Krebs und andere Krankheiten als Metapher

Zum Kampf der „Moralistin“ Susan Sontag gegen den Moralismus von Krankheitsbildern

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 28. Dezember 2004 starb die amerikanische Publizistin, Essayistin, Romanautorin und Intellektuelle Susan Sontag im Alter von 71 Jahren an ihrer zweiten Krebserkrankung. Ihre erste lag etwa dreißig Jahre zurück und war Anlass eines ihrer wichtigsten Bücher: „Krankheit als Metapher“. Ein zweites Buch zu dem Thema erschien 1988, gut zehn Jahre später: „Aids und seine Metaphern“, verfasst, wie dem Buch vorausgeschickt wird, als „Gedanken beim Wiederlesen von Krankheit als Metapher“. Mit einiger Genugtuung registrierte Susan Sontag hier einen kollektiven Wandel der Einstellung und der öffentlichen Rede im Umgang mit Krebs: Das Wort werde inzwischen „unbefangener ausgesprochen“, in Todesanzeigen sei „nicht mehr verschämt von ‚langer, schwerer Krankheit‘ die Rede.“ So entsprach es denn auch ganz ihrem Willen, dass die Nachrufe auf sie ihre Krankheit zum Tode offen benannten.

Susan Sontag galt als moralisches Gewissen Amerikas und verkörperte in den letzten Lebensjahren mit ihren öffentlichen Interventionen im Kosovo, gegen die Palästinenser-Politik Israels oder die Irak-Politik Bushs mehr als je zuvor jenen lange totgesagten Typus des universalen Intellektuellen, dessen Position von Autoren wie Zola, Heinrich Mann, später beispielhaft von Sartre und in Deutschland dann von Heinrich Böll oder Jürgen Habermas eingenommen wurde.

Dass der „Moralismus“ von Intellektuellen, für den Intellektuellen-Kritiker vor etlichen Jahren das in seinem verächtlichen Zynismus kaum zu überbietende Schmähwort des „Gutmenschen“ erfanden, oft mit vehementer Moralismuskritik einhergeht, auch dafür ist Susan Sontag ein repräsentatives Beispiel. Ihr Kampf gegen die Krankheitsmetaphorik war nichts anderes als ein Kampf gegen den moralischen Druck, der im Reden und Schreiben über Gesundheit oder Krankheit auf vielfältige Weise ausgeübt wird, ein Kampf zur Befreiung von Straf-, Schuld- und Minderwertigkeitsfantasien, die durch populäre und pseudowissenschaftliche Krankheitsbilder oft erzeugt werden und den Kranken belasten. Die Einschätzung der Krankheit als „Prüfung des moralischen Charakters“, die „Vorstellung, daß eine Krankheit eine besonders geeignete und gerechte Bestrafung sein könne“, die Ausdeutung von Krankheiten „als Metaphern für das Böse“: solche „albernen und gefährlichen Ansichten bringen es zuwege, daß die Last der Krankheit dem Patienten aufgebürdet wird“. Gerade auch die „spezifisch moderne Vorliebe für psychologische Erklärungen“ sei in hohem Maße mit belastenden Schuldzuweisungen assoziiert: „Psychologische Krankheitstheorien sind machtvolle Instrumente, um die Schande auf die Kranken abzuwälzen. Patienten, die darüber belehrt werden, daß sie ihre Krankheit unwissentlich selbst verursacht haben, läßt man zugleich fühlen, daß sie sie verdient haben.“

Sontag nennt Wilhelm Reich als Quelle für die seinerzeit verbreitete Vorstellung, „daß Krebs eine Krankheit unzureichender Leidenschaft sei, die diejenigen befalle, die sexuell unterdrückt, gehemmt, unspontan sind und unfähig Wut auszudrücken.“ Neben Reich ist es vor allem einer der Pioniere der Psychosomatik, Georg Groddeck, den sie wiederholt als Beispiel für besonders kühne Kreationen von Krankheitsmetaphern zitiert. Sogar für den Tod habe Groddeck den Sterbenden verantwortlich gemacht – mit dem Satz: „Denn nur der stirbt, der sterben will, dem das Leben unerträglich wurde.“

