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Neue Gedichte von Myriam Stucky-Willa

Von Wolfram Malte FuesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfram Malte Fues

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Erinnerung - / Fällt aus den Sternen - [...] Regen - / Schlägt seine Saiten an - [...] Wer weint schon - / Um eine davon fliegende weiße Feder - / [...] Um die weit bebänderten Winde - [...] Rosen mal ich den Himmel - / Und an den Ufern der Meere - / Trink ich die Sonne leer -"

Die eigentliche Königin der "Kritik der reinen Vernunft" ist, wie Kant schreibt, nicht die Vernunft, sondern die Einbildungskraft, "das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen. Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft, der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben kann, zur Sinnlichkeit; sofern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist, welche bestimmend und nicht, wie der Sinn, bloß bestimmbar ist, [...] so ist die Einbildungskraft sofern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen [...] muss die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sein, welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit ist und die erste Anwendung desselben [...] auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist." Die Einbildungskraft schlägt die Brücke zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Sie verwandelt die Kategorien des Verstandes in Figuren, die ihm das Mannigfaltige der Anschauung zum Auffassen und Begreifen darstellen. Eben darin macht sie dieselben Kategorien als Ordnungs-Orte geltend, als Vermessungspunkte gleichsam, die das weite Land des Dargestellten aufteilen, begrenzen und bestimmen. Ein Doppelvermögen, das sich nicht festlegen lässt, jeder Definition auf die andere, konträre Seite seines Wesens hin ausweichend: Sinnlichkeit, die verständig, und Verständigkeit, die sinnlich ist.

An der Schnittstelle zwischen Verstand und Sinnlichkeit, wo das aggregierende Material der Anschauung und die disponierende Kraft der Verstandes-Kategorien einander überlagern und überlegen, schafft laut Kant "die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft die reine Form der Synthesis aller möglichen Erkenntnis, durch welche mithin alle Gegenstände möglicher Erfahrung a priori vorgestellt werden müssen". Nur Gegenstände möglicher Erfahrung, also solche, deren Gegebenheit von der Affektion der Sinnlichkeit durch die äußere Realität abhängt? Wirklich? Nicht doch auch Gegenstände, die aus der Einbildungskraft selbst hervorgehen, aus der wechselseitigen Berührung von Sinnlichkeit und Verstand, und die keine andere Realität besitzen als die, Ausdruck, Bild, Metapher dieser Berührung zu sein? Die Gedichte Myriam Stucky-Willas sind auf diese Wirklichkeit aus. Sie suchen immer wieder und immer von neuem jenes einfache und zugleich doppelte Firmament zu erreichen, unter dem Erinnerung aus den Sternen fällt, Regen seine Saiten anschlägt und unter dem allein jemand lebt, der um eine mit den weit bebänderten Winden davon fliegende Feder weinen kann - so weinen vielleicht, wie der Regen an und mit seinen Saiten.

Die Einbildungskraft ist zwar die eigentliche, aber die ungekrönte Königin der "Kritik der reinen Vernunft", weil es wohl eine Kritik der reinen analytischen und der dialektischen Vernunft, aber keine Kritik der Einbildungskraft geben kann. Welche Grundsätze, welche Regeln sollte eine solche Kritik auf ein Vermögen anwenden, das, insofern bei sich, immer schon bei seinem anderen ist, das nur zu sich kommt, indem es von sich abweicht, das also in und während seiner Beurteilung immer schon nicht mehr dort ist, wo es beurteilt wird? Folglich wird es auch keine Kritik des Unterschieds zwischen der möglichen Erfahrung und der ebenso möglichen Selbst-Erfahrung der Einbildungskraft geben können, und ihre Gebilde werden unvermittelt von der einen in die andere bis zur Alltäglichkeit, bis zur Trivialität hin fallen. Myriam Stucky-Willas Gedichte bestätigen diese Vermutung leider immer wieder: "Erinnerung - /Fällt aus den Sternen - /Verwehtes - /Streift der Erde Saum - /In göttliche Ruhe - /Dringt Ewigkeit", endet das erste der von uns zitierten. Und ein zweites lautet im Ganzen: "Wer weint schon - /Um eine davonfliegende weiße Feder - /In abendlicher Dämmerstunde - /Um die weit bebänderten Winde - /Die ihre Lieder - /Wie Glockenklänge - /Von der Erde - /In den Himmel tragen - /An diesem schwer blau goldenen Abend." Während Erinnerung aus den Sternen fällt, mag das, was sie in diesem Fall verliert, verstreut, veräußert, bis an den Saum der Erde wehen, bis an die Gefahr, den alten Erfahrungs-Gegensatz von Himmel und Erde wiederherzustellen. Die noch folgenden Zeilen begegnen dieser Gefahr jedoch nicht, sondern vertiefen sie, jenen bekannten Gegensatz auf diejenigen Reflexionen ausdehnend, die ihn üblicherweise begleiten: Göttlichkeit - Menschlichkeit, Ruhe - Rastlosigkeit, Ewigkeit - Vergänglichkeit usf. Wer um eine mit den weit bebänderten Winden davonfliegende weiße Feder weinen kann, gleichgültig ob die Bänder ihre weit auseinander stiebende Wolke oder die Luftzüge sind, die sie bei ihrem Kiel halten, wird die Dämmerung, das Zwielicht, die Zweideutigkeit lieben, aber er wird sich nicht darum kümmern, ob sie abendlich oder morgendlich ist. Schade, dass die Winde ihre Lieder "von der Erde / in den Himmel tragen", also den konventionellen Raum, den sie zuerst so weit übersehen und überfliegen, dann doch wieder bestätigen. Und schließlich: Warum muss der Feder-Flug mit den Winden, der, aus Irgendwo ins Irgendwo, von Irgendwann nach Irgendwann, wegen seiner leichtsinnigen Doppeldeutigkeit weinen zu machen vermag, am Ende auf das fixierende Abzeichen eines "schwer blau goldenen Abends" festgelegt werden?

Solche Fragen drängen sich immer wieder auf, bis man versucht ist, ihren Anlass beiseite zu drängen: "Wenn die Bindung wegfällt, bleiben nur die Bilder übrig." (Robert Musil) Sollte Kant am Ende doch Recht behalten? Die hier in Überlegung stehende Einbildungskraft ist ihm zufolge "dichtend (produktiv) [...] Die produktive aber ist dennoch darum eben nicht schöpferisch, nämlich nicht vermögend, eine Sinnenvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war, hervorzubringen, sondern man kann den Stoff zu derselben immer nachweisen.", wie es in seiner "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" heißt. Aber lassen wir damit die Philosophie nicht voreilig über die Poesie triumphieren? Sucht sich "Landlos" wenn nicht dem Buchstaben, so doch dem Geist nach diesem Beweis vielleicht doch zu entziehen? Trachtet ein lyrisches Ich, das über sich sagt: "Rosen mal ich den Himmel - / Und an den Ufern der Meere - / Trink ich die Sonne leer", nicht danach, eine Sinnenvorstellung hervorzubringen, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war, indem es, Sonne und Meer rosenförmig und rosenfarbig am Himmel mischend, ihren Stoff so lange destilliert und raffiniert, bis seine ursprüngliche Herkunft nicht mehr nachzuweisen ist? Ein solch gegensinnliches und demzufolge auch gegensinniges Verfahren macht sich und das, was es hervorbringt, nicht nur landlos, sondern auch zeitlos. Aber das weiß es: "Zu aller Unzeit - / War ich da."

Titelbild

Myriam Stucky-Willa: landlos. Lyrik.
Nimrod-Verlag, Zürich 2004.
101 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3907149246

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