Fesselnd erzählt

Die Lebenserinnerungen des Juden Max Kirschner

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines Tages saß dem Frankfurter Arzt Bernd Hontschik der fast achtzigjährige Fred Kirschner im Untersuchungszimmer gegenüber und erzählte ihm von der Schreckenszeit der Nazis in dieser Stadt, vor der er mit seinen Eltern und seiner Schwester Ende der dreißiger Jahre gerade noch rechtzeitig in die USA hatte fliehen können. Er berichtete auch, dass sein Vater in der Nähe von Frankfurt in Heddernheim eine Arztpraxis gehabt habe. Er selbst war, als er Hontschik aufsuchte, wenige Tage zuvor mit seiner Frau Hilla auf Einladung des Magistrats der Stadt nach Frankfurt am Main gekommen, um am Treffen ehemaliger jüdischer Frankfurter Bürger teilzunehmen. Beide, Kirschner und Hontschik, kamen sich näher. Schließlich traf man sich sogar in Kalifornien, dem Wohnort Fred Kirschners. Hier holte Fred Kirschner aus seiner Garage einen großen Pappkarton hervor. Er enthielt die in englischer Sprache abgefassten Memoiren seines Vaters Max Kirschner, der im August 1975 im Alter von fast 89 Jahren gestorben war. So kam das Manuskript auf Umwegen in den Jüdischen Verlag im Hause Suhrkamp und damit an die Öffentlichkeit.

Die Erinnerungen des am 7. März 1886 in München geborenen Juden Max Kirschner beginnen im Jahr 1961, als in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann stattfand. "Viele erfassen jetzt, was sie leugnen, zu ignorieren, zu vergessen suchten. Dass der Mensch das grausamste und brutalste Tier sein kann, dass wenig oder nichts vom Menschen als Ebenbild Gottes bleibt, wenn man den endlosen Berichten von Grausamkeiten gelauscht hat, welche die Folge der bösen Pläne der Nazi-Hierarchie zur Vernichtung der Juden waren", schreibt Kirschner.

Der Verfasser dieser Memoiren ist behütet aufgewachsen und blieb in seiner Jugend von antijüdischen Stimmungen verschont. Die Freunde der Eltern waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, allesamt Juden. Zu nichtjüdischen Familien gingen die Eltern mit dem Jungen nur in der Weihnachtszeit, damit er auch einmal einen Weihnachtsbaum zu sehen bekam.

Max Kirschner geht in seinem Lebensbericht auch auf die Stellung der Juden in Deutschland ein, die in seiner Jugend noch ein fester Bestandteil der aufblühenden deutschen Gesellschaft waren und die sich für Bürger dieses Landes hielten, obwohl sie damals schon oder noch allerlei Nachteilen ausgesetzt waren. Nur selten bekam beispielsweise ein Jude ein hohes Richteramt oder wurde Professor, "in Preußen noch seltener als in Bayern." Im Reichstag gab es einige Antisemiten wie etwa Hermann Ahlwardt. Er und Adolf Stoecker, der Hofprediger des Kaisers, hielten immer wieder Hassreden gegen die Juden, erinnert sich Kirschner.

Der erste große antijüdische Vorfall, den er durch Zeitungsnachrichten miterlebt hatte, war 1895 die Dreyfus-Affäre in Frankreich, über die Theodor Herzl, der damals Gerichtsreporter war, berichtet hat. In jener Zeit kam es in Russland zu zahlreichen Pogromen. Den von dort nach München kommenden Flüchtlingen half man und schickte sie weiter, ohne zu ahnen, dass das eigene "Schicksal eines Tages dem ihren so ähnlich und ebenso verzweifelt sein würde." In Deutschland habe es damals eine "gute Zeit" gegeben, versichert der Autor. Doch heute liebe er Deutschland nach allem, was er selbst erlebt habe an Bestialität in der Hitlerzeit, nicht mehr. Weit ausholend, sich an viele Kleinigkeiten erinnernd, erzählt Kirschner von seiner Kindheit und Jugend, vom Aufkommen des Zionismus, von seiner Soldatenzeit - Anfang April 1906 erhielt er seinen ehrenvollen Abschied als Feldwebel -, vom Studium in Berlin und seiner Hochzeit mit seiner Frau Berta und ihrem plötzlichen Tod im März 1914, eine Woche nach dem ersten Hochzeitstag.

Am 1. August 1914, als der Krieg ausbrach, musste sich auch Max Kirschner nach den Bestimmungen der Mobilmachung melden und erhielt ein Jahr später als erster Mediziner und als erster Jude in der bayerischen Armee das Eiserne Kreuz. Während des Krieges heiratete er zum zweiten Mal und wurde in den darauf folgenden Jahren Vater einer Tochter und eines Sohnes. Sesshaft wurde die Familie schließlich in Heddernheim bei Frankfurt am Main und erlebte in der Nachkriegszeit schwierige Jahre.

"Wie wir durch diese Notzeiten kamen, wie wir es schafften, dass wir und unsere Kinder gesund blieben und satt wurden - ich weiß es nicht. Mir kommt das immer noch wie ein Wunder vor", bekennt der Autor. Doch die Praxis ging gut - so lange, bis die Nazis ans Ruder kamen und allen "Ariern" den Kontakt mit Juden verboten. So blieb den Kirschners nichts anderes übrig, als ihre Emigration vorzubereiten. Vorübergehend wurden Max und sein Sohn Fred sogar inhaftiert und kamen ins Konzentrationslager Buchenwald. Aber sie hatten Glück. Sie kamen wieder frei, und schließlich gelang es ihnen, englische Visa zu ergattern und nach England auszuwandern.

Auch diese Zeit wird genau geschildert samt Ausbruch und Verlauf des Zweiten Weltkrieges. Die nächste Station hieß Amerika. Dort beginnt Max Kirschner mit über fünfzig Jahren von vorn, studiert noch einmal, erhält die neue Staatsbürgerschaft, baut sich eine neue Praxis auf und ist eine Weile glücklich mit Kindern und Enkelkindern. Das letzte Kapitel spielt im Februar 1974 in Kalifornien. Ein Jahr später stirbt Max Kirschner im Alter von 89 Jahren "eines ruhigen natürlichen Todes".

Das alles wird in einer einfachen und unverblümten Sprache erzählt und dürfte jeden Leser fesseln, auch junge. Erlaubt ihnen doch das Buch in eine für sie fremde Zeit und Welt ganz tief einzutauchen.

Titelbild

Max Kirschner: Weinen hat seine Zeit und Lachen hat seine Zeit. Erinnerungen aus zwei Welten.
Übersetzt aus dem Englischen von Ebba Drolshagen.
Jüdischer Verlag, Frankfurt 2004.
280 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3633542132

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