"Waren denn nicht bizarre Manieristen auch damals die tröstenden Erscheinungen?"

Ludwig Tiecks "Gestiefelter Kater" für kleine und große Kinder

Von Michael AnselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ansel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum so ängstlich, Herr Blume? Warum lassen Sie denn eine Fischerin, eine Schneiderin, einen Müller und einen Schlosser als Protagonisten des Theaterpublikums auftreten? Ludwig Tieck war auch nicht penibel auf seine Textvorlagen fixiert. Konnte er etwa bei Charles Perrault oder den Brüdern Grimm ein Publikum vorfinden? Sehen Sie! Heutzutage wird man doch selbst in einer mittelgroßen deutschen Stadt nicht mehr Schneiderin oder Schlosser, sondern Börsenanalyst, Controller, Manager oder Präsident eines Arbeitgeberverbandes. Diese vier Standort- und Marktfetischisten hätten ein respektables Publikum abgegeben. Die Leute wollen heutzutage auch nicht mehr guten Geschmack, Herr Blume. Sie wehren sich gegen Märchen, weil der Kapitalismus endlich auf ganzer Linie gesiegt und unter dem Banner der Globalisierung seine weltweite Mission angetreten hat. Das Geld ist unser Schicksal geworden. Da ist es einfach ärgerlich, wenn es einem ungebildeten Bauernburschen gelingt, gleich zum höchsten Staatsamt aufzusteigen. Was hat der Kerl denn geleistet? Während unsere Industriekapitäne ihre Spitzengehälter und unsere Politiker ihre Tantiemen für Aufsichtsratsposten und so genannte Nebentätigkeiten jederzeit rechtfertigen können, hat er einfach blödes Vertrauen in einen Kater investiert. Und schließlich lassen sich die neoliberale Schickeria und ihre Jeunesse dorée nicht mehr von den Klängen der "Zauberflöte" besänftigen, Herr Blume. "Phantom der Oper" wäre besser gewesen, und in den Kulissen hätte man währenddessen ein wenig Spielkasinoatmosphäre herbeizaubern können.

Sie sind also nicht ganz auf der Höhe der Zeit, Herr Blume. Auch Sie hätten, wie seinerzeit Tieck, Ihr parodistisches Talent an einem gegenwärtigen Publikum erproben sollen. Die Nutznießer des global vernetzten Marktes kommen sich mindestens ebenso aufgeklärt vor wie die zünftige Handwerkerehrbarkeit gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Immerhin war es klug von Ihnen, auf die in vielerlei Formen auftretende Gelehrten- und Literatursatire der Tieck'schen Vorlage zu verzichten. Dies weniger deshalb, weil die Gelehrten eine mittlerweile fast ausgestorbene Spezies darstellen und weil man die vom Literaturbetrieb nach oben gespülten Lafontaines und Kotzebues unserer Tage wohl in wenigen Jahren schon nicht mehr kennen wird. Vielmehr hätte eine solche Satire die Kapazitäten eines für Leser ab acht Jahren konzipierten Kinderbuchs überstiegen. Warum Sie aber "aus Gründen der besseren Verständlichkeit [...] alles, was auf der Bühne spielt, rot gedruckt, alles andere schwarz" präsentieren, ist nicht einleuchtend. Man braucht keine solche typografische Unterscheidung, um dem Stück folgen zu können - und schon gar nicht Kinder, die sich meist kreativer als Erwachsene zwischen den Polen der Wirklichkeit und der Fantasie bewegen. Außerdem wird diese Unterscheidung der besonderen Struktur von Tiecks Märchenkomödie nicht gerecht, die man gerade nicht streng in eine Rahmen- und eine Bühnenhandlung aufteilen kann. Und ein Letztes müssen wir monieren, Herr Blume, was nochmals Ihr Bedürfnis nach fragwürdiger Nähe zum Original betrifft: Warum greifen Sie auf kursiv gesetzte Zitate aus Tiecks Komödie zurück? Das war unnötig. Haben Sie so wenig Zutrauen zu Ihrem eigenen Erzähltalent? Verschärfend hinzu kommen Ihre problematische Neigung, auf sehr unspezifische Zitate zurückzugreifen - was soll es nutzen, wenn solche Allerweltsreden wie "Ich - liebe Dich" oder "Mächtiger König" durch ihre Kursivierung als Originalzitate kenntlich gemacht werden? - und der Umstand, dass sich bisweilen die historische Diktion Tiecks und Ihre Sprache aneinander reiben. Wenn der Kater sagt, "Ist so ein verliebtes Volk doch zu etwas gut in der Welt: Nun ist wenigstens das Publikum zufrieden", so entsteht hier und an vergleichbaren Stellen ein ungewollter, sachlich nicht begründbarer Stilbruch.

