"Geisterbahn der Erinnerung"

Friedrich Christian Delius' jüngstes Werk ist politisch hochbrisant

Von Christina LangnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Langner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Nikolaustag im Berlin des Jahres 1968. Ein junger Student beschließt die Ermordung von Hans-Joachim Rehse. Mit dieser inhaltlich gewaltigen, sprachlich jedoch schlicht gestalteten Szenerie präsentiert sich Delius in seinem aktuellen Werk erneut als Schriftsteller, der dem Leser mit bemerkenswertem Enthusiasmus zeitgeschichtliche Ereignisse in Erinnerung ruft, die ungeachtet ihres außerordentlichen Empörungscharakters in Vergessenheit zu geraten drohen.

Im September letzten Jahres hat Delius seinen Roman überaus treffend als "Geisterbahn der Erinnerung" vorgestellt. Auf dieser Erinnerungsfahrt durchleuchtet der Autor die Beweggründe der 68er-Generation auf bestechende, fesselnde, in erster Linie aber verstörende Weise.

Weiß doch heute kaum noch jemand, welch erschreckenden Ereignisse sich hinter dem Namen Hans-Joachim Rehse verbergen. Delius aber kennt dessen Lebensgeschichte und die damit tragisch verbundenen Schicksale. Der Schriftsteller protestierte selbst gemeinsam mit anderen Berliner Studenten im Dezember 1968 gegen Rehse, nachdem dieser kurz zuvor vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen worden war. Unbegreiflich! Denn der ehemalige Nazi-Richter hatte im Dritten Reich über 230 Todesurteile mit zu verantworten.

Delius' Held in "Mein Jahr als Mörder" erfährt von diesem Freispruch aus dem Radio. Er reagiert zunächst fassungslos und sucht sodann nach einer Möglichkeit, ein eindringliches Zeichen des Protestes zu setzen. Als einzigen Ausweg sieht er schließlich die Ermordung des für so viele Morde verantwortlichen Richters.

Der für sein politisches Wirken innerhalb der Literatur bekannte Autor geht auch in diesem Werk von einem dokumentarischen Stoff aus und ergänzt diesen mit Erdachtem, um auf diese Weise die historischen Fakten zu durchdringen und zu erhellen. Er verleiht ihnen dichterische Tiefe und wirkt zugleich dem Vergessen entgegen. Er bewältigt dies auf beeindruckende Weise, dass die Grenzlinien zwischen Dichtung und Wahrheit für den Leser nur noch schemenhaft zu erkennen sind.

Der dokumentarische Part des Romans ist sowohl aus den Ergebnissen aufwändig-intensiver Nachforschungen als auch aus Selbsterlebtem heraus entstanden. Überdies weist dieser Teil noch tiefgreifendere authentische Elemente auf, die partiell auch Delius Autobiografie berühren: Georg Groscurth ist eines der Opfer Rehses und der Vater des besten Freundes des fiktiven Ich-Erzählers in Delius' Roman. Der Autor selbst ist gemeinsam mit den beiden Söhnen des ermordeten Georg Groscurth im hessischen Wehrda aufgewachsen. Durch sie hatte der Autor vom erschütternden Schicksal des Widerstandskämpfers erfahren, das Delius nunmehr zu Thema dieses großartigen Romans gemacht hat. Rehses Opfer war unter anderem Leibarzt von Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess gewesen. Zugleich war er Nazi-Gegner. Er hatte Juden versteckt, zahlreichen jungen Männern Wehruntauglichkeit attestiert, um sie vor dem Eingezogenwerden zu schützen und Informationen - die ihm der mitteilsame Hess freimütig anvertraut hatte - an die heute kaum mehr bekannte Widerstandsgruppe Europäische Union um Robert Havemann weitergegeben. Die Gruppe wurde 1943 verraten, Georg Groscurth für seine "Vergehen" zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Friedrich Christian Delius ist einer der wenigen deutschen Gegenwartsschriftsteller, die sich in ihrem Werk derartig eindringlich mit den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auseinander setzen. "Mein Jahr als Mörder" reiht sich daher in diese Konstante im literarischen Schaffen Delius' ein.

Rückblickend lässt der Ich-Erzähler den Leser teilhaben an seinem Jahr als Mörder, vor allem an der Entwicklung und Planung der Tat. Seine Nachforschungen dienen der Vorbereitung des Mordes sowie dem dokumentarischen Buch, das Motiv, Planung und Durchführung der Tat nachzeichnen soll.

Im Zuge der Ermittlungen des Studenten wächst die Bereitschaft zur Umsetzung seines Vorhabens immer mehr. Während seiner Besuche bei Anneliese Groscurth, der Witwe des Ermordeten, erfährt der Student von ihrem zermürbenden Kampf, die Würde ihres Mannes nach dessen Tod zu bewahren. Aufgrund ihrer Unterschrift gegen die Wiederbewaffnung wurden ihr von der Westberliner Justiz die Witwen- und sogar die Waisenrente ihrer Kinder abgesprochen, überdies verlor sie ihren Job als Amtsärztin und wurde als "kommunistische Hexe" und Ehefrau des "Verräters" Groscurth beschimpft. Erst nach Ende des Kalten Krieges wurde Anneliese Groscurth rehabilitiert. Friedrich C. Delius setzt ihr und ihrem Mann ein spätes, gleichwohl würdiges Denkmal.

Delius' Roman ist ergreifend, von beträchtlichem Umfang und dennoch schnell gelesen. Der Inhalt selbst, vor allem aber die kunstfertige Verflechtung von Fiktion und Wirklichkeit bannt den Leser von der ersten bis zur letzten Seite und wird ihn auch darüber hinaus nicht loslassen. Der Autor hat seine genau recherchierten Fakten in einem bewegenden und sprachlich brillanten Roman verarbeitet und erinnert zugleich an ein Stück vergessene Zeitgeschichte.

2004 wurde Delius mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis ausgezeichnet, unter anderem für sein tief empfundenes gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein, von dem sein Werk getragen wird. "Mein Jahr als Mörder" bestätigt die Auszeichnung auf nachdrückliche Weise.

Titelbild

Friedrich Christian Delius: Mein Jahr als Mörder. Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2004.
303 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3871344583

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