Dichtung und Wissenschaft

Andrea Lassalles Hysterie-Lektüren mit Freud und Cixous

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sigmund Freud, der weit über die Grenzen seines Vaterlandes Österreich hinaus bekannte Begründer der Psychoanalyse und Hélène Cixous, die auch innerhalb ihres Heimatlandes Frankreich weit weniger bekannte feministische Literaturwissenschaftlerin und selbst Verfasserin literarischer Werke sowie einer Reihe von Theaterstücken - Andrea Lassalle stellt beide zusammen. Genauer gesagt zwei ihrer Schriften: Sigmund Freuds "Bruchstücke einer Hysterieanalyse" von 1905 und Hélène Cixous' Theaterstück "Portrait de Dora" aus dem Jahre 1976. Wie schon der Titel von Cixous' Werk zeigt, zwingt Lassalle trotz der unterschiedlichen Textsorten keine völlig disparaten Publikationen zusammen, ist die Protagonistin in Freuds Analyse und Cixous' Stück doch ein und dieselbe: Freuds Patientin Ida Bauer, der er in seinem Text das Pseudonym Dora verlieh, und die sich ebenso wie eine andere zu einer gewissen Bekanntheit gelangten Patientin Freuds, Bertha Pappenheim alias Anna O..., in der Frauenbewegung engagierte. Bauer jedoch, anders als Pappenheim, erst nach Ende der Behandlung.

Lassalle liest Freuds "sich als 'Wissenschaft' gerierenden Text" und dessen "sich zunächst selbst dem Genre der Dichtung für das Theater" zurechnende Reskription durch Cixous mit an den Gender Studies und an den Kulturwissenschaften geschärftem Blick. An Derrida geschulte dekonstruktiv verfahrende Ansätze und feministische Theorien bilden die "Orientierungspunkte" von Lassalles doppelter Lektüre. Hinzu treten theoretische Überlegungen, "die in verschiedener Weise die Psychoanalyse aufgreifen".

Krankengeschichte und Theaterstück kommentieren, interpretieren und verändern sich der Autorin zufolge in der Lektüre gegenseitig. Diese "Austauschbewegungen" ausfindig zu machen "und an ihnen die möglichen Netze von Bezügen im Diskurs um Psychoanalyse und Weiblichkeit zu entwickeln", ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Jenen Unternehmungen, die 'Weiblichkeit' und Literatur zum Objekt "forschender Interpretationen" machen, kritisch gegenüberstehend, beleuchtet die Autorin Weiblichkeit vielmehr als "Produkt bestimmter textueller Verfahren der Psychoanalyse" und als "aufzudeckende substantielle Qualität". Sie schlägt Lektüren vor, welche die beiden Texte als "Modi der Relektüre und des Umschreibens" zueinander in Bezug setzen, und entwickelt neue Lesarten aus der "gegenseitigen Verwobenheit und Abhängigkeit" der beiden Wissensmodi. Dabei stellt sie wiederholt die Frage nach den "Grenzziehungen" zwischen Wissenschaft und Literatur einerseits und zwischen den Geschlechtern andererseits.

Vorbilder für eine derartige Lektürepraxis, bemerkt Lassalle zu Recht, "sind in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft eher rar". Zu wünschen wäre, dass ihre Arbeit dazu beiträgt, dies zu ändern.

Titelbild

Andrea Lassalle: Bruchstück und Portrait. Hysterie-Lektüren mit Freud und Cixous.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.
257 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 3826025857

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch