Gerettet im Text

Anne Fuchs destilliert in ihrer Monografie die Ethik der Erinnerung im Werk von W. G. Sebald

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das wiederaufgebaute Deutschland ist für Sebald ein deprimierend bereinigtes Land ohne Randzonen, ohne jedwedes historische Gefälle und damit ohne kulturelle Erinnerung." Dieses bedenkenswerte Fazit stammt von der Literaturwissenschaftlerin Anne Fuchs, die in ihrer soeben erschienenen Monografie "Die Schmerzensspuren der Geschichte" erstmals eine Gesamtschau zur Poetik der Erinnerung in W. G. Sebalds literarischen und essayistischen Werken vorlegt. Sie wahrt eine wohltuend kritische Distanz zu ihrem Gegenstand, was in Kreisen der Sebald-Forschung als keineswegs selbstverständlich gelten kann. So ist es nur konsequent, wenn Fuchs im Anschluss an obiges Zitat nach Sebalds historischer Gedächtnistopografie fragt und dabei zu einem erstaunlichen Ergebnis gelangt. Denn Sebalds Zeitheimat sei der unmittelbare Nachkrieg, sein Deutschland sei gleichsam in den 50er Jahren erstarrt. Der umstrittene Essay "Luftkrieg und Literatur" sei daher als ein autobiografisch grundiertes Element einer "Sozialpathographie der Nachkriegsära" zu begreifen. Sebald habe sich, so Fuchs, selbst gegenüber den jüngsten geschichtlichen Entwicklungen indifferent gezeigt und die intervallartig ausgetragenen Gedächtnisgefechte - man denke beispielsweise an die Debatten, die Daniel Jonah Goldhagen oder Martin Walser auslösten - ignoriert. Zudem fehle der Blick auf die unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Ost und West, genauso wie der Fall der Mauer und das Ende des Kalten Krieges von Sebald unbeachtet blieben. Für ihn sei die große Zäsur einzig der Holocaust, den er als "Kulminationspunkt eines als katastrophal bewerteten Geschichtsverlaufs" auffasse. "Was bleibt", schreibt Anne Fuchs, "ist die Erinnerung an das erfüllte Davor."

Die Autorin lehrt an der Universität Dublin, weshalb sie unmittelbar mit der recht wundersamen Rezeption Sebalds im angloamerikanischen Raum konfrontiert ist. Dort wurde er mit dem "Etikett des Exilautors" versehen, der zwar deutsch schreibe, in Deutschland selbst aber als Außenseiter gelte. In dem "Das Sebald-Faszinosum" betitelten Eingangskapitel kommentiert Fuchs diese Aufnahme Sebalds auf dem so wichtigen englischsprachigen Buchmarkt, wo er fast ausschließlich als "Holocaustmahner" gelesen werde. Aus einer solchen Lesart entstehe "unweigerlich der Eindruck, daß es vor Sebald keinerlei ethisch und ästhetisch relevanten Erinnerungsdiskurs gegeben habe". Dass dem nicht so ist, muss offenbar eigens betont werden. Übrigens war sich auch Sebald durchaus darüber im Klaren, dass es unter den deutschen Dichtern schon vor ihm solche gegeben hat, die sich um einen ethisch und ästhetisch relevanten Erinnerungsdiskurs verdient gemacht haben, es sei nur auf seine Lektüre von Alexander Kluge hingewiesen.

Eins vorweg: Diese Monografie wird in der Flut an Publikationen über W. G. Sebald einen bleibenden Wert behalten, zumal sie sich nicht auf den fraglos zentralen Aspekt des Holocaust beschränkt, sondern sich in eigenen Kapiteln auch Sebalds Heimatbegriff, seinem Interesse am Biografischen sowie an Natur und Landschaft in dem Band "Die Ringe des Saturn" widmet. Das Buch von Anne Fuchs nimmt sich aber vor allem der Frage an, wie sich Ethik und Ästhetik in Sebalds Prosa verschränken. Sie versucht dabei den Grundlagen einer "Ethik der Erinnerung" auf die Spur zu kommen, die sich aus den Texten des früh verstorbenen Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers destillieren lassen. Sebalds enzyklopädischer Erinnerungskosmos ist womöglich nur vor dem Hintergrund des beginnenden Aussterbens der letzten überlebenden Zeugen des Massenmords zu verstehen. Was, so mag sich Sebald gefragt haben, passiert, sobald niemand mehr unter uns ist, der aus eigener Erfahrung Auskunft geben kann? Wie wird dann erinnert und wer übernimmt diese Erinnerung? Wird sich das Gedächtnis an den Genozid in einer Zeit ohne Zeitzeugen verändern? Noch lassen sich diese Fragen nicht beantworten, wie man etwa anlässlich des kürzlich begangenen 60. Gedenktages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz erkennen konnte. Gleichwohl scheint Sebald einer der ersten Autoren gewesen zu sein, dessen Schreiben sich um diese Fragen bekümmerte. Vielleicht hat Marcel Beyer in dem Essay "Holocaust: Sprechen" (1999) auch an seinen in England lebenden Kollegen gedacht, als er bekundete, eine Holocaust-Literatur werde eines Tages gänzlich ohne Zeitzeugen möglich sein, und diese Art Texte benötige dann die Bezeichnung Holocaust-Literatur nicht mehr. Anne Fuchs untersucht in diesem Zusammenhang die Frage, wie denn bei Sebald der "tote Andere" erinnert wird? Sie analysiert hierfür ausführlich den von Sebald installierten Erzähler, der fahrlässigerweise zumeist mit dem Autor in eins gesetzt wird. Ganz egal, ob dieser Erzähler von Paul Bereyter, von Max Aurach oder von Jacques Austerlitz berichtet. Es handele sich stets um das gleiche, nämlich um sich immer wiederholende komplexe Verfahren der narrativen Einbettung einer Opfergeschichte, das Fuchs so beschreibt: Sebald reflektiert ständig das Verhältnis zwischen dem Ich-Erzähler und dem Protagonisten. Dazu gehört nicht nur die genaue örtliche und zeitliche Lokalisierung des Kennenlernens beider, sondern darüber hinaus wird die Entwicklung der Beziehung meist ausführlich skizziert. Auch auf die Frage, wann und in welchem Kontext der Protagonist seine Geschichte erzählt hat, erhält der Leser immer eine Antwort. Typisch sei zudem die "teleskopische Staffelung mehrerer Erzählerinstanzen", besonders auffällig in "Austerlitz", sowie das "refrainartige Herausstreichen des Erzählten", das Vermittlungscharakter besitze. Sebald will mit diesem für den Leser manchmal ermüdenden Verfahren vor allem eins deutlich machen: Erzählen ist zugleich schmerzhafte Erinnerungsarbeit. Eine Tatsache, die Sebald bei seiner Beschäftigung mit Jean Améry und Primo Levi deutlich geworden sein dürfte, denn beide taten sich sehr schwer mit der Entwicklung vom stummen zum beredten Zeugen. Sebald, so Fuchs, etabliere gewissermaßen einen therapeutischen Erzähler, der nur mit einem Historiker vergleichbar sei, der vor dem "affektiven Bezug auf den Anderen" nicht zurückschrecke. Sebald wolle mit dieser Parteinahme die "empathetische Verstörung" des Lesers erreichen. Seine Ethik der Erinnerung sei deshalb als "moralischer Imperativ" zu bezeichnen.

