Gesampelte Spaßetteln

Erwin Einzingers Roman "Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik"

Von Ulrike MatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Matzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was haben der Boogie Woogie, die Gemälde Piet Mondrians, KZ-Stacheldrahtzäune und Nikolaus Harnoncourt miteinander zu tun? Worüber gerieten Frédéric Chopin und Vladimir Nabokov in ihrem Briefwechsel in Fahrt? Auch zwischen den Leningrad Cowboys und Gustav Mahlers Achter bestehen mehr Querverbindungen, als man glauben möchte ... Dergleichen Erhellendes findet sich zuhauf im Roman von Erwin Einzinger "Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik", einer amüsanten und literarisch delikaten Aneinanderreihung und Ineinanderverquickung von Anekdoten und Kürzestgeschichten. Die Entwicklung populärer Musikkulturen zu einem internationalen Eintopf einerseits und allgemeine Industrialisierungs- und Kommerzialisierungsprozesse in den letzten anderthalb Jahrhunderten auf der anderen Seite ziehen sich dabei als rote Fäden durch das Buch. Fäden, die permanent miteinander gekreuzt, verknüpft und vernetzt werden - etwa in dieser Art:

In einer Ausgabe des "Heilbronner Intelligenzblattes" von 1838 erscheint ein Zichorienkaffee-Inserat des damals noch unbekannten Nahrungsmittelproduzenten Knorr. Fünfzig Jahre später hebt der Siegeszug des ersten Instantprodukts aus dem Hause Knorr, der Erbswurstsuppe, an. Ein Fahrradhändler aus Belfast, der einst eine deutsche Erbswurst als Souvenir erhalten hatte, zog nach dem Zweiten Weltkrieg aus seiner Begeisterung für den Mississippi-Blues in seiner Werkstätte einen Schallplattenhandel auf (Belfast entwickelte sich damals in Sachen Verbreitung schwarzer Musik aus Übersee zur europäischen Drehscheibe). Einer seiner besten Kunden war George Morrison, Vater des später als Van Morrison bekannten Ivan.

Die erwähnte Suppe wird uns im Verlauf des Romans noch in vielen Variationen aufgetischt und gegen Ende in Form von Andy Warhols "Campbell's Soup Cans" als hochpreisiges Exponat präsentiert. Eines von mehreren wiederkehrenden Motiven, die technischen Fortschritt als zivilisatorische Dekadenzbewegung vor Augen führen. Kulturpessimismus schwingt allerdings nur im Subtext mit, ironisch gebrochen, vermittelt über die kurzweilig-flotte, nicht selten grotesk wirkende Kopplung vordergründig kurioser Zeitungsmeldungen und an den Haaren herbeigezogener Anekdoten. Galoppierten in einem Exkurs über die Landnahme Amerikas eben noch Prärieindianer vorbei, so tauchen sie wenig später in Form winziger Plastikfiguren als Werbebeigabe in Kaffeepackungen wieder auf, müssen sie herhalten als Namensgeber für eine Plattenfirma ("One Little Indian"), für eine Mehlspeise oder für Irokesenschnittträger, sprich: Großstadtindianer, von wo es zum amerikanischen Hubschraubermodell Iroquois nicht weit ist.

In derart abrupten Schwenks zwischen der Alten und der Neuen Welt wird leichten Fußes zwischen den Jahrhunderten hin und her gehüpft. Permanent umher- und abschweifend mäandert man mit dem Erzähler durch diesen Roman ohne Anfang und Ende. Vorausahnend oder rückwirkend finden sich Verbindungsbögen angedeutet, Kreise schließen sich, das Kleine spiegelt sich im Großen und umgekehrt. Über noch so nebensächliche und abwegige Erzählungen ergeben sich die merkwürdigsten Parallelen und Zusammenhänge; scheinbar zufällig durch die Geschichte(n) flottierende Personen und Motive finden auf wunderliche Weise (wieder) zusammen. Wie die staffelartig weitergereichte Erbswurststange ergibt assoziativ eins das andere, springt der Funke über und blitzt des Öfteren als Fußnotensternchen am Seitenende auf - und gerade im Anmerkungsteil lauern gern Pointen in ihrem Versteck.

