Flucht in die große Literatur

"Sechs zu null für Wien" - über einige Bücher des zuunrecht vergessenen Autors Soma Morgenstern

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Auf dem Friedhof der kleinen Stadt Angers ist am 3. Juli 1940 die Leiche eines jungen Mannes begraben worden, den im Ort kein Mensch kannte." Der erste Satz von Soma Morgensterns "Flucht in Frankreich" scheint den Beginn eines klassischen Kriminalromans zu markieren. Die nüchtern-geheimnisvolle Feststellung eines Todesfalls auf dem Lande erfüllt alle Erwartungen des Genres. Und so wird denn auf den ersten Seiten des Buches auch ganz kriminalistisch die Frage erörtert, wie der Fremde, bei dem es sich offenbar um den am 5. September 1912 in Wien geborenen Josef Cukiersky handelt, eigentlich ums Leben gekommen sei. War es Selbstmord, wie die Polizei in Angers behauptete, nachdem sie nicht nur einen Abschiedsbrief bei dem Toten gefunden, sondern in dessen lebloser Hand auch einige Tabletten starken Gifts entdeckt hatte? Oder steckte mehr dahinter? Woher nämlich kamen die Blutflecken auf dem wattierten Schlafsack, in den der Tode gehüllt lag? Diese Frage jedenfalls stellt sich der Erzähler, ein gewisser Doktor Petrykowsky, der, wiederum genretypisch, an einen Selbstmord von Anfang an nicht glauben will: denn "Gift macht keine Blutflecke; nicht einmal an dem Schlafsack eines Ausländers ..."

Die Ausgangssituation des Buches scheint jedoch einen Haken zu haben: Im besetzten Frankreich des Jahres 1940 bedeutete der wie auch immer mysteriöse Tod eines Unbekannten durchaus nichts Ungewöhnliches. Unzählige Menschen, Fremde größtenteils, flüchteten vor den siegreichen Nazischergen und vor einer ihnen eilfertig beistehenden französischen Polizei Richtung Süden, in der Hoffnung, in letzter Minute doch noch dem Schlachthaus "Mitteleuropa" zu entkommen. Und Unzählige blieben auf der Strecke. Daß es Morgenstern vor dem Hintergrund dieser verbrecherischen Treibjagd dennoch gelingt, den Bogen des kleinen und an sich unspektakulären Kriminalfalls bis zum Ende der 350 Seiten langen Erzählung in konstanter Spannung zu halten, verrät einiges von seiner schriftstellerischen Meisterschaft.

Schon die innovative Gattungsbezeichnung "Romanbericht" weist allerdings darauf hin, daß es sich bei "Flucht in Frankreich" weniger um einen Kriminalroman als vielmehr um eine stark autobiographische Erinnerungsschrift handelt. So ist die Suche nach dem Mörder Josef Cukierskys letztlich nur eine Nebenhandlung des Buches, nur der fiktive symbolische Rahmen für die nicht minder ergreifende Erzählung Morgensterns von seiner Internierung in verschiedenen französischen Konzentrationslagern und der nervenzerrüttenden Flucht nach Casablanca. Ja, Morgenstern scheint die Rahmenhandlung und den "arischen" Ich-Erzähler Petrykowsky allein deshalb erfunden zu haben, um sich von den gerade erst vergangenen Ereignissen - er begann bald nach seiner Flucht an dem Manuskript zu arbeiten - zumindest ein wenig distanzieren zu können.

In der Literatur wird Distanz gewöhnlich durch Humor, Ironie und Witz erzeugt. Die Fähigkeit dazu, auf subtile Art humorvoll, ironisch und witzig zu sein, besitzt der Schriftsteller Morgenstern in ungewöhnlichem Maß. Die zahlreichen hochkomischen Szenen des Berichts, die Stück für Stück dem individuellen Grauen abgerungen sind, wird der Leser deshalb nicht leicht vergessen: das Fußballspiel im Pariser Internierungslager zwischen Österreichern und Deutschen, das die "Wiener" sechs zu null gewinnen, das seltsam würdige Gebaren der orthodoxen Juden im Lager oder die Sturheit der Dauerkartenspieler, die sich selbst durch die Gelegenheit zur Flucht nicht aus ihrer konzentrierten Ruhe bringen lassen.

Die von Morgenstern und seinen Figuren so virtuos gepflegte Neigung, sich selbst und das eigene Schicksal andauernd mit scharfem Witz zu kommentieren, scheint dabei auf den ersten Blick eine "echtjüdische" zu sein? Zumindest wird diese These in Morgensterns Bericht aufgeworfen und von einigen Lagerinsassen diskutiert. Das Ergebnis der Diskussion zeigt jedoch, daß nicht nur der Witz, sondern alle scheinbar "echtjüdischen" Eigenschaften gar keine solchen sind: "Es sind Eigenschaften von rechtlosen, bedrückten, gehetzten, gedemütigten Menschen", - ganz gleich ob jüdisch oder nicht. Die Ironie ist also nur die eine Schicht des Buches: Ihr gegenüber steht eine Fülle von überraschenden Gedanken und Erkenntnissen. Auf nahezu jeder Seite findet sich eine pointierte Wendung, die den Leser in das wirre Dunkel menschlichen Verhaltens, in die Abgründe der Politik oder die Geheimnisse der Literatur Einblick gewinnen läßt. Kein Zufall also, daß der Erzähler schon nach wenigen Seiten gesteht, daß er ein altmodischer Schriftsteller sei und "demzufolge auch diese Blätter zur Belehrung und nicht etwa zur Unterhaltung beschreibe."

In der Tat ist Morgenstern ein altmodischer Schriftsteller, dessen literarische Techniken formal kaum Berührungspunkte mit der avantgardistischen Prosa des 20. Jahrhunderts aufweisen. Wie die Thomas Manns ist auch seine Erzählkunst im späten 19. Jahrhundert verankert. Vor allem jedoch baut sie, wie alle große Literatur, in ihren tiefsten Schichten auf der eigenen Lebenserfahrung, der psychischen Biographie auf. Was aber war das für ein Leben, das erst im April 1976, nahezu unbemerkt von der literarischen Kritik, im New Yorker Exil endete? Salomo Morgenstern wurde 1890 in einem ostgalizischen Dorf geboren, als fünftes Kind einer orthodox-jüdischen Familie. Auf Drängen des so frommen wie gelehrten Vaters lernte er neben Jiddisch, Polnisch und Ukrainisch auch Deutsch, die Sprache der gebildeten Juden. Gegen den Willen des Vaters besuchte er das Gymnasium und die Universität in Wien, die er mit einer juristischen Promotion verließ. Befreundet und bekannt mit den Größen der Wiener Moderne, wurde Morgenstern schließlich Kulturkorrespondent der "Frankfurter Zeitung". 1933 legte Morgenstern, der den Zwiespalt zwischen seinen religiösen und seinen freidenkerischen Überzeugungen immer stärker zu empfinden begann, seinen ersten Roman vor, der thematisch den jüdischen Diskurs der Moderne fortschreibt. "Der Sohn des verlorenen Sohnes" als erster Teil der groß angelegten Trilogie "Funken im Abgrund" schildert die Rückkehr eines stark assimilierten jungen Wiener Juden zum jüdischen Glauben und ostgalizischen Landleben. Nach der Lektüre der ersten hundert Seiten dieses Buches bemerkte Robert Musil gegenüber Morgenstern: "Wenn Sie jetzt sterben, gehören diese hundert Seiten schon zur Weltliteratur."

Morgenstern starb nicht. Für ihn, der die physische Verfolgung überlebte, kam der Verlust der Publikationsmöglichkeiten in Deutschland und die nach dem Anschluß Österreichs folgende Vertreibung ins Exil jedoch einem literarischen Tod gleich. Es sollte mehr als sechzig Jahre dauern, bis es wieder möglich wurde, Musils treffendes Urteil zu überprüfen. Zwar konnte Morgenstern seine Trilogie, die er nach dem Verlust fast all seiner Bücher, Dokumente und Manuskripte in den ersten Exilmonaten rekonstruiert hatte, in den Vereinigten Staaten in englischer Sprache veröffentlichen - in Deutschland jedoch fand sich für seine Bücher kein Verleger mehr. Lediglich der mühevollen Editionsarbeit von Ingolf Schulte seit Mitte der neunziger Jahre ist es zu verdanken, daß nun bereits der größere Teil einer sorgfältig edierten und hervorragend kommentierten Werkausgabe in dem kleinen Lüneburger Verlag "zu Klampen" vorliegt. Daß es sich bei der Wiederentdeckung Morgensterns um eine literarische Sensation handelt, ist trotz der durchaus positiven Resonanz in der Presse nicht oft genug zu wiederholen.