Zu Sebalds Arbeit an der Erinnerung zählt Anne Fuchs auch ein Verfahren, das sie Poetik der Verrätselung nennt. Es mag prima vista überraschen, warum ausgerechnet seine ausgefeilte "Technik der falschen Spuren", die den detektivisch veranlagten Leser Sebalds bisweilen zur Verzweiflung treiben kann, als konstituierend für dessen Erinnerungsstrategie gelten soll. Wer sich aber den vergeblichen Versuch von Austerlitz, seiner Mutter in dem traurig-berühmten Propagandastreifen über das Ghetto Theresienstadt ansichtig zu werden, ins Bewusstsein ruft, soll sich eingestehen, dass er mit der Erregung des Protagonisten dieser falschen Fährte gefolgt ist. Diese Form der Erinnerungsarbeit durch Fotos und Film hat zudem einen nicht zu unterschätzenden Realitätseffekt für den Leser. Dazu sei mir eine persönliche Anmerkung gestattet: Als ich anlässlich eines Sebald-Seminars Fragmente des von der SS in Auftrag gegebenen Films zeigte und das Band an den Stellen stoppte, die Sebald als Standfotos in seinem Buch zur Abbildung bringt, sah ich ausnahmslos in Gesichter blanken Entsetzens. Das steht für die hochgradig identifikatorische Lektüre der Texte aus Sebalds Feder. Der "unabschließbare Beziehungswahn" des Sebald'schen Erzählers, der sich wie ein Virus auf den Rezipienten überträgt, ist die Grundlage einer virtuosen "Vernetzungsästhetik", wie Anne Fuchs nahelegt. Sebald schaffe in der Synopse unterschiedlicher Dinge unerwartete Korrespondenzen, an die sich vorbewusste Erinnerungsreste haften. Zum ethischen Aspekt der Erinnerung gehört in dieser Hinsicht vor allem die Suche nach vergessenen Geschichtsdetails - darin dürfte Sebald dem Konzept der historischen Spur von Walter Benjamin gefolgt sein.

Es dürfte hingegen kaum verwundern, dass Fuchs auch die intertextuelle Mnemotechnik als wesentlichen Bestandteil der Sebald'schen Poetik der Erinnerung betrachtet. Sie geht mit der Rätselhaftigkeit der Texte sogar ein Bündnis ein. Denn, so liest man, Sebalds Zitatenkosmos beabsichtige keine Datenhäufung. "Im Gegenteil: Die den Text charakterisierenden Querverweise produzieren zwar immer neue inter- und außertextuelle Korrespondenzen, aber diese bauen den Fremdheitscharakter der dargestellten Welt gerade nicht ab, sondern verstärken ihn ins Gespenstische." Die von Sebald aufgesuchten Prätexte dienen, wie Fuchs herausstellt, "immer zur hyperbolischen Steigerung der Unbegreiflichkeit des Geschichtsverlaufs". Ganz gleich, ob es sich um Amérys Text "Die Tortur" handelt oder um H. G. Adlers Standardwerk über Theresienstadt. "Das Gedächtnis des Textes ist seine Intertextualität", heißt es dazu bei Renate Lachmann. Sebald bedient sich aber nicht nur des jeweiligen Gedächtnisreservoirs der mehr oder weniger intensiv markierten Prätexte, sondern unterstützt damit sein ausgeklügeltes Netz an Leitmotiven. Dies ist zwar keine neue Erkenntnis, aber Anne Fuchs gebührt das Verdienst, diesen Befund mit der Hauptaufgabe von Sebalds Ethik der Erinnerung zu verknüpfen, nämlich der Entlassung der Opfer "aus der gesichtslosen Anonymität". Wahrhaft eine Sisyphusarbeit. Der Historiker Dan Diner hat in seinem Buch "Gestaute Zeit" (1995) geschrieben, dass es sich bei der fabrikmäßigen Vernichtung von Menschen um die "millionenfache Stanzung von Lebensgeschichten in ein gleichförmiges tödliches Schicksal" gehandelt habe. Intertextualität bei Sebald, so definiert Anne Fuchs folgerichtig, bedeute "eine Form des Engagements, die in einer doppelten Bewegung die Vorlage aus einem Gegenwartsinteresse heraus modelliert, andererseits aber auch die Gegenwart mit den Maßstäben vergangener Epochen betrachtet".

Nur kurz umreißt Anne Fuchs 'bricolage' als Erinnerungsprinzip. "Ich arbeite nach dem System der bricolage - im Sinne von Lévi-Strauss", hatte Sebald in einem von Sigrid Löffler geführten Interview geäußert. "Das ist eine Form von wildem Arbeiten, von vorrationalem Denken, wo man in zufällig akkumulierten Fundstücken so lange herumwühlt, bis sie sich irgendwie zusammenreimen." Fuchs vergleicht dieses Verfahren mit dem Trödelladenprinzip - eine vertretbare Metapher für einen Begriff, der mit Bastelei zu übersetzen wäre. Freilich bezieht sie sich - um ihre Adaption des Terminus auf Sebald zu erläutern - nicht nur metaphorisch auf den Trödelladen, sondern sie weist auf jene Szene hin, in der Austerlitz in Theresienstadt vor dem verschlossenen Geschäft namens Antikos Bazar steht und sich ausführlich mit den Gegenständen in der Auslage beschäftigt: "Insofern diese bricolage", schreibt Fuchs, "das Prinzip der Über- und Unterordnung durch gleichwertiges Nebeneinander des Ausgestellten ablöst, führt sie eine wesentlich metonymische Mnemotechnik vor, die in der Verschiebung die Erinnerungsspur lebendig hält." Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die ausgestellten Stücke zu verstehen seien "als gespenstische Chiffren eines in Auschwitz ausgelöschten Vorlebens". Das stimmt zweifelsohne. Man könnte den Schaufensterinhalt mit der Effektenkammer - unter der Bezeichnung "Kanada" bekannt - in Auschwitz vergleichen. Die Vermehrung der Gegenstände bedeutete den Tod von immer mehr Menschen. Sie sind gleichsam ein Abbild des Genozids. Aber damit ist die Form des Gedenkens nicht festgelegt. Denn das krude ist, dass auch die Nationalsozialisten - die Mörder selbst - Dinge aus jüdischem Besitz metonymisch für die Ermordeten betrachtet haben. Etwa mit ihrem Projekt des Jüdischen Museums Prag, von dem H. G. Adler in seinem autobiografischen Roman "Die unsichtbare Wand" berichtet. Dort heißt es: "Die Lebenden wurden getötet, ihre Vergangenheit in Stein, Bild, Buch, Gerät [...] wurde gesammelt, gepflegt und zum Leben erweckt." Leider vergewissert sich Fuchs nicht beim Urheber des Begriffs 'bricolage', den Claude Lévi-Strauss in seinem Buch "Das wilde Denken" (dt. 1968) geprägt hat, und der sich demnach definiert als "Tätigkeit, Altes, das unbrauchbar geworden ist, aus seinen ursprünglichen Zusammenhängen herauszunehmen und durch einfallsreiche Kombination einer neuen Intention dienstbar zu machen. Der bricoleur erschafft nicht aus dem Nichts, sondern indem er auf ein Arsenal von schon Vorhandenem zurückgreift und dieses 'umfunktioniert'." Tatsächlich hatten die Nationalsozialisten nach einer "erfolgreichen" Durchführung des Massenmords an den Juden keineswegs daran gedacht, mit ihren Taten hinter dem Berg zu halten, wie Martin Rupnow in seiner instruktiven Studie "Täter, Gedächtnis, Opfer" (2000) gezeigt hat. Er stellte dabei die Frage: "Wie fügt ein Staat seine Verbrechen in seine nationale Erinnerungslandschaft ein?" Beispielsweise mit Hilfe eines Museums, in dem, wie Lévi-Strauss sagt, auf ein Arsenal von schon Vorhandenem zurückgegriffen und dieses "umfunktioniert" wird. Das wäre eine Form von bricolage. Unter negativen Vorzeichen. Ein unglücklich gewähltes Beispiel also. Denn bei Sebald verhält es sich anders. Er trachtet vielmehr danach, die ursprünglichen Zusammenhänge wiederherzustellen: Wenn sich sein Held Austerlitz über den Theresienstädter Nippes den Kopf zerbricht, so will er das von ihm betrachtete Sammelsurium den nationalsozialistischen bricoleuren gleichsam entreißen und zeigen, wie die Umgebung dieser Dinge ausgesehen hat, als deren Besitzer noch am Leben waren. Sebald ist eben "Rettungsethnograph", wie Anne Fuchs zu Recht konstatiert. Über das Tagebuch der Luisa Lanzberg aus der Erzählung "Max Aurach" heißt es deshalb: "Der Andere ist verloren im Zerfallsprozeß von Zeit und Raum, jedoch gerettet im Text."

Titelbild

Anne Fuchs: Die Schmerzspuren der Geschichte. Zur Poetik der Erinnerung in W. G. Sebalds Prosa.
Böhlau Verlag, Köln 2004.
224 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3412081043

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