Die Hysterikerinnen und ihr Arzt

Per Olov Enquist komponiert "Das Buch von Blanche und Marie"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Bild! das berühmte! wie ist es nicht interpretiert worden! das Altarbild der verdrängten Erotik! der heilige Gral der pietistischen Erotik! das Sinnbild der weiblichen Hilflosigkeit in der Leidenschaft! die Verlassenheit!"

Das Bild! das berühmte! (oder zumindest ein Ausschnitt daraus) ziert auch die Front des neuen Romans von Per Olov Enquist "Das Buch von Blanche und Marie". Es ist das Gemälde "Une leçon de clinique à la Salpêtrière" von André Broulliet und zeigt die Blanche aus dem Titel: Blanche Wittmann, "Königin der Hysterikerinnen", eines der berühmtesten von Jean Martin Charcots Medien und Protagonistin des Romans. Nach einem ihrer Anfälle erschöpft, sinkt sie halb entblößt in die Arme eines Assistenten, während der französische Nervenarzt neben ihr weiter doziert.

Charcot, Sohn eines Wagenmachers, der Medizin studierte und am Ende des 19. Jahrhunderts "der berühmteste Arzt seiner Zeit" wurde, wie sein Schüler Axel Munthe schreibt, der Experte für Hysterie. Aus der ganzen Welt trafen Patienten in Paris ein, um sich von ihm behandeln zu lassen, warteten oft wochenlang darauf, zu ihm vorgelassen zu werden. Charcot nahm die Patienten ernst, glaubte nicht wie andere, dass sie ihre Anfälle simulierten. Für ihn war die Krankheit eine Folge von Erbschäden oder einer Verletzung des zentralen Nervensystems, also ein körperliches Leiden. Die Zahl der Frauen, bei denen eine Hysterie festgestellt wurde und die aufgrund ihrer Erkrankung hospitalisiert werden mussten, stieg allerdings während seiner 'Herrschaft' über die Salpêtrière sprunghaft an: 1841 lag sie bei einem, 1883 bei 17 Prozent. Der Verdacht entstand, Charcot leite seine Patientinnen zur Schauspielerei an oder habe gar eine iatrogene Krankheit erschaffen.

Enquist lässt die Frage nach der Ursache der Anfälle klugerweise unbeantwortet. Auch er schildert eine der berühmten leçons du mardi, verzichtet jedoch darauf, Stellung zu nehmen. Charcot spricht, und Blanche bereitet sich vor: "Sie wußte, daß es kommen würde, und sie war darauf vorbereitet, daß es kommen würde. Es war eine Zeremonie, die am Anfang schwer war, und die dann wurde, wie es sein sollte." Halb zog er sie, halb sank sie hin.

Der Erzähler glaubt den 'Sinn' der Vorführung jedoch mehr als klar erkannt zu haben: Für die Männer im Saal wird "das Erschreckende", das wahlweise für die Frau, die Hysterie oder die Leidenschaft und das Unkontrollierbare stehen könnte, benannt, erklärt und so möglicherweise gebändigt. Auf ihn wirkt Charcot wie ein Kind, gar ein "erschrecktes Kind [...], das mit steinernem Gesicht, und mit aller Macht in seiner Hand, doch ohne zu wissen, wie es sie gebrauchen kann, inmitten eines Meeres von kochenden Leidenschaften steht und behauptet, die Leidenschaften zu registrieren und sie vermittels Druckpunkten am menschlichen Körper zu lenken!"

Nicht der Arzt, der in zeitgenössischen Beschreibungen mit Napoleon verglichen wurde und vor allem durch seine machtvolle Erscheinung beeindruckte, sondern die Frauen sind in diesem Roman die Stärkeren, sie stützen sich selbst und die anderen. Charcot dagegen ist ein erschrecktes Kind, ein Künstler: "In der Hysterie gab es, meinte er [Charcot], ein gewisses System, einen geheimen Kode, der, wenn entschlüsselt, Anhaltspunkte für den Sinn des Lebens geben konnte: diese Mischung aus Chaos und Ordnung besaß eine fast musikalische Form, war eine Komposition aus Andante, Allegro und Adagio. [...] Das war der Mensch als Sinfonie. Er hatte immer Komponist werden wollen." Nun komponiert also Charcot, das suggeriert zumindest der Roman, Sinfonien auf Menschen - mithilfe der Druckpunkte am menschlichen Körper, die er "erfunden" oder zumindest "entdeckt" hat.