Groddeck, dessen Schriften übrigens mittlerweile weit besser ediert sind als die Sigmund Freuds, hat in seiner populärsten Publikation, dem 1923 erschienenen „Buch vom Es“ (2004 neu herausgegeben und kommentiert) Krankheiten als „Symbol, eine Darstellung eines inneren Vorgangs, ein Theaterspiel des Es“ analysiert. Susan Sontag zitiert dies. Wie vormals Groddeck war Susan Sontag auf der Suche nach der Symbolik von Krankheiten. Doch im Unterschied zu ihm verfolgten ihre Analysen das Ziel, diese Symbolik als kulturelle Konstrukte mit falschen Voraussetzungen und fragwürdigen Effekten zu kritisieren. Nach Groddeck, dessen Schriften auf die literarische Intelligenz des 20. Jahrhunderts bis hin zu Ingeborg Bachmann einige Faszination ausübten, macht alles, was die vitale Macht des „Es“ blockiert, krank. Auch die physischen Symptome von Krankheiten interpretierte er als Symbole, mit denen sich die von der öffentlichen Moral gefesselte und verdrängte Macht des Lebens Ausdruck verschafft. (vgl. literaturkritik.de 03/2003) Gerade solche Vorstellungen sind es, gegen die Susan Sontag anschrieb. „Der Mythologie des Krebses zufolge gibt es im Allgemeinen eine anhaltende Gefühlsunterdrückung, die die Krankheit verursacht. In der früheren, eher optimistischen Form dieser Fantasie waren die unterdrückten Gefühle sexueller Natur; heutzutage stellt man sich – nach einer bemerkenswerten Verschiebung – vor, daß die Unterdrückung gewalttätiger Regungen krebsverursachend sei. […] Die Leidenschaft, die nach Ansicht vieler krebsverursachend ist, wenn sie sich nicht entlädt, ist Wut.“

Auf Krebs und zum Teil auch auf Wahnkrankheiten verschoben haben sich dabei frühere Vorstellungen, die mit der Tuberkulose (TB) verbunden waren. Die zur Künstlerkrankheit romantisierte TB wurde zwar auch mit exzessiver, auszehrender Leidenschaft assoziiert, sie galt aber ebenfalls als „verheerende Auswirkung der Frustration“. Der Held von André Gides Roman „Der Immoralist“, so eines der vielen literarischen Beispiel, mit denen Sontag ihre Thesen belegt, zieht sich TB zu, „weil er seine wahre sexuelle Natur unterdrückte; als Michel das Leben akzeptiert, erholt er sich. Bei diesem Szenario würde Michel heutzutage Krebs bekommen müssen.“

Vor allem Krebs und Tuberkulose waren es, für die sich Sontag interessierte, daneben Pest, Syphilis, Melancholie, Wahnsinn und später Aids. Die Ursachen, Symptome und Folgen von Krankheiten oder was man darüber zu wissen glaubt, die Todesarten, die mit bestimmten Krankheiten verbunden sind oder die Formen des Umgangs mit Krankheiten – alles das hatte Susan Sontag dabei im Blick. Es sind besonders solche Krankheiten, deren Entstehung noch wenig geklärt und deren gezielte Heilung ungesichert ist, die zum Projektionsfeld und Medium kulturell geprägter Wünsche, Ängste oder Aggressionen werden. Warum sich dafür bestimmte Krankheiten besser als andere zur Metaphorisierung eignen, wie die metaphorischen Diskurse über Krankheiten in den Dienst gesellschaftlicher Affektregulierungen genommen werden oder wie bestimmte Krankheitsbilder als Antworten auf die ökonomische und soziale Situation einer Zeit begriffen werden können, dazu liefert Sontag eine Fülle von anregenden Materialien und Überlegungen.

Ähnlich wie sie als Literaturwissenschaftlerin in ihrer Schrift „Against Interpretation“ die sinnliche Wahrnehmung von Literatur jenen Deutungsanstrengungen vorzog, die unter der Oberfläche eines Textes nach einem verdeckten Sinn suchen, so misstraute die Kulturkritikerin allen Interpretationen von Krankheiten, die in ihnen mehr als ein physisches Phänomen zu erkennen glauben. „Mein Thema ist nicht die physische Krankheit als solche, sondern die Verwendung der Krankheit als Bild oder Metapher. Zeigen will ich, daß Krankheit keine Metapher ist und daß die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen – und die gesündeste Weise, krank zu sein – darin besteht, sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen, ihm größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen.“