Allerorten liegen Bücher, Zeitungen, Wochenendmagazine, wissenschaftliche Publikationen über dieses und abstruse Abhandlungen über jenes herum, die sich wie ein Fensterchen auftun und einen unversehens in die nächste Geschichte hineinziehen. Eine Erzählung entblättert sich so aus der anderen; mitunter in langen Sätzen, die zu wollen scheinen, dass man, am Ende angelangt, den Anfang längst vergessen hat. Was aber weiter nichts macht, da man sich anderswo schon mittendrin befindet usw.

In der Fülle myzelartig ineinander verflochtener Erzählbruchstücke und Momentaufnahmen schrumpft (Welt-)Geschichte auf reines Anekdotenmaterial zusammen. Historische Größen und Stars der Populärmusikbranche werden in ihrer existenziellen Kleinheit vorgeführt. So erfährt man nicht nur, dass Zar Peter der Große in Wahrheit "ein übler Schmutzfink und großer Kotzer" war, sondern auch, welche Peinlichkeiten Adolf Hitler zeitlebens unterliefen oder welch' zwänglerischen Ritualen Erik Satie sich unterwarf.

Durchschossen sind derlei Berichte von geschwind skizzierten Schicksalen anonymer Figuren und kleiner Leben, von Auszügen aus dem Geschichtenfundus der Sagen- und Mythenwelt, der Schilderung vergessener Bräuche im ländlichen Österreich und der Riten verschiedener Naturvölker. Auf wundersame Weise läuft alles immer irgendwie zusammen, und überall spielt die Musik.

Erwin Einzinger betreibt nicht zuletzt ein Spiel mit dem Geschichtenerzählen (als dem Wesen von Literatur), wo tatsächlich Geschehenes, Mögliches und Erfundenes ineinander übergehen und die Grenzen zwischen Tatsachenberichten und Dahergeflunkertem zu verschwimmen beginnen. Mit subtilem Witz nimmt der Erzähler das (sich mitunter dem Absurden annähernde) Format "wissenschaftliche Abhandlung" auf die Schippe - und betrachtet damit sein eigenes Unterfangen mit ironischer Distanz. Unvermutet richtet er sich an die Leser; salopp und nebenher werden in wenigen Strichen bizarre Bilder hingepinselt, die als Lyrik- oder Prosa-Miniaturen ebenso gut für sich stehen könnten. Da und dort eingestreute, halb vergessene (ober-)österreichische Mundartausdrücke sind die i-Tupferl knuspriger Sprachspielereien. Gerade solche Wechsel in der Tonart, die verwegenen Sprünge und die Brüche, die teils "verstolperten Intros" machen einen Gutteil des lakonischen Witzes und des über 500 Seiten fortdauernden Überraschungseffekts aus. In seinem enzyklopädischen Charakter und mit umfangreichem Registerteil gibt der Roman obendrein ein unkonventionelles, aber durchaus brauchbares Nachschlagewerk zur neueren Geschichte der Unterhaltungsmusik ab.

Wenig verwunderlich, dass sich Erwin Einzinger, geboren 1953, der im oberösterreichischen Micheldorf als Schriftsteller und Übersetzer lebt, für sein Unterfangen zehn Jahre Zeit zur Recherche und zum Schreiben gegönnt hat. Eine Rarität im zunehmend schnelllebigen Literaturbetrieb. Seit seiner ersten Buchveröffentlichung 1977 geht er - mehrfach mit Preisen ausgezeichnet - unbeirrt seinen Weg. Der vorliegende Roman kann mit Recht als sein opus magnum bezeichnet werden, in dem seine bisherigen Ansätze kumulieren.
Karl-Markus Gauß nannte Einzinger einmal einen der "unbekanntesten österreichischen Gegenwartsautoren". Höchste Zeit, sein Werk zu entdecken!

Titelbild

Erwin Einzinger: Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik. Roman.
Residenz Verlag, Salzburg 2005.
534 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3701714045

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