Avantgardistische Terroristen und Bombenleger

Heinz Ludwig Arnolds Sammelband "Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden" beleuchtet das Verhältnis von Avantgarde und Totalitarismus

Von Timo KozlowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timo Kozlowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Begriff "Avantgarde" hat heute seine militärische Bedeutung weitgehend verloren. Kühne Recken, die sich heldenmutig noch vor die erste Schlachtreihe stellen und in vorderster Linie kämpfen, werden im 'Kampf gegen den Terrorismus' nicht mehr gebraucht. Spricht man heute über Avantgarden, dann ist meist eine künstlerische Grundüberzeugung gemeint, derzufolge man als Allererster der Kunst neue ästhetische Räume eröffnet. Der "Aufbruch ins 20. Jahrhundert" ist der literatur- und kunsthistorische Umschlagspunkt, an dem sich der Begriff Avantgarde zum heute gebräuchlichen wandelte. Der von Heinz Ludwig Arnold herausgegebene Sonderband, der diesen Aufbruch im Titel führt, versammelt 27 Beiträge, die die künstlerische Avantgarde um die Jahrhundertwende in ihrer Vielfalt darstellen wollen.

Gegliedert ist der Sammelband in drei Teile. Der erste Teil, "Kriegsschauplatz Öffentlichkeit", stellt Avantgarde-Bewegungen in den Bereichen Literatur, Kunst, Gesellschaft, Film, Theater und Textildesign zwischen 1890 und 1945 dar. Teil zwei, "Lektüren", umfasst eine Reihe Textanalysen, größtenteils von Lyrik, beispielsweise aus Gottfried Benns Gedichtband "Morgue" (1912) oder Kurt Schwitters' "AN ANNA BLUME. Merzgedicht 1". Teil drei, "Arrièregarde", untersucht die Auswirkungen der Avantgarden auf die Kunst des späteren 20. Jahrhunderts.

Den normbrechenden Willen der Avantgarden stellen die Autoren des ersten Teils unisono dar. Gerhard Plumpe, der in einer Art Präludium verschiedene Notizen zum 'historischen Ort' der Avantgarde-Programme vorschiebt, führt daneben auch das zweite Thema ein, das wie ein Leitmotiv in den folgenden Beiträgen wieder aufscheint - die von den Avantgarde-Vertretern teilweise ganz bewusst eingesetzte (und teilweise auch kritisch zu sehende) Nähe zum militärischen Ursprung des Wortes Avantgarde, denn Avantgarde-Kunst hat sich, und das liest man schon im ersten Beitrag dieses Sammelbandes, mit den beiden großen totalitären Strömungen des 20. Jahrhunderts, dem Faschismus und dem Kommunismus, verbündet bzw. wenigstens versucht, sich mit ihm zu verbünden. Der italienische Futurismus ist hier das deutlichste Beispiel.

Die Avantgarde-Künstler waren sich des militärischen Charakters ihrer Kunstauffassung durchaus bewusst, galt es doch, gegen einen scheinbar übermächtigen Feind anzutreten: das Bürgertum. Pazifistische Weltanschauungen einzelner Kunstrichtungen werden dabei auf der Ebene der Handlung vernachlässigt. Aber der Kriegsschauplatz ist nicht das traditionelle Schlachtfeld; die Avantgarden führten ihren Kampf an einem vorher unbekannten Ort, der erst mit dem Beginn des Zeitalters der Massenmedien entstand: die Avantgarde-Künstler kämpften auf dem "Kriegsschauplatz Öffentlichkeit". Öffentlichkeit, so resümiert Uwe Lindemann in seinem Beitrag "Kriegsschauplatz Öffentlichkeit. Die Sturmtrupps, Partisanen und Terroristen der künstlerischen Avantgarde", werde nicht mehr als diffuse, unkontrollierbare Instanz gesehen, der sich der Künstler zu unterwerfen habe, sondern sie "wird als formbar, manipulierbar und damit als Teil des gesamtkünstlerischen Projekts angesehen". Dies sei eine "grundlegende Neubestimmung des Verhältnisses von Kunst und Öffentlichkeit".

Um die öffentliche Meinung zu manipulieren gibt es mehrere Strategien. Die effektivste ist das künstliche Erzeugen von Skandalen und die massenmediale Ausschlachtung des juristischen Nachspiels um Verbote und Zensur. Der Konstanzer Literaturwissenschaftler Ingo Stöckmann stellt den juristischen Diskurs in seinem Beitrag dar.

Walter Fähnders beschäftigt sich mit dem Verhältnis von ästhetischer und politischer Avantgarde (hier dem Faschismus und dem Kommunismus), die beide einen universalistischen und auf Totalität abzielenden Anspruch haben, wenn auch auf unterschiedlichen Gebieten. Daraus ergebe sich dann ein Missverhältnis, weil die politische Macht sich bei der politischen Avantgarde ansammle und sich die ästhetische Avantgarde über kurz oder lang dieser Tatsache habe unterwerfen müssen.

Die Geschwindigkeit stellt Hanno Ehrlicher in den Mittelpunkt seines Beitrags. Avantgarde erscheint bei ihm als "Fluchtbewegung" hin zu einem kulturellen Neubeginn, die entweder als absolute Beschleunigung - Marinetti hatte das erste futuristische Manifest in verschiedenen Ländern nahezu zeitgleich veröffentlichen lassen - oder wie bei Hugo Ball als absoluter Stillstand erscheinen könne.

Winfried Mogge beschreibt das Verhältnis der Jugendbewegungen, zum Beispiel des 'Wandervogels', zu Avantgarde und Reaktion, wobei eine Zuordnung am Ende ausbleibt.

Theater ist das Thema der Beiträge von Katharina Keim und Evelyn Deutsch-Schreiner. Katharina Keim nähert sich dem Thema allgemein und präsentiert verschiedene Reformansätze, von verschiedenen Neuentwicklungen der Bühnenform, über den ästhetisch-dramatischen Gebrauch des Körpers auf der Bühne bei Oskar Kokoschka, bis zu den politischen Bühnenkonzepten beispielsweise am Bauhaus oder bei Erwin Piscator. Evelyn Deutsch-Schreiner konzentriert sich auf die Wiener Theater-Avantgarde.

Norbert M. Schmitz beleuchtet die Suche der Film-Avantgarde nach dem totalen Film, der jegliche Erzählkunst hinter sich lässt und pure Abstraktion ist. Dabei spannt er den Bogen von Man Rays Filmexperimenten hin zu Leni Riefenstahls "Triumph des Willens", der ebenfalls in der Formsprache ein deutlich avantgardistischer Film sei.

Druckerzeugnisse sind das Thema der Beiträge von Stephan Füssel und Ute Schneider. Füssel beschreibt die Verlage der Avantgarde, Schneider die avantgardistischen Zeitschriften. Klaus Stadtmüller stellt Hannover als Ort der Avantgarde vor. Die zentrale Figur dabei ist natürlich der Hannoveraner Kurt Schwitters. Annette Hülsenbeck und Ortrun Niethammer stellen avantgardistische Schneiderkunst dar.

Im zweiten Teil des Sammelbandes, "Lektüren", sind kurze Kommentare zu Texten von Hugo Ball (Ausschnitt aus "Tenderenda der Phantast"), Gottfried Benn ("Kleine Aster", "Schöne Jugend", "Kreislauf", "Negerbraut" und "Requiem"), Kurt Schwitters ("AN ANNA BLUME"), Friedrich Glauser (Ausschnitt aus "Dada und andere Erinnerungen"), Else Lasker-Schüler ("Mein blaues Klavier") und Carl Einstein (Ausschnitt aus "Die Fabrikation der Fiktionen").

"Arrièregarde", so der Titel des dritten Teils, umfasst zwei Beiträge, die sich mit dem Erbe der Avantgarde nach dem Totalitarismus beschäftigen. Boris Groys stellt das Erbe des Sozialistischen Realismus in der Zeit nach der Sowjetunion dar. Groys definiert den Sozialistischen Realismus anders als Kunstkritiker im ('kapitalistischen') Westen nicht als einen Stil, also eine zunächst nur äußerliche, neue Erscheinungsform im System Kunst. Für Groys ist der Sozialistische Realismus ein völlig anderes Kunstverständnis, das sich von dem im ('kapitalistischen') Westen in einem Punkt radikal unterscheidet. Während sich der Modernismus im Westen durch eine Aufteilung auf der Achse hoch/niedrig definierte (also Kunst gegen Kommerz), so war die sowjetische Kunst in der UdSSR sozusagen geografisch aufgeteilt: 'befreite' Kunst in den sozialistischen Ländern gegen die Kunst im Kapitalismus, die noch unter den Zwängen des Marktes produziert wird. Demnach ist die Form im Sozialistischen Realismus weniger gattungsbestimmend als die Frage, wie propagandafähig ein Kunstwerk ist. Diese Beziehung der sowjetischem Kunst zu einem Vergleichspunkt außerhalb sieht Groys dabei als eine Konstante innerhalb der gesamten russischen Kunst. Ihre Zukunft wird in erster Linie davon bestimmt, ob die westlichen Museen und Kulturinstitutionen die post-sowjetische Kunst in ihren Formenkanon aufnehmen (oder gar assimilieren) können oder nicht.

Die Fortführung der Avantgarde im Deutschland des Wiederaufbaus ist das Thema von Hans Dieter Schäfers Beitrag. Sein Aufsatz umfasst zwei Teile. Der erste Teil ist ein kulturkritischer Rundumschlag gegen die Verflachung der Kultur unter dem Einfluss der Massenmedien, vor allem der Werbung. Im zweiten Teil werden dann die wenigen Künstler, die nicht nur Oberflächliches produzierten, im umso glänzenderen Licht dargestellt. Arno Schmidt, der sich in den letzten Lebensjahren in seinem Arbeitszimmer abschottete und selbst mit seiner Frau nur per Gegensprechanlage kommunizierte; Uwe Johnson, der sich auf der Flucht vor Schreibhemmung in ein südenglisches Nest verkroch; vor allem aber Paul Celan, der in den letzten Lebensjahren von Wahnvorstellungen heimgesucht wurde und einmal seine Frau erstechen wollte, zählen zu diesen Lichtgestalten.

Das Verhältnis der Avantgarden zu totalitären Systemen ist das Thema, das sich durch fast alle Beiträge direkt oder indirekt zieht. Während eine Richtung innerhalb der Avantgarde sich totalitären politischen Systemen anschloss (die Futuristen an den italienischen Faschismus und die russische Avantgarde an den Kommunismus), verweigerten sich andere Richtungen konsequent jeglicher Politisierung. Im Kern aber, und das kann man als Fazit aus Heinz Ludwig Arnolds Sammelband ziehen, waren die ästhetischen Avantgarden in ihrer Weltanschauung ebenso totalitär wie Faschismus und Kommunismus. Platz für Anderes gab es in ihrer Weltanschauung nicht.

Titelbild

Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden. Sonderband Text + Kritik IX/01.
edition text & kritik, München 2001.
312 Seiten, 25,10 EUR.
ISBN-10: 3883776858

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