Metaphorisches gilt als ‚uneigentliches‘ Sprechen, und der Begriff der Krankheitsmetapher setzt eine verbindliche Vorstellung darüber, was mit „Krankheit“ eigentlich gemeint ist, voraus. „Die physische Krankheit als solche“, so Susan Sontags bezeichnende Formulierung, ist für sie dieses ‚Eigentliche‘ und ‚Wirkliche‘. Über Krankheiten im Zusammenhang mit psychischen Befindlichkeiten, kulturellen Normen oder gesellschaftlichen Verhältnissen zu reden heißt dagegen, sie zu metaphorisieren. „Das psychologische Verständnis untergräbt die ‚Realität‘ einer Krankheit.“ Die Beispiele, die Sontag für derart realitätswidrige Metaphorisierungen anführt, sind zum großen Teil literarischen Texten entnommen. Nicht zufällig, denn dort, wo literarische Texte Krankheiten zu einem zentralen Motiv und Thema machen, scheint ihnen die Tendenz zur Metaphernbildung in Susan Sontags Sinn immer schon inhärent zu sein. Die Kritikerin vermag jedenfalls keinen literarischen Text zu nennen, der unmetaphorisch über Krankheit spricht. Der poetische Diskurs neigt wohl generell dazu, Krankheiten in Sinnzusammenhänge zu integrieren, die über den streng eingegrenzten Sinnhorizont und Funktionsbereich einer wissenschaftlich-technischen Medizin, wie sie der Amerikanerin als vorbildlich vor Augen steht, hinausgehen.

Der Essay der amerikanischen Literaturkritikerin, der man Literaturfeindlichkeit gewiss nicht nachsagen kann, enthält damit eine ungewollte Literaturfeindlichkeit, die tief in der Geschichte der Medizin des 19. Jahrhunderts verwurzelt ist. In der Perspektive einer strikt körperfixierten Pathologie, die den moralisierenden Tendenzen ganzheitlicher Krankheitskonzepte um 1800 entgegenarbeitete, erschien der literarische Diskurs über Krankheit unsinnig, wahrheitswidrig, der Medizin und dem Patienten schädlich, durchsetzt von Mythen und Metaphern, Fantasien und falschem Bewusstsein. Wie die „Somatiker“ des 19. Jahrhunderts opponierte Sontag gegen Vorstellungen von selbstverschuldeter Krankheit, die allerdings spätestens seit Georg Büchner in der Literatur nur noch eine zweitrangige Bedeutung hatten. Sontags Metaphernkritik war der Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts verhaftet. Sie ignorierte dabei medizinische Erkenntnisgewinne im 20. Jahrhundert, die unter anderem aus dem Umkreis psychosomatischer und epidemiologischer Forschungen kamen, oder tat sie als bloße Spekulation ab.

Nicht weniger problematisch ist Susan Sontags Umgang mit dem Begriff „Metapher“. In der einschlägigen und in ihrer klaren Darstellung vorbildlichen Einführung von Gerhard Kurz über „Metapher, Allegorie, Symbol“ (kürzlich in 5. Auflage erschienen) kann man nachlesen, wie unhaltbar inzwischen die Unterscheidung von „eigentlicher“ oder „wörtlicher“ Wortverwendung auf der einen Seite und „uneigentlicher“, „übertragener“ oder eben „metaphorischer“ auf der anderen in sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive geworden ist. Auch zur alten Tradition einer Metaphernkritik, wie sie Susan Sontag vornimmt, finden sich hier erhellende Hinweise.

Dennoch illustrieren die Essays von Sontag mit überzeugenden Beispielen, wie professionelle oder laienhafte Krankheitsvorstellungen häufig zu wirksamen Elementen normvermittelnder Diskursstrategien funktionalisiert werden, und zwar auf eine vielfach fragwürdige Weise. Selbst ihre globalen Einwände gegen alle Krankheitsbegriffe, die die Grenzen somatischer Reduktionen überschreiten, trafen einen wichtigen Sachverhalt: Je weiter sich der Horizont medizinischer Pathologie und Therapie zum ganzheitlichen Verständnis von Krankheiten hin öffnet, desto durchlässiger wird er für (möglicherweise missbräuchliche) Normsetzungen, die die gesamte Lebenspraxis betreffen. Darüber hinaus sind Susan Sontags nur knapp hundert Seiten umfassende Essays als komprimiertes Kompendium von Anregungen zur Erforschung des kulturellen Umgangs mit Krankheiten von bleibender Bedeutung. Sie sind im besten Sinne „Versuche“ – und als solcher für die Medizin- und Kulturgeschichte nach wie vor eine produktive Herausforderung zu Ergänzungen, Präzisierungen und Systematisierungen.

Titelbild

Susan Sontag: Krankheit als Metapher & Aids und seine Metaphern.
Übersetzt aus dem Amerikanischen Karin Kersten, Caroline Neubaur und Holger Fliessbach.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
149 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446204253

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Georg Groddeck: Das Buch vom Es. Text- und Apparatband im Schuber. 2 Bände.
Herausgegeben von Samuel Müller in Verbindung mit Wolfram Groddeck.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. und Basel 2004.
938 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3878778317

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004.
112 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 352534032X

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