Geometrie des Antisemitismus

Ein Sammelband zur umkämpften Formel vom Neuen Antisemitismus

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Herausgeber des vorliegenden Tel Aviver Jahrbuchs 2005 für deutsche Geschichte und Leiter des Instituts für Deutsche Geschichte an dortiger Universität Moshe Zuckermann titulierte sich selbst einmal an anderer Stelle als Nicht-Zionist. Die zionistische Idee und historische Notwendigkeit affirmierend, bedeute das eine Zurückweisung des realpolitischen Zionismus der Jetztzeit. Um Zionismus, Antizionismus und das, was in der Wundertüte des Antizionismus noch so alles steckt, darum geht es in diesem von der Debatte um einen Neuen Antisemitismus deutlich affizierten Band. Dieser Neue Antisemitismus wird im Wesentlichen an islamistischen und linken Trägergruppen festgemacht und soll einen Antisemitismus bezeichnen, der sich häufig antizionistischer Argumentationen bedient, hinter diesen aber durchaus erkennbar ist. Ob man es also tatsächlich mit einem Camouflage-Antisemitismus zu tun hat, der zudem als ideologische Struktur zu begreifen ist, oder nur mit einem sich aus dem Nahost-Konflikt ergebenden Antizionismus ohne doppelten Boden, das ist hier die Frage. "Das ist hier die Frage" - ein Stichwort, bei dem nicht zuletzt in Lubitsch-Filmen Menschen den Saal verlassen, doch die Diskussion in vorliegender Publikation ist trotz einer in der öffentlichen Aufmerksamkeit bereits zu spürenden Erlahmung des Interesses überaus spannend und lohnenswert.

Im deutschen Diskurs geriet Zuckermann zuletzt zwischen die Fronten einer Fraktion, die unter dem Deckmantel realpolitischer Kritik Israel radikal in Frage stellte, einerseits und den Angriffen gegen seine Rolle als israelkritischer Stichwortgeber durch die antideutsche Linke andererseits. In seinem Editorial nun macht er aus seiner Position in der Debatte über die Morphologie und Ätiologie eines zeitgenössischen Antisemitismus kein Geheimnis. Antisemitismus müsse natürlich überall da, wo er seine hässliche Fratze zeige, bekämpft werden, aber das dürfe nicht zu einem Ablassen von der unerlässlichen Kritik an Israel führen. Auszuschließen sei es nicht, dass sich Israel- und Zionismuskritik als verbrämter Antisemitismus erwiesen, jedoch erwartet er zunächst anzuerkennen, dass es in der Folge des Nahost-Konfliktes einen Dauerzustand von Repression und perennierender Leiderfahrung gibt, "bei dem Israel macht-, gewalt- und herrschaftspolitisch objektiv die Rolle des Unterdrückers zukommt." Eine antisemitisch grundierte Kritik Israels scheint ihm also nicht unmöglich, aber die in diesem Sinne argumentierenden Stimmen scheinen sich ihm eher in einen "erprobten Selbstviktimisierungs"-Diskurs Israels zu fügen. Endgültige Zufriedenheit im israelischen Diskurs will er erkennen infolge der Erstarkung des islamischen Antisemitismus, der es zulasse, israelisches Unrecht umso selbstgerechter zu perpetuieren. Ohnehin wäre es ihm lieber, ideologische Erklärungen für die islamische Positionierung, sprich Antisemitismus, zu exkludieren und sie stattdessen kausal aus dem Konflikt erklärt zu sehen und als bloßes antiisraelisches Ressentiment in die Selbstverschuldetheit Israels zu überführen. Befürchtungen, diese Verwerfungen oder doch zumindest starken Relativierungen der jüngst diskutierten Neuantisemitismusthesen seien Leitlinie oder Maßgabe für die versammelten Beiträge, sind jedoch unangebracht. Denn neben bekannten Opponenten der Behauptung eines neuen Antisemitismus wie Ilan Pappe oder Brian Klug wurden auch Befürworter ins Buch geholt.

Der Baseler Historiker Georg Kreis macht jedoch den Auftakt und fährt sogleich schweres Diskursgeschütz auf. Nein, betont er, verbotene Wörter dürfe es nicht geben im Zusammenhang mit Israel, auch auf Genozid oder ethnische Säuberung hin müsse die israelische Politik befragt werden, vor allem dürfe man sich dabei aber nicht einschüchtern lassen von den Antisemitismusvorwürfen. Denn jene Anschuldigungen, die auf einen neuen Antisemitismus rekurrieren, unterstellten stets, was gemeint sein könnte, aber in den seltensten Fällen gemeint sei. Wie unbrauchbar Kreis' Behandlung des Themas ist, kommt zum Ausdruck in seiner Bewertung der Zionismus = Rassismus-Resolution der UNO, die er als bloße Fehleinschätzung des Staates Israel bezeichnet. Abgesehen davon, dass er selbst den Vergleich israelischer mit nazistischer Politik für in Zügen nachvollziehbar hält, wenngleich er ihn als etwas überzeichnet empfindet, wird man mit seinen Maßgaben wohl nur expliziten Antisemiten beikommen. Semantik- oder Ideologieanalysen, die Texte zu dekuvrieren versuchen, die sich selbst nicht als antisemitisch exponieren, scheinen unmöglich mit seinem Definitionsapparat. Unvorstellbar also, wie Kreis nicht nur zu den Möllemanns dieser Welt ein kritisches aufklärerisches Verhältnis entwickeln könnte.

Um sogleich noch einen draufzusetzen, bemüht sich der allgegenwärtige Brian Klug um eine Kritik an Phyllis Chesler. Nicht viel mehr als einen sorgfältig gebauten Verriss liefert er, aber einen, der gleich den ganzen Theoriekomplex des Neuen Antisemitismus hinwegfegen könne, da Chesler nach Klugs Meinung stellvertretend für diesen Theoriebau steht. Da Chesler in ihrer z. T. flachen Platitüdenhaftigkeit leichte Beute ist, kann einigen Einwürfen Klugs zugestimmt werden, wie etwa der Kritik an der inflationären Verwendung des Intifadabegriffs. Jedoch macht er es sich wiederum deutlich zu einfach, wenn er behauptet, Israel mache als Akteur der Weltbühne Falsches, und aus diesem Falschen entstünde nun einmal Hass. Nicht einleuchten will ihm demnach die Behauptung Cheslers und anderer, dieser Hass erschöpfe sich nicht in einer reaktiven Entgegnung auf reale Politik. Überdies deutet er Cheslers und damit implizit auch die ganze hier verhandelte Antisemitismusthese als Mikrokosmos des war on terror und entsorgt die Theorie leichtfertig mittels Einordnung in den Neokonservativismusdiskurs.

Ob auch für ihn zutrifft, was Helga Embacher hinsichtlich vieler Liberaler und Linker formuliert, dass nämlich diese den faktischen Antisemitismus vieler (diasporischer) arabischer Zirkel und Linker selbst nicht zu benennen in der Lage seien und hier einen blinden Fleck haben? Zumindest öffnet Embacher das Feld für einige Beiträge, die aus verschiedenen Perspektiven eine Apologie und Unterfütterung der Rede vom Neuen Antisemitismus leisten. Darunter finden sich so profilierte Wissenschaftler wie Werner Bergmann, Siegfried Jäger oder Esther Webman, wobei Letztere am deutlichsten formuliert, was Stein des Anstoßes ist: "Blaming anti-Semitism in the Arab world and in Muslim communities on Israel's deeds is insufficient and too simplistic [...] anti-Semitism in the Arab world is increasingly becoming a constant in Arab thought and it is linked, as in the past and in other places in the world, to broader processes which affect Arab societies. Although still anchored in the Arab-Israeli conflict, anti-Semitism has become part of a wider political discourse and is interwoven in a profound, ongoing debate between the agents of change, liberalism, democratization and peace in the Middle East and nationalists and Islamists who utterly reject these processes."

Gerhard Hanloser und Volker Weiß kümmern sich vorbildlich um die radikale Linke in Deutschland und unternehmen den Versuch, modisch gewordene Antisemitismusvorwürfe gegen eben jene auszudifferenzieren. Während Weiß über die Analyse von Primärtexten der wichtigsten Gruppen des linken bewaffneten Kampfes ab den siebziger Jahren zu der absolut überzeugend präsentierten These gelangt, in der Reproduktion klassischer Stereotype des Antisemitismus zeige sich die Einbettung des außerjüdischen Antizionismus in die longue durée des Judenhasses, will Hanloser die übliche psychologisierende Diagnose eines sekundären Antisemitismus, also einer dem deutschen Exkulpationsbedürfnis geschuldeten Disposition, auf ihre Gültigkeit für den linken Antizionismus hin befragen, dabei vorweg konstatierend, diese Perspektive auf den linken deutschen Antizionismus mache es sich zu einfach. Auszumachen seien nämlich vielmehr zweierlei Antizionismen, von denen sich der erste nicht im Sinne einer Schuldabwehr lesen lasse, da er vielmehr den postfaschistische NS-Kontinuitäten verschleiernden Heuchelphilosemitismus attackieren wollte. Bewegungstechnisch kann er diese an mehreren kleinen Texten illustrierte Motivlage allerdings nicht schlüssig identifizieren.

Viel eher im Sinne der Ideologiekritik à la Haury zu fokussieren und gruppendynamisch zu analysieren sei jedoch der zur Weltanschauung und zum konstitutiven Bestandteil revolutionärer Identität gehörende Antizionismus der K- und ML-Gruppen in den siebziger Jahren. Indem Hanloser auf den dort zur Anwendung kommenden essenzialistischen Volksbegriff und den damit verknüpften Antiimperialismus und Drittweltismus rekurriert, sieht er sich im Konsens mit Analysen, die hier eine Befreiung von deutscher Geschichte und antizionistisch formulierten Antisemitismen sehen. Eine gänzlich andere Antifaschismusrezeption, die ebenso misslingt, sieht er allerdings bei der Betrachtung antideutschen Gedankenguts. Sich ehedem noch von modischen Trends der Politikwissenschaft distanzieren wollend leistet er hier eine nicht besonders originelle, dadurch aber nicht unbedingt gänzlich falsche Kritik der "antideutschen Ideologie", die er als partikularistisch, militaristisch und antiemanzipatorisch rezipiert.

Dies ist, das sei ergänzend erwähnt, in diesem Buch keine Ausnahme, was insofern überrascht, da es wohl ohne die Sensibilisierung durch antideutsche Gruppen und ihre publizistischen Organe kaum je eine so intensive Auseinandersetzung mit linken Formen antisemitischer Semantiken geben würde. Den aggressiven antizionistischen Konsens innerhalb der Linken zur Debatte gestellt und ihn in seiner partiell antisemitischen Motivlage benannt zu haben, spricht für diese wichtige kritische Bedeutung dieser Bewegung. Dass es dabei ebenso zu kruden inhaltlichen Entwicklungen in dieser radikalen Linken kommt, was sich beispielsweise im spiegelbildlichen Wiederentdecken deutschen Wahns bei den Palästinensern äußern kann, ist bekannt und bedauerlich. Vor allem John Bunzls Essay setzt aber unter Zuhilfenahme der Großabrechnung Robert Kurz' drei Ausrufezeichen hinter die als neurotisch empfundene Identifikation der Antideutschen mit Israel und versucht dann abzuleiten, dass überhaupt nicht die Rede sein könne von einem ideologischen, also antisemitisch fundierten Konflikt. Man habe es viel eher mit einem normalen Kriegsrassismus zu tun, der die hysterische Aufmerksamkeit und die Antisemitismusrufe in keiner Weise rechtfertige. Gleich darauf wiederum ist von Moshe Zimmermann zu lesen, der Antisemitismus sei als ideologische Waffe durch arabische Diskurse vom Nationalsozialismus übernommen worden. Seit Beginn der vierziger Jahre also müsse von einer islamisierten Adaption nazistischer Maximen und Parolen gesprochen werden, die als ideologisches Rüstzeug im Antizionismus verpackt wurden.

Dass dieses höchst instruktive Buch zudem noch mit einem umfangreichen Rezensionsteil aufwartet, wird man nach der Lektüre des mit den Postzionisten Ilan Pappe und Dan Bar-On schließenden Hauptteils zunächst kaum würdigen können. Wer allerdings nach Abwägen der Legionen vorgetragener Argumente für und wider die Annahme eines neuen Antisemitismus das Buch wiederholt aufschlägt, dem werden auch hier noch umfangreiche Reflexionen beschert.

Titelbild

Moshe Zuckermann (Hg.): Antisemitismus - Antizionismus - Israelkritik. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2005.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
442 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-10: 3892448728

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