Antisemitischer Glaube und kühle Instrumentalisierungen

Adolf Stoecker und Joseph Goebbels als Prediger des Antisemitismus

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Brauchbare Biographien über die meist höchst uninteressanten führenden Persönlichkeiten der antisemitischen Bewegung [im wilhelminischen Reich] gibt es wenige." Dieser ernüchternde Befund Peter G. J. Pulzers findet sich im Forschungsbericht zur Neuauflage seiner Studie "Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1967 bis 1914", einem Klassiker der frühen Antisemitismusforschung (1964). Als Ausnahmen nennt er lediglich Moshe Zimmermanns Biografie über Wilhelm Marr und eine Studie über Adolf Stoecker, die gemeinsam von Werner Jochmann, Günter Brakelmann und Martin Greschat verfasst wurde. Brakelmann hat nun zu Stoecker, dessen Wirkung oftmals salopp mit der Formel, er habe den Antisemitismus erst "hoffähig" gemacht, beschrieben wird, ein "Lese- und Arbeitsbuch" vorgelegt.

Das Arbeitsbuch bietet zunächst eine chronologische Liste biobibliografischer Angaben, die in den gesellschaftlich-historischen Kontext seiner Zeit eingeordnet werden, stellt dann Stoeckers Lebensstationen mit Kurzskizzen wichtiger Reden und Schriften dar und schließt mit einer wiederum chronologischen Übersicht über die Forschungsliteratur. Brakelmann will entgegen älterer Literatur Stoeckers Judenfeindschaft nicht marginalisieren oder beschönigen; dies betrifft vor allem die kirchengeschichtliche Forschung, die sich vielfach auf die Bedeutung des Kirchenmanns und sozialkonservativen Reformers, der er unbestritten auch war, konzentriert hat. Deshalb stellt Brakelmann den Antisemitismus als Lebensthema Stoeckers seit den siebziger Jahren heraus, das sich mit seinem Kampf gegen Liberalismus, Sozialismus und Sozialdemokratie und das "Antichristentum" verband. Für Stoecker war die antisemitische Agitation zentraler Bestandteil nicht nur der "sozialen Frage" und des sozialreformerischen Engagements, sondern grundlegend eingebunden in eine alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende "Kulturfrage". Der Antisemitismus wirkte dabei sogar als Kitt im Konfessionskampf, sowohl im "Social-Verein" als auch ab 1878 in der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei.

Brakelmann streicht zu Recht heraus, dass diese Funktion des Antisemitismus als umfassende und integrativ wirkende Weltanschauung über den Nationalismus vermittelt ist. Gleichzeitig bemüht er sich auffällig darum, Stoecker von radikalen Positionen des Antisemitismus in der Kaiserzeit abzusetzen und die theologische Begründung des Antijudaismus zu betonen. Während der Rasse-Antisemitismus eine grundsätzliche Verschiedenheit zwischen Deutschen und Juden postuliere, die logisch die Vernichtung der Juden bedeute, könne nach Stoeckers Ansicht jeder Jude Deutscher werden, wenn er Christ werde. Um diese Behauptung zu belegen, wäre jedoch eine eingehendere Interpretation von Stoeckers Reden, etwa von "Unsere Forderungen an das moderne Judentum" (1879), sinnvoll gewesen, da die Abgrenzung von "Juden" und "Deutschen" - im Gegensatz zu 'Christen' vs. 'Juden' - an rassische Kategorisierungen anschließt. Da Brakelmann an anderer Stelle explizit darauf hinweist, dass Stoecker in antisemitischen Reden den Rassenbegriff benutzt, hätte hier eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Rassismus-Konzepten hilfreich sein können. Die Frage bleibt unbeantwortet, inwiefern Stoecker ganz bewusst durch das Changieren zwischen unterschiedlichen Standpunkten seine Position für möglichst viele Wähler anschlussfähig machen wollte. An solchen Punkten wird zum einen die Begrenztheit der Gattung "Arbeitsbuch", die eine Auseinandersetzung mit Forschungsstandpunkten ausspart, offensichtlich. Dies zeigt sich insbesondere auch bei der Aufzählung antisemitischer Standpunkte, die vom Verfasser mit der Überschrift "zeitgenössischer Kanon antisemitischer Polemik" versehen wurde. Die Zusammenstellung bietet keinerlei Ansatzpunkte, um Stoecker in einem weiten Spektrum der kaiserzeitlichen Antisemitismen zu verorten. Auf diese Weise bleibt die Darstellung trotz ihrer Ausführlichkeit in vielem schlaglichtartig und erhält unfreiwillig sogar apologetische Züge. Darüber hinaus versäumt Brakelmann leider an vielen Stellen, Stoeckers Positionen und sein eigenes Referat dieser Positionen sorgfältig zu unterscheiden. Er betont allzu oft das Selbstverständnis des Sozialpolitikers Stoecker, der sich etwa in der Auseinandersetzung im Reichstag von radikalen antisemitischen Positionen vehement abgrenzt und sich verleumdet fühlt, und erklärt etwa: "Die Liberalen haben es schwer, Stoecker abzunehmen, dass er nicht Rassenantisemit, sondern ohne Hass und Hetze ein verantwortlich denkender Christ in politischer Verantwortung ist." Nun, nicht nur den Liberalen, möchte man hier hinzufügen. Über die besagte "Forderungen"-Rede schreibt Brakelmann: "Und es ist die Rede eines Mannes, der von der Überzeugung lebt, dass er nicht nur seine eigene Lebensaufgabe gefunden hat, sondern als historische Sendung seines Vaterlandes beschreibt, den jüdischen Sauerteig aus dem deutschen öffentlichen Leben auszutreiben." Derartige Zitate ließen sich beliebig fortführen, weshalb dieses Lese- und Arbeitsbuch, das sich ja gerade auch an Studierende richtet, nur eingeschränkt empfohlen werden kann.