Nach "Flucht in Frankreich" erschien in der Reihe zuletzt Morgensterns unvollendetes Romanfragment "Der Tod ist ein Flop". In diesem Werk ficht Morgenstern seinen letzten Kampf gegen ein Jahrhundert, das nichts so sehr kultiviert hat wie den Massenmord. Ohne Frage: Der Tod ist das Haupt- und Leitmotiv aller Werke Morgensterns, der literarischen wie der autobiographischen. In der faszinierenden Trilogie spielt der Tod unmerklich eine Hauptrolle, stets die lebendige Handlung begleitend. Sein wunderbares Buch über Alban Berg beginnt Morgenstern mit einem Nachruf, der dem ganzen Werk den Ton vorgibt. Der Tod lastet auf den rührend-komischen Aufzeichnungen zu Joseph Roth und strukturiert Morgensterns ergreifend schöne Kindheitserinnerungen. Der Tod ist das zentrale Thema auch der erschütternden "Blutsäule", des Werkes, das Morgenstern als Epilog seiner Roman-Trilogie bezeichnete und das auf die Vernichtung der europäischen Juden antwortet. In dem Roman "Der Tod ist ein Flop", der in der langen Tradition der Inselutopien steht, imaginiert Morgenstern eine Gegenwelt, die dem gewaltsamen Tod keine Herrschaft mehr über unser Dasein einräumt - es ist bezeichnenderweise eine Welt, die Abschied genommen hat vom europäischen Christentum als Ursprung des modernen Unheils und des Massenmords. So sehr Morgensterns historische Analyse auch den Kern der Sache trifft; die literarisch gelungensten Passagen des Fragments sind nicht die utopischen. Zu sich selbst kommt Morgensterns Literatur erst, wenn sie mit dem Blick auf ein reif gewordenes Getreidefeld das verlorene Glück der ländlichen Kindheit heraufbeschwört.

Der Verlust als Ursprung eines jeden Künstlertums hatte bei Morgenstern Ausmaße angenommen, die dieses Künstlertum unbedingt zu zerstören drohten. "Verlorene Briefe, verlorene Freunde, verlorene Welt. Bruder verloren in Dachau, Schwester verloren in Birkenau, Mutter verloren in Theresienstadt. Sechs Millionen verloren." Diese Sätze aus dem Buch über Alban Berg ziehen das Fazit eines Lebens, das sich nach 1945 über Jahrzehnte hinweg am Rande des Selbstmords bewegte. Im Exposé eines nicht ausgeführten Romans heißt es über den Helden, einen jüdischen Schriftsteller, der Dachau überlebte: "By disgust with anything German even with the German language he becomes unarticulate and plans to end his frustrated life by poison."

Wie es Soma Morgenstern gelang, den Haß auf sein Handwerkzeug, die deutsche Sprache, zu überwinden, ist nur schwer zu erklären. Es muß mit seiner großen Menschlichkeit zu tun haben, seiner außergewöhnlichen Sensibilität für menschliche Dinge, die dem Witz und der Weisheit seiner Schriften letztlich erst die Grundlage bereitet. Der Triumph dieser Menschlichkeit hat den Deutschen einen literarischen Kosmos beschert, der gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Ob die Deutschen das jüdische Vermächtnis Morgensterns allerdings verdient haben, das ist eine Frage, die hier nicht entschieden werden kann. Gewiß jedoch hat Soma Morgenstern es verdient, künftig unter den ersten Namen jener Literatur genannt zu werden, die einen Großteil der deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts ausmacht: der jüdischen Literatur in deutscher Sprache.

Titelbild

Soma Morgenstern: Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ingolf Schulte.
zu Klampen Verlag, Lüneburg 1997.
198 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 392424541X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Soma Morgenstern: Flucht in Frankreich. Ein Romanbericht.
Herausgegeben von Ingolf Schulte.
zu Klampen Verlag, Lüneburg 1998.
0,00 EUR.
ISBN-10: 3924245428

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ingolf Schulte (Hg.) / Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998.
328 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 374661452X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ingolf Schulte (Hg.) / Soma Morgenstern: Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999.
408 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3746614554

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Soma Morgenstern: Der Tod ist ein Flop (Werke). Roman. Hrsg. u. Nachw. v. Ingolf Schulte.
zu Klampen Verlag, Lüneburg 1999.
182 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3924245436

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ingolf Schulte (Hg.) / Soma Morgenstern: Funken im Abgrund. Romantrilogie I-III. Der Sohn des verlorenen Sohnes / Idyll im Exil / Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999.
1059 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3746616409

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ingolf Schulte (Hg.) / Soma Morgenstern: In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999.
419 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3746615682

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch