Nationalismus und Antisemitismus

Über "nationalen Antisemitismus" und die Frage nach dem deutschen Sonderweg

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage nach dem Zusammenhang von Nationalismus und Antisemitismus hat Tradition in der Antisemitismusforschung, stellte sie doch schon Hannah Arendt in "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (1955). Gleichwohl gehörte sie zu den lange vernachlässigten Forschungsfeldern, die erst in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Dabei richtet sich der Blick nicht in erster Linie auf Fremdzuschreibungen, sondern auf Selbstzuschreibungen, also die Eigen-Konstruktion der "Wir"-Gruppe. Dieses Thema hat Klaus Holz in seiner Studie "Nationaler Antisemitismus" aus dem Jahr 2001 bearbeitet, die für unterschiedliche Disziplinen wichtig und anschlussfähig ist, wie nicht zuletzt ihre Erwähnung in mehreren Forschungsrückblicken des 2004 erschienenen Sammelbandes "Antisemitismusforschung in den Wissenschaften", herausgegeben von Werner Bergmann und Mona Körte, zeigt. Eine andere Fragestellung aus diesem Kontext von Nationalismus und Antisemitismus verlor nie an Aufmerksamkeit: Die Frage nach einem 'deutschen Sonderweg'', d. h., ob es in der Vorgeschichte des Dritten Reiches besondere Entwicklungen gab, die zum Vernichtungsantisemitismus führten. Sie stellt auch Philippe Burrin mit seinem 2004 erschienenen Essay "Warum die Deutschen? Antisemitismus, Nationalismus, Genozid" noch einmal.

Nationalismus als integratives Konzept für Antisemitismen

Holz betrachtet den Antisemitismus als eine "Weltanschauung, die durch die Verbindung eines nationalen Selbst- und eines jüdischen Fremdbildes zustande kommt". Der Titel "Nationaler Antisemitismus" ist insofern programmatisch, als Holz dafür plädiert, statt von einem modernen von einem "nationalen Antisemitismus" zu sprechen, da in der nationalen Semantik das konstitutive Moment des Antisemitismus liege und diese unterschiedliche Formen des Antisemitismus von Rassismus bis Antizionismus umfasse. Im Anschluss an systemtheoretische Überlegungen Niklas Luhmanns versteht Holz Semantik als einen Vorrat an Sinnverarbeitungsregeln, der relativ unabhängig von spezifischen Kontexten verwendbar sei. Holz zeigt Gegensatzpaare auf, in denen die "Wir"-Gruppe in der national-antisemitischen Semantik konstituiert wird, zu den prominenten gehören: Gemeinschaft vs. Gesellschaft, Identität vs. Nicht-Identität, Opfer vs. Täter. Die nationale Semantik ist als Machtkommunikation wirksam, und ihre zentrale Funktion liegt in der Komplexitätsreduzierung.