Und auch der Erzähler komponiert seine Geschichte in acht Gesängen und einer Coda angeblich aus bereits bestehenden Tönen, die er zu einer eigenen Sinfonie zusammenfügt. Ihm hätten die Notizbücher Blanche Wittmanns vorgelegen, gibt er vor, drei an der Zahl - ein gelbes, ein schwarzes und ein rotes -, in einer braunen Mappe zusammengefasst, die zwei Titel trägt: "Amor Omnia Vincit" - die Liebe überwindet alles - und "FRAGEBUCH". Aus diesen drei Notizbüchern, führt er an, beziehe er seine Informationen über seine Protagonistin Blanche Wittmann, über Marie Curie, die zweifache Nobelpreisträgerin, und, nicht zuletzt, eben über Jean Martin Charcot. Und zwischen diesen beiden Polen - dem sicheren, überzeugten "die Liebe überwindet alles" und dem unsicheren, tastenden "Fragebuch" - oszilliert der Roman. Mal behauptet der Erzähler kühn oder stellt die Aussagen Blanches in Frage, mal scheint er sich zurückzuziehen, sich mit der Protagonistin zu identifizieren oder sich gar hinter ihr zu verstecken.

Darüber hinaus gibt es vielleicht zwei Protagonistinnen: Blanche Wittmann und Marie Curie. Nach ihrem Aufenthalt in der Salpêtrière, so fabuliert der Erzähler, habe Blanche zuerst als Röntgenschwester im Krankenhaus und dann als Laborassistentin der Entdeckerin des Radiums gearbeitet. Die Strahlung an beiden Arbeitsplätzen habe dann langsam ihren Körper zerstört, ihr wurden fast alle Gliedmaßen amputiert, bis ihr nur noch ein Arm blieb und sie, ein übriggebliebener Torso, ans Bett gefesselt war. Für Curie sei sie Ansprechpartnerin gewesen, Zuhörerin und Ratgeberin, als diese wegen ihrer Affäre mit einem verheirateten Mann angegriffen wurde. Für die Freundin habe Blanche wohl eigentlich ihre Notizbücher verfasst, suggeriert der Text, um ihr Mut zu machen und sie dazu zu bringen 'aufzustehen' und 'weiter zu gehen', statt an der Liebe zu verzweifeln.

Diese Aufforderung zum Aufstehen und Weitergehen wird immer wieder geäußert ("Jetzt geht es los!") und wirkt beinahe rhythmusgebend, während verschiedene Bilder sich (gelegentlich leicht variiert) als Leitmotive durch den Roman ziehen: Das Meer als Symbol der Psyche ("Das Heilige beim Menschen ist wie Ebbe und Flut - es legt die Seele des Menschen frei und überdeckt sie") oder anderer unauslotbarer Kräfte, die seelische und körperliche Verstümmelung (Blanches übriggebliebener Torso, die verlorenen Lieben Marie Curies) und das neu entdeckte Radium, dessen Leuchten manchmal für die Macht der Liebe, manchmal jedoch auch für die Schrecken und Hoffnungen der Moderne und der fremden neuen Welt steht.

Eine Welt, die entdeckt und kartografiert werden will. Das Radium wird erforscht und somit gebändigt, das unbekannte Land Hysterie (und damit verbunden: Frau) scheint beherrschbar. Doch gegen Ende seines Lebens verliert Charcot den Glauben an seine Therapie: "Meine sämtlichen Annahmen über die Pathologie des Nervensystems müssen revidiert werden, es ist notwendig, noch einmal von vorn zu beginnen". Dazu kommt es jedoch nicht mehr. Nach einer (der einzigen) Liebesnacht mit seiner "weißen Königin" stirbt der Nervenarzt - an zu viel Liebe, zu viel Nähe? "Teilt man sein Dunkel mit dem, den man liebt, entsteht manchmal ein Licht, das so stark ist, daß es tötet", schreibt Blanche.

Hier wird die Schwäche des ansonsten so wunderbar feinsinnigen und zarten Romans deutlich: Spricht man im "Buch von Blanche und Marie" von der Liebe, so verfällt man in eine seltsam schwülstige Ausdrucksweise und äußert Plattitüden. Und je stärker dieses Gefühl wird, umso pathetischer die Sprache, als reichten Worte fast nicht mehr aus, um diese Naturgewalten zu beschreiben. "Die Liebe kann man nicht erklären", schreibt Blanche einmal und damit hat sie wohl recht. "Aber wer wären wir, wenn wir es nicht versuchten?", heißt es danach. Und dem ist wohl auch nichts mehr hinzuzufügen.

Titelbild

Per Olov Enquist: Das Buch von Blanche und Marie. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
239 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3446205691

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