Ein Buch wie ein Zitteraal

Stefan Weidners elektrisierendes Islam-Denkabenteuer "Mohammedanische Versuchungen" und seine Sammlung von Kritiken zur islamischen Literatur

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Beiruter Café trifft der Reisende Ariane. Sie will den Koran tanzen und verlacht seinen "Glauben" an Auschwitz. In Kairo spaziert er vor dem Fastenbrechen über die plötzlich leere Stadtautobahn: Allah legt die ganze Megalopolis lahm. In den Trümmern von Aleppo kommt der Geist des heiligen Simon auf der Säule über ihn und eifert gegen die lebensverachtenden Märtyrer. Einen Vortrag hält der Mittler zwischen den Welten vor einer konspirativen Studentenversammlung, die sich nichts sehnlicher wünscht als endlich eine Hollywood-Verfilmung von Mohammeds Leben.

Überall im Nahen Osten packen Stefan Weidner die "Mohammedanischen Versuchungen", das unmittelbare, undiskutierbare, alternativlose Religiöse; es zerrt an seinen Überzeugungen, Denkgewohnheiten und Gewissheiten, untergräbt sie, treibt ihn aus sich heraus und über sich hinaus und in sie hinein. Und mit ihm den Leser. Kaum hat man mit diesem Buch wenige Seiten verbracht, fühlt man sich - es gibt das schöne Wort nur noch im Englischen - mesmerized. Das bedeutet so viel wie begeistert, magnetisiert, elektrisiert: Da fließt Strom zwischen dem Autor und dem Leser, und man kann das Werk nicht leicht fassen, will seinen Fang aber keinesfalls entschlüpfen lassen: ein Buch wie ein Zitteraal. Ihren Titel tragen die "Mohammedanischen Versuchungen" nicht nur deshalb zu Recht. Sie verführen zu einem lustvollen geistigen Abenteuer.

Das Medium, um diese Begegnung glücken zu lassen, ist Stefan Weidner selbst. Die fünf Teile des Buches entsprechen mehreren Aufenthalten von ihm im Nahen Osten in den letzten fünfzehn Jahren. Jeder reportagehafte Reisebericht ist jedoch durchsetzt mit Historischem, Erinnerungen, Anekdoten, Erlebnissen, improvisierten Vorträgen. Weidner beginnt mit seiner seltsamen Initiation 1985 in Tunis und Sousse: Der 17-Jährige mit geringen Arabisch-Kenntnissen kauft im Rucksack-Urlaub einen zweisprachigen Koran, obwohl er ihn sich eigentlich nicht leisten kann. Er liest darin, versteht nichts, schwimmt im Meer der Missverständnisse, ärgert sich, zweifelt, fühlt sich enttäuscht: "Von der ausgestreckten Hand Gottes, die das 'Avertissement' versprochen hatte, war nichts zu sehen. Der rechte Weg hatte keinen Zubringer. Man musste wie aus dem Nichts dorthin springen, ohne zu wissen, wo 'dort' war." Dann beschließt er, von hinten, was ja in arabischen Büchern vorne ist, zu lesen und stößt auf die Sure: "Sag: Ich suche Zuflucht beim Herrn der Menschen, dem König der Menschen, dem Gott der Menschen, vor den bösen Gedanken, die in die Brust des Menschen senken Geister oder Menschen." Die Sure wird ihn wenig später auf der Fähre nach Genua aus Lebensgefahr retten.

Stefan Weidner ist ein geachteter Orientalist, Übersetzer, Schriftsteller und zum Glück noch mehr. Denn in nur wenigen Jahren hat er, weil er pointiert formuliert und so lustvoll wie kompetent brüskiert, den Literaturen der islamischen Welt wirkungsvollere Liebesdienste geleistet als ein halbes Dutzend orientalischer Seminare. Unermüdlich schreibt er, rezensiert er, wirbt er für die unentdeckte Wunderwelt in zahlreichen Kritiken, deren umfangreiche Sammlung gerade unter dem Titel "Erlesener Orient" erschienen ist. Man hätte sich zwar hier und da gewünscht, dass Weidner seine Zeitungstexte vom Medienspezifischen gereinigt und sie vor allem ergänzt hätte, doch insgesamt macht diese Sammlung von Rezensionen großen Lesespaß und ist dazu noch hilfreich. Man kann das Buch - die thematische Ordnung erleichtert es - als Nachschlagewerk nutzen oder als Wünschelrute auf dem Gebiet der so unbekannten und lockenden, neuen wie alten arabischen, libanesischen, persischen und türkischen Literatur. "Es ist eine Aufforderung zur Entdeckung und zum Weiterlesen, zum selber Erlesen..." Und diese Aufforderung wendet sich explizit an alle Leser, gerade auch an die, die noch nichts von Literatur islamischer Prägung wissen. Das polemische Talent Weidners trägt seine Texte: Keine Autorität ist vor ihm sicher! Die Liebe zu seinem Gegenstand aber belebt sie.

Dieses "cum ira et studio" gilt nicht nur für seine Kritikensammlung, auch in seinen "Mohammedanischen Versuchungen" wirft sich Weidner höchst subjektiv und voller Verve mit dem Leser hinein ins Getümmel, in dem - zwischen Ideologie, Propaganda, Wissenschaft, Poesie, Geschwafel - kaum ein klarer Gedanke fassbar zu sein scheint: Was wollen die Islamisten? Gibt es einen Ausgleich zwischen dem Westen und dem Islam? Was bedeutet es, in einer tatsächlich religiösen Gesellschaft zu leben? Wie soll man die Schlächter verstehen, die in Algerien alles Lebendige in einzelnen Dörfern vernichten? Wird der Westen im Konflikt mit dem Islam bestehen? Was können wir ihm intellektuell und kulturell entgegensetzen? Ist unsere Schwäche seine Stärke? Verachten uns die Moslems? Wie steht es um unsere Opferbereitschaft?

Weidner wagt es, den heiklen und brennenden Fragen, die in den Medien oft platt behandelt werden, kenntnisreich, persönlich und überraschend zu begegnen, indem er häufig die Sichtweise der Gegenseite einnimmt. Er vergisst dabei nicht das Werkzeug des westlichen Wissenschaftlers und achtet gleichzeitig seine Gefühle als Reisender. Er nähert sich - aus einem katholischen Glauben kommend - der arabischen Mystik und führt ihre Möglichkeit, Schönheit, Evidenz vor. Er mutet dem westlichen Leser zu, Positionen des Islam in schmerzhafter Deutlichkeit kennen zu lernen. Er konfrontiert christliche und mohammedanische Leser mit Aporien ihres Glaubens und fängt doch erst da an, weiterzudenken.

Verführerisch frei von üblichen wissenschaftlichen oder literarischen Kategorien gestaltet Weidner sein Buch als eine faszinierende Text-Chimäre, die sich aus so verschiedenen Teilen zusammensetzt wie Reisebericht, Erzählung, historische Abhandlung, Reportage, Polemik und eben dem Essay, dessen freie Denkungsart und stilistische Brillanz dem Buch Einheit in der Vielfalt garantiert, selbst da, wo es in einer mystischen Vision kulminiert.

Die "Mohammedanischen Versuchungen" sind ohne Frage und ohne Vorbedingung ein Buch für jeden denkenden Menschen und für jedes fühlende Herz. Ja, Herz! Wie sollte ein Orientalist, der seine Sache ernst nimmt, auf das Pathos und seine Möglichkeiten verzichten!

Weidners wildes, doch stets geerdetes Denken entspringt einem enthusiastischen Intellekt. Vor allem ist er frei denkend und genau fühlend wie ein Johann Georg Hamann, der vor gut zweihundert Jahren schon klarstellte: "Ich weiß dem allgemeinen Geschwätz und schön aus der Ferne her, in die weite Welt zielenden Zeigefinger nichts bessers als die genaueste Lokalität, Individualität und Personalität entgegenzusetzen."

Titelbild

Stefan Weidner: Erlesener Orient. Ein Führer durch die Literaturen der islamischen Welt.
edition selene, Wien 2004.
363 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3852662397

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Stefan Weidner: Mohammedanische Versuchungen.
Ammann Verlag, Zürich 2004.
241 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3250600741

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