Die Frage, inwiefern sich im Verhältnis zur politischen Praxis, die sich im Nationalsozialismus zu einem Vernichtungsantisemitismus wandelte, auch eine entsprechende Veränderung der Semantik zwischen dem wilhelminischen Reich und Hitler findet, beantwortet Holz ebenso knapp wie eindeutig: Die Veränderungen sind gering. Dies ist insofern nicht besonders überraschend, als schon Werner Bergmann und Reinhard Rürup in ihrer Studie "Die Nachtseite der Judenemanzipation" (1989) aufgezeigt hatten, dass bereits im Vormärz eine Semantik der Vernichtung ausgebildet war. Aus dieser Perspektive ist nicht ganz klar, warum Holz mit Heinrich von Treitschkes Schrift "Unsere Aussichten" (1879) einsetzt und sich damit für die Untersuchung des "postemanzipatorischen Antisemitismus", den Zeitraum nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden, entschieden hat. Zwar ist sich die Forschung weitgehend einig, dass der moderne Antisemitismus mit dem Aufkommen antisemitischer Parteien und dem Beginn der modernen Massenpolitik anzusetzen ist. Doch die Konzentration auf die Semantik wirft ja genau die Frage auf, inwiefern denn veränderte, und seien es radikal veränderte Kontexte, tatsächlich auch mit einer Veränderung der Semantik einhergehen. Daher hätte es eigentlich nahe gelegen, die nationalen Elemente des Antisemitismus, wie sie etwa schon in Achim von Arnims Rede "Über die Kennzeichen des Judentums" (1812) zu finden sind, über die Rhetorik von 1848 bis zur Reichsgründung mit in den Blick zu nehmen und damit die Entwicklung zum Antisemitismus als "Welterklärungsmodell" mit der Bedeutung des Nationalismus zu koppeln. An diesem Punkt wird deutlich, wie wichtig es ist, Kontinuität und Differenz 'des'' Antisemitismus nicht verkürzt zu diskutieren, sondern jeweils genau zu unterscheiden, welche Aspekte beleuchtet werden: Betrachtet man das antisemitische Denken und die Semantik, spricht vieles dafür, gerade im Hinblick auf 'nationale'' Denkmuster, Kontinuitäten und Variationen stärker zu betonen. Wer sich mit antisemitischer Semantik beschäftigt, hat guten Grund, 'größere'' Linien zu ziehen, ohne damit die Bedeutung veränderter historischer Rahmenbedingungen und Kontexte zu leugnen; solchen Untersuchungen antisemitischer Rede vorzuwerfen, dass sie nichts über die antisemitische Praxis aussage, wäre ein Kategorienfehler. Das entledigt allerdings umgekehrt die textorientierte Antisemitismusforschung in keiner Weise der Frage, wie über den Bezug auf zeitspezifische Kontexte bestimmte vermittelte Sinnstrukturen Bedeutung in sozialer Praxis gewannen oder welche strukturell-gesellschaftlichen Veränderungen der Vermittlungsstrukturen - etwa Propaganda etc. - eine Rolle spielen.

Der Wert von Holz'' Studie liegt in erster Linie in den akribischen Textanalysen. Sie erbringen den Nachweis, dass sich das Denken des Nationalismus wie ein roter Faden durch die Geschichte des Antisemitismus seit der Reichsgründung (erst dann?) zieht und sich mit anderen Begründungsformen verbindet. Betrachtet man den Sammelband "Antisemitismusforschung in den Wissenschaften" fällt auf, dass Holz'' Arbeit ausgerechnet in den Beiträgen, die sich der Literatur- und Sprachwissenschaft widmen, leider nicht besprochen wird, obwohl sich hier eine Diskussion aus interdisziplinärer Perspektive besonders angeboten hätte. So wäre etwa noch einmal zu fragen, was Holz'' Analyse der "Sinnverarbeitungsregeln", mit denen er die "nationalistische Transformation" antijüdischer Wissensbestände zum modernen Antisemitismus beschreibt, gegenüber einer Analyse der Topik auszeichnet. Oder welches Anregungspotenzial die These, es gebe ein "generalisierbares Regelwerk" des Antisemitismus, für den von Mona Körte geforderten Blickwechsel der Germanistik von der Motivgeschichte - Judenbilder - zur Untersuchung eines "spezifisch literarischen Antisemitismus" bieten könnte. Darüber hinaus ließe sich auf der Basis von Holz'' Befund, wie wichtig der Nationalismus für das antisemitische Denken ist, wiederum für Differenzierungen plädieren: Denn das Denken des Nationalismus ist zwar eindeutig ein roter Faden, aber es ist, wie Holz'' eigene Analysen zeigen, unterschiedlich zu gewichten und verbindet sich bei den einzelnen Akteuren mit durchaus verschiedenen Motiven für antisemitische Agitation.

Ein deutscher Sonderweg?

Philippe Burrins Essay "Warum die Deutschen? Antisemitismus, Nationalsozialismus, Genozid", hervorgegangen aus Vorträgen am Collège de France, will untersuchen, warum es ausgerechnet in Deutschland zum Verbrechen des Holocaust kam. Seine zentrale Frage ist, welche Bedeutung man dem Antisemitismus tatsächlich für den Völkermord zusprechen könne.

