Sehnsucht nach Heimat

Jo Jang-Rae's Roman über Entwurzelung und Heimatlosigkeit

Von Stefan FüllemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Füllemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Korea nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die japanische Besatzung bricht im August 1945 im Zuge der Kapitulation zusammen, die Schreckensherrschaft des repressiven Systems mit dem Ziel der "Japanisierung" Koreas endet. Der Norden Koreas fällt nach den Beschlüssen von Jalta unter russische, der Süden unter amerikanische Obhut.

Kriegsende, Freiheit, ein Ende der Gewalt. Nährboden der Hoffnung. Doch damals leider vergebens. Im Süden Koreas erkennt die Bevölkerung schnell, dass die traditionellen Strukturen von Grundbesitz und Lehnsherrschaft weiterhin bestehen bleiben. Hoffnung weicht der Wut, Wünsche nach Veränderungen und Umsturz erhalten Nahrung. Aus Gedankengut wird Tatendrang, als am 25. Juni 1950 nordkoreanische Verbände die Demarkationslinie am 38. Breitengrad überschreiten. Die "einfachen" Bevölkerungsgruppen nutzen die Gelegenheit und initiieren einen Aufstand gegen die herrschende Bevölkerungsschicht. Die Offensive, die erst im äußersten Südosten Koreas endet, wird durch eine Gegenoffensive zurückgeschlagen. Auf die Gegenoffensive folgt wiederum eine nordkoreanische Gegenoffensive. Es endet, wie es anfing. Die Grenze in Höhe des 38. Breitengrades bleibt bestehen. Der Tod tausender Menschen, die Trennung zahlreicher Familien hat unveränderte, jetzt gar unüberwindbare, Grenzen zum Ergebnis.

In dieser Zeit spielt der Kurzroman von Jo Jong-Rae. Cheon Manseok, die Hauptfigur, arbeitet als Pachtbauer unter der Knute des Choi-Clans. Er nutzt die Gunst der Stunde beim Einmarsch der Nordkoreaner und kämpft für tief greifende gesellschaftliche Veränderungen. Er wird Vizevorsitzender des kommunistischen Volkskomitees und vertritt dessen Ideale vehement und gegen jedermann. Als ihn seine erste Frau mit dem Kommandanten der Volksarmee betrügt, ermordet er beide und muss fliehen. Fliehen vor seinen ehemaligen Weggefährten. Aus Freunden werden Feinde. Sie ermorden seine Eltern und seinen dreijährigen Sohn. Manseok wird verbannt und kann nicht mehr nach Hause zurückkehren. Aus dem Pachtbauern wird ein vagabundierender Tagelöhner, der sich sein Geld auf Baustellen im ganzen Land verdient. Baustellen in der Nähe seiner früheren Heimat meidet er aus Angst, wieder erkannt zu werden. Die Baustellen führen nur vorübergehend zum Gefühl der Sesshaftigkeit. Nach Abschluss der Arbeiten zerstreuen sich die Arbeiter in alle Himmelsrichtungen, und aus der Konstante der Sesshaftigkeit wird aufs Neue eine Variable.

Über 30 Jahre lang ist Manseok als Vagabund unterwegs, von Baustelle zu Baustelle. In ihm steigt der Wunsch nach Familie und einem Haus, quasi einer neuen Heimat auf. Er verwirklicht diesen Traum mit seiner um mehrere Jahre jüngeren zweiten Ehefrau. Nach Geburt des Sohnes jedoch verlässt sie ihn. Manseok macht sich mit dem Sohn auf die Suche, um sich an ihr und ihrem neuen Mann zu rächen. Wieder befindet er sich auf Wanderschaft. Hunger, Kälte und zunehmende Schwächung zwingen ihn aber, nach eineinhalb Jahren der Wanderschaft seinen Sohn in einem Kinderheim abzugeben. Sein erstes Kind durch die Volksarmee getötet, das zweite notgedrungen in fremde Obhut gegeben. Manseok ist erneut alleine und wieder als Vagabund unterwegs. Immer wieder plagen ihn Gedanken über die Ungerechtigkeit und das Schicksal auf Erden: Warum wird der eine als Knecht und der andere als Adliger geboren?

Als er merkt, dass sich sein Leben dem Ende nähert, zieht es ihn in Richtung Heimat. In das Land, aus dem er verbannt wurde. Doch die Welt ist größer geworden und die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen. In seiner früheren Heimat kennt ihn niemand mehr und es gibt keine Verbindung mehr zu dieser Gegend. Er verliert die letzte Lebenskraft, stirbt in seiner Heimat und bleibt doch ein Verbannter. Hat er mit sich, seinem Schicksal und seiner rastlosen Vergangenheit in den letzten Stunden Frieden schließen können? Vielleicht ja, wenn er sich die Auffassung seines Vaters, "der Mensch muss sich dem Schicksal fügen", zu eigen gemacht hätte.

Der Kerngedanke des Autors, "Ein Baum kann keine Blätter und Blüten tragen, wenn seine Wurzeln nicht tief in der Erde ruhen", zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Roman. Verzweiflung, Armut, Kälte, Hunger und Traurigkeit begleiten den Leser bei der Lektüre dieses lesenswerten Bandes. Und wie sich der Nebel in der Heimat Manseoks am Ende des Tages langsam und friedlich wie ein Schleier über den Fluss und das Schilf legt, so legt sich eine Hilflosigkeit und Leere um die Gedanken des Lesers, wenn er erkennt, dass dieses Schicksal nicht nur Geschichte, sondern leider auch Gegenwart ist ...

Titelbild

Jo Jong-Rae: Land der Verbannung. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee und Martin Herbst.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2004.
95 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3929181576

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