Was von der linken Germanistik übrig blieb

Eine Festschrift für Walter Fähnders

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den immer noch gern gepflegten Ritualen des akademischen Betriebes gehört die Ehrung verdienter Wissenschaftler durch Festschriften. Mag diese sehr deutsche Buchsorte auch noch so sehr mit akademischer Selbstbeweihräucherung und dem "Muff unter den Talaren" in Verbindung gebracht werden, so erfreut sie sich doch zu einer Zeit, da viele Professoren der achtundsechziger Generation in Pension gehen, erneuerter Beliebtheit. Während bei vielen derart Geehrten über die linke Vergangenheit schamhaft hinweggegangen wird, ist in der Festschrift für Walter Fähnders, "Unruhe und Engagement, Blicköffnung für das Andere", das Gegenteil der Fall. Die über 500 Seiten starke Aufsatzsammlung ehrt schließlich einen Germanisten, dessen Bücher Titel wie "Linksradikalismus und Literatur", "Proletarisch-revolutionäre Literatur der Weimarer Republik", "Anarchismus und Literatur" oder "Literatur im Klassenkampf" tragen. Bewusst wird von den Herausgebern an die Zeit erinnert, als solche Titel Konjunktur hatten und die Germanistik zu neuen Ufern aufbrach. Damals wurden die Zusammenhänge zwischen Literatur und Gesellschaft wiederentdeckt und literarische Werke mit allerlei linken Theorien traktiert, was oft auf hohem theoretischen Niveau stattfand, aber gelegentlich auch zu etwas kuriosen Resultaten führte. Angesichts einer germanistischen Gegenwart, in der die Thematisierung von Gesellschaft und Politik, gar von Klassen oder Klassenkampf erneut suspekt geworden ist und sich das Wissen um politische oder philosophische Theorie genauso verflüchtigt hat wie das hohe Reflexionsniveau, bietet eine solche Festschrift, die von Mitstreitern und Schülern des Geehrten getragen wird, eine gute Gelegenheit nachzufragen, was von der linken Germanistik eigentlich übrig geblieben ist.

Nicht gerade sehr viel, so die desillusionierende Antwort, die sich nach dem Studium der Beiträge geradezu aufdrängt. War vordem der Bezug auf Geschichtsphilosophie und soziale Bewegungen prägend, so ist an deren Stelle ein Vakuum getreten; konnte die linke Literaturwissenschaft in den angelsächsischen Ländern durch die Entdeckung von Gender Studies und Postcolonial Studies eine Revitalisierung erfahren, so kann in Deutschland davon keine Rede sein. Einige Beiträge in "Unruhen und Engagement" kommen genauso ungesellschaftlich und apolitisch daher wie der germanistische Mainstream, was allerdings nicht heißt, dass es ihnen an wissenschaftlicher Qualität fehlt. Im Gegenteil: Philologische Korrektheit wird verbissen hochgehalten, womit eine Selbstverständlichkeit zum Selbstzweck wird. Blicke über den Tellerrand entfallen ebenso wie Reflexionen über die Rolle der Germanistik oder eine gewisse ironische Distanz zum Gegenstand oder zum eigenen wissenschaftlichen Tun. Für die im ersten Teil versammelten umfangreichen literaturhistorischen Beiträge gilt dies allerdings kaum; ihnen gelingt es meist, Verschränkungen von Politik und Literatur aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang sind vor allem Wolfgang Kleins Aufsatz "Als der Apparat nicht funktionierte, Geschichte der Vorbereitung des Pariser Schriftstellerkongresses 1935" und Lothar Knapps Beitrag "Blick zurück in eine unerledigte Geschichte, Kulturzeitschriften der Nachkriegszeit, Les Temps Modernes-Il Politecnico-Die Umschau" zu nennen. Gerade Letzterem gelingt es ganz hervorragend, die Nachkriegsdebatten um Freiheit der Kunst, Marxismus und Neorealismus im Spannungsfeld von Antifaschismus und beginnendem Kalten Krieg aufzuarbeiten.

Aus dem Rahmen fällt Giorgio Barattas interessanter Beitrag "Humanismus des Zusammenlebens. Ein neues Europa in der ,großen, schrecklichen Welt'", der, ausgehend von den progressiven Traditionen der europäischen Kulturgeschichte wie Renaissance und Aufklärung, Marx und Gramsci, versucht, die Grundzüge eines neuen europäischen Humanismus zu skizzieren. Barattas Essay ist ein Diskussionsangebot, im Dialog mit der Vergangenheit und auf Dialog mit interessierten Kollegen hoffend geschrieben. Ein schönes Beispiel für die in Deutschland weitgehend verlorengegangene Einsicht, dass literatur- und kulturwissenschaftliche Themen auch eine Relevanz jenseits der reinen Philologie besitzen.

Der umfangreiche zweite Teil der Festschrift ist ein Gemischtwarenladen; er enthält Aufsätze über Franz Jung und zahlreiche Einzelthemen sowie über die Avantgarden, um deren Erforschung sich Fähnders besonders verdient gemacht hat. Unter den interessanten Beiträgen, die das Themenfeld Avantgarde und Moderne thematisieren, ragen besonders Wolfgang Asholts Aufsatz "Theorien der Modernität oder Theorie der Avantgarde[n]" und Inge Münz-Koenens "Kreuzwege und Fluchtpunkte: Malevics Reise nach Berlin" besonders hervor.

Der abschließende Theorieteil neigt eher dazu, den interessierten Leser zu enttäuschen - darin ist er durchaus symptomatisch für den allgemeinen Zustand der Disziplin. Einzig der einleitende Beitrag von Utz Maas, "Orthographie bei den Anarchisten", ist amüsant zu lesen und zeigt, dass einst der Kampf der Anarchisten gegen die repressiven gesellschaftlichen Kontrollmechanismen auch den Kampf gegen die staatlich verordneten Rechtschreibregeln einschloss, ein Thema, das angesichts der Proteste gegen die reformierte Rechtschreibung sogar eine gewisse Aktualität besitzt. Jens Steutermann versucht in "Krebsgang und Gipfelglück. Das Diesseits des Expressionismus und das Jenseits der Avantgarde" nicht gerade überzeugend zu begründen, warum der Expressionismus keine Avantgarde war, unterlässt es dabei allerdings, die behandelten Phänomene zeitlich und begrifflich näher zu definieren. Der Theorieteil enthält darüber hinaus noch zwei Aufsätze über Benjamin und einen über Brecht, die allerdings wenig Neues enthalten. Inspiriert durch Benjamin und Brecht ist Karlheinz Barcks Schlussbeitrag ",Archäologie ist auch Maulwurfstätigkeit'. (Eine GedankenMontage)", der mehr der Logik des Kaleidoskops verpflichtet ist als der der Philologie - und so dem Leser am Ende noch ein angenehmes und intelligentes Leseerlebnis bietet.

Titelbild

Wolfgang Asholt / Rüdiger Reinecke / Erhard Schütz / Hendrik Weber (Hg.): Unruhe und Engagement. Blicköffnung für das Andere. Festschrift für Walter Fähnders zum 60. Geburtstag.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2004.
572 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3895284734

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