An Biografien zu Akteuren des Dritten Reiches mangelt es wahrlich nicht. Christian Toni Barth kann daher in seiner Monografie "Goebbels und die Juden" (2003) gleich zu Beginn feststellen, dass sein Quellenmaterial gut aufgearbeitet ist und darunter auch die Goebbel'schen Tagebücher bereits mehrfach von der Forschung untersucht wurden. In diesen Tagebüchern sieht Barth eine grundlegende Quelle, weil sie mit "perspektivischen Brechungen" Aufschlüsse über Einstellungen, Handlungsmotive und machtpolitische Interna geben könnten. Er geht dabei von einem gewissen Freiraum der Darstellung aus, da Goebbels die Tagebücher zwar für eine Publikation vorgesehen hatte, aber zuvor noch überarbeiten wollte.

Barth geht es vor allem darum, den in der Forschung umstrittenen Stellenwert von Goebbels' Antisemitismus zu klären und positioniert sich dabei genau zwischen zwei Stühlen, sprich: Forschungsmeinungen. Goebbels' antijüdisches Weltbild sei "authentisch" gewesen, aber er habe es durchaus unterschiedlich instrumentalisiert. Barth zeichnet überzeugend nach, dass Goebbels seit 1926 ein festes antisemitisches Weltbild hatte, in dem die Juden als Gegenbild zum Ideal der Volksgemeinschaft fungierten; unter dem Einfluss Hitlers verband es sich mit dem Antibolschewismus zu einer schlagkräftigen Propaganda. Goebbels' Antisemitismus war also keinesfalls rein opportunistisch, auch wenn er, wie bei anderen nationalsozialistischen Funktionsträgern auch, zwischen Fanatismus und Pragmatismus changierte. Dass sich dabei eine generelle Vernichtungsabsicht vor 1942 nicht nachweisen lasse, erscheint an einigen Stellen fragwürdig; Barth stellt jedoch zu Recht in Frage, welchen generellen und direkten Einfluss Goebbels auf nationalsozialistische Entscheidungsträger hatte. Er postuliert dabei eine Sonderstellung von Goebbels gegenüber anderen nationalsozialistischen Führungspersönlichkeiten, die jedoch im Rahmen der Arbeit, wie Barth auch selbst feststellt, im Grunde nicht belegt werden kann.

In "Goebbels und die Juden" entsteht das Bild eines Propagandaministers, der einerseits nur allzu willig dem Einfluss Hitlers erlag und in vorauseilendem Gehorsam agierte, andererseits aber eigenständige Handlungsfelder suchte und aus eigenem Antrieb handelte, der vielfältige Register von propagandistischem Einfluss beherrschte, von der zum Gewalteinsatz anheizenden Massenagitation bis zur persönlichen sachlichen Auseinandersetzung im kleinen Kreise. Barth urteilt also über Goebbels Charakter, zeigt jedoch die konkreten Handlungsmotive und Handlungsspielräume auf. Psychologische Kategorien ("authentischer" Antisemitismus) und pragmatisch-machtpolitische (Antisemitismus als zweckrationales Mittel der Politik) werden also nicht gegeneinander ausspielt, sondern in Einklang gebracht. Auf diese Weise kann Barth betonen, dass es Charaktermerkmale gab, die Goebbels Antisemitismus beeinflussten, aber sich dann ganz auf Goebbels' antisemitische Einstellung mit Blick auf deren Herrschaftscharakter und Mechanismen in der konkreten Handlungspraxis konzentrieren.

Titelbild

Christian T. Barth: Goebbels und die Juden.
Schöningh Verlag, Paderborn 2003.
315 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3506705792

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Günter Brakelmann: Adolf Stoecker als Antisemit. Teil 1: Leben und Wirken Adolf Stoeckers im Kontext seiner Zeit.
Verlag Hartmut Spenner, Waltrop 2004.
296 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3899910176

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