Die Illustratorin Jacky Gleich, der wir uns nun zuwenden wollen, lässt sich von den Unsicherheiten des Erzählers nicht anstecken, ohne ihm andererseits in den Rücken zu fallen. Zwar fehlt der von der Seite spähende Hofnarr im Schlusstableau des Stücks, ansonsten bilden Text und Bild jedoch eine sinnvolle Einheit. Das Wissen, dass die Welt eine einzige Kulissenverschiebungsmaschinerie ist, prädestiniert Jacky Gleich als Illustratorin für einen Text, welcher der Feder des Shakespeareomanen Tieck entstammt. Das Theatrum Mundi wird gleich eingangs unmissverständlich inszeniert. Wenn wir das Buch aufschlagen, sehen wir eine Litfasssäule irgendwo auf einem leergefegten städtischen Marktplatz, der die im Mittelgrund nach links und rechts außen abfallende Welt(kugel) bedeutet. Und wenn wir umblättern, werden wir an Bühnenarbeitern und Kostümen vorbei ins Theater geleitet: Wir wissen also jetzt schon, dass sich das folgende Theaterstück nicht nur auf, sondern auch vor der Bühne abspielen wird.

Die Maskenbildner- und Maschinistenkünste Jacky Gleichs können nicht genug gerühmt werden. Der Klappentext bezeichnet sie als "furios"- womit er ausnahmslos Recht hat, was bei Klappentexten bekanntlich nicht immer zutrifft. Grotesk sind schon die gedrechselten Nasen der vier Protagonisten des Publikums. Man kann sich vorstellen, dass die Herrschaften von der gebräunten Domina eines Fitnessstudios ebenso virtuos an der Nase herumgeführt werden wie der hochnäsige Prinz von dem gerissenen, schiefnasigen Kunstfälscher Eulenböck in Tiecks Erzählung "Die Gemälde". Arabesk ist der Mummenschanz, den der Besänftiger aufzubieten hat: Man sieht einen kopflosen Bären, einen als Rotkäppchen verkleideten Affen und ein vierbeiniges Unterleibsballett auf der Bühne tanzen. Pittoresk ist hier der schräge Bildausschnitt, der überdies bei einigen anderen Illustrationen die einzelne Seite übergreift und die Ordnung von Horizontale und Vertikale empfindlich stört. In Verbindung mit einer raffiniert primitiven Perspektivierung und einer Simultantechnik, die bisweilen mehrere, zeitlich hintereinander folgende Szenen in ein Bild rafft, erzeugt diese figuren-, raum- und zeitdeformierende Illustrationskunst einen bizarren, konventionelle Sehgewohnheiten desillusionierenden Manierismus. Im Gegensatz zum Publikum, das - mit der alleinigen Ausnahme des Schlossers - den König auf dem Thron und den Bauern auf dem Feld belassen will, beginnen wir zu ahnen, dass Oben und Unten lediglich Resultate soziokultureller Konventionen sind und dass man die Dinge mit Fantasie auch anders betrachten und in Bewegung versetzen kann.

Eine Frage haben wir allerdings, Frau Gleich: Der Dichter kommt nicht gut bei Ihnen weg. Er ist aalglatt wie ein Fisch und blaugrün im Gesicht, als ob er sich seines Werks schämte. Sie haben damit doch nicht Ihren Kollegen, Herrn Blume, porträtieren wollen, der mit Ihrer überbordenden Kreativität nicht Schritt halten konnte? Das wäre zu arg, da müssten wir ihn vor Ihrer Spottlust in Schutz nehmen. Sein Gespür für die Aktualität eines mehr als 200 Jahre alten Textes verdient Respekt. Diesen Text den kleinen und großen Kindern unserer Zeit neu zu erzählen, war eine wirklich gute Idee. Natürlich ist es schade, dass er Ihrer künstlerischen Kaprice keinen Börsenanalysten, Controller, Manager oder Präsidenten eines Arbeitgeberverbandes ausgeliefert hat. Sie hätten diese neoliberalen Narren, die ständig von Visionen, Fantasien und Philosophien sprechen und dabei ausschließlich an Gewinnmaximierung denken, in bester Tieck'scher Laune zu karikieren vermocht. Dennoch kommt das von Ihrem subversiven Manierismus verfolgte Anliegen, gewohnte Sicht- und Denkweisen aufzubrechen, auch so deutlich zur Geltung. Wir sind zuversichtlich, dass es bei fantasiebegabten, von der verarmten monetären Logik noch nicht kolonialisierten Kinderherzen auf fruchtbaren Boden fallen wird: "Waren denn nicht bizarre Manieristen auch damals die tröstenden Erscheinungen?" So fragt der junge Maler Dietrich in Tiecks bereits erwähnter Erzählung "Die Gemälde" - und es gibt in Anbetracht des im Kern immergleichen Theatrum Mundi keinen Grund zu der Annahme, dass diese Diagnose heute keine Gültigkeit mehr besäße.

Titelbild

Bruno Blume: Der gestiefelte Kater. Nach Ludwig Tieck. Mit Bildern von Jacky Gleich.
Kindermann Verlag, Berlin 2003.
48 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3934029213

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