Burrin erkennt zunächst in dem Zusammenspiel von positivem Selbst- und negativem Fremdbild einen grundlegenden Mechanismus, der das Potenzial zur Radikalisierung enthalte: "Je mehr die Juden als negativer Bezugsrahmen für die Definition einer Identität dienten, desto gefährlicher war der daraus resultierende Antisemitismus." Da sich der moderne Antisemitismus dadurch auszeichnet, dass er zum umfassenden Welterklärungsmodell avanciert, kommt dem Zusammenspiel von nationalem Eigenbild und Fremdbild zentrale Bedeutung zu. Im vergleichenden Blick auf die Entwicklung in Frankreich stellt Burrin heraus, dass die Abschaffung der Demokratie und eine nationale Krise die Ausbreitung des Antisemitismus jeweils beförderten. Dass sich der Antisemitismus in Deutschland jedoch besonders radikal entwickeln konnte, liegt nach Burrin an einer tiefgreifenden Identitätskrise, die sich aus mehreren Faktoren zusammensetze: Aus der "deutschen Frage" seit 1848, aus der Bedeutung, die der Religion in Sachen nationaler Identität zukam, und aus einer ausgeprägten "autoritären Kultur". Hinzu kam das Dilemma, dass die "neu erfundene Identität: die des Ariers, des Germanen oder auch des nordischen Menschen" nicht durch Tradition verbürgt und daher besonders fragil gewesen sei.

Von diesem bunten Konglomerat, das viele Fragen offen lässt und einen willkürlichen Eindruck hinterlässt, geht Burrin zur nationalsozialistischen Propaganda über. Die umfassende 'Impfung'' der Bevölkerung sei erfolgreich gewesen und habe zu einer allmählichen Identifizierung der deutschen Bevölkerung mit der NS-Ideologie geführt. Den Grund dafür sieht er in dem "synkretistischen" Antisemitismus Hitlers, den die Bevölkerung weitgehend übernommen habe; Burrin spricht sogar von der Ausprägung einer "NS-Identität" in der deutschen Gesellschaft. Die Ausführungen über die apokalyptische Weltsicht Hitlers und über den pseudo-religiösen Charakter der nationalsozialistischen Ideologie sind wenig überraschend, dagegen irritieren Sätze wie: "Zunächst überrascht der totalitäre Charakter" von Hitlers Ideologie, oder auch: "Hitlers Ideologie erstaunt zweitens dadurch, dass sie der Politik Priorität einräumt". Inwiefern die Frage nach der Kohärenz von Hitlers Ideologie wirklich eine Rolle für den Erfolg der nationalsozialistischen Propaganda spielen sollte, diskutiert er nicht. Einzelne Aspekte seiner Darstellung sind zweifelsohne richtig und korrigieren nebenbei auch anders lautende Aussagen des Autors. Etwa wenn Burrin am Schluss seines Buches davon spricht, es habe genügt, dass die Deutschen "eine Kultur des Ressentiments verinnerlichten, das den Juden die Rolle des negativen Gegenbildes zuwies, damit deren Schicksal nicht mehr als flüchtiges Mitgefühl aufkommen ließ." Diese Form einer extremen Indifferenz gegenüber den Opfern ist sicherlich auf propagandistische Effekte zurückführbar, aber eben etwas völlig anderes als die Behauptung, die deutsche Bevölkerung hätte eine NS-Identität übernommen.

Der Autor versteht seine Publikation als Vorstudie zu einem größeren Werk. Es bleibt zu hoffen, dass er sich darin stärker mit den Ergebnissen der Antisemitismus- und Holocaustforschung auseinandersetzt.


Titelbild

Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung.
Hamburger Edition, Hamburg 2001.
615 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3930908670

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Philippe Burrin: Warum die Deutschen? Antisemitismus, Nationalsozialismus, Genozid.
Propyläen Verlag, Berlin 2004.
144 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3549072325

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