern ein methodisch und theoretisch so fundierter Zugang wie der Stolbergs gewählt wird: Ob in Tagebüchern, Romanen oder Patientenbriefen - wir als Patienten treffen nicht nur Aussagen über unsere Krankheiten, diese Aussagen geben auch in nicht geringem Ausmaß Auskunft darüber, wer wir sind und wie der kulturelle Kontext aussieht, in dem wir uns bewegen.

Titelbild

Michael Stolberg: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit.
Böhlau Verlag, Köln 2003.
303 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3412162027

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