Ein weiterer Meilenstein

Ingeborg Bachmanns kritische Schriften als historisch-kritische Ausgabe

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Überall meldet sich das Verständnis für alles und jedes an. Nur die Verständigung kommt dabei zu kurz." Das klingt wie eine hochaktuelle Kritik an den langsam ins Bewusstsein tretenden Multikulti-Sünden, wurde tatsächlich aber vor nahezu einem halben Jahrhundert geschrieben. Ingeborg Bachmann machte um 1960 mit diesen Worten ihrem Ärger über die "Linkspresse" und die "Rechtspresse" Luft. Erstere beeile sich, die Bücher christlicher Autoren zu loben, Letztere die "hochsinnigen Kunstprodukte der Linken", moniert die österreichische Autorin in dem bislang unbekannten "Entwurf 'Milieu und Sprache'". Dass der Text nun zugänglich ist, ist der Editionsarbeit von Monika Albrecht und Dirk Göttsche zu danken. Nach dem von ihnen textkritisch herausgegebenen "Todesarten"-Projekt haben die ausgewiesenen Bachmann-KennerInnen mit der nun vorliegenden historisch-kritischen Ausgabe von Bachmanns "Kritischen Schriften" einen weiteren Meilenstein der Bachmann-Philologie gesetzt.

Neben den zu Bachmanns Lebzeiten und den in der von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster 1978 herausgegebenen Werkausgabe publizierten Schriften enthält die vorliegende Ausgabe zwölf bislang unveröffentlichte Essays, Fragmente und Entwürfe. Zu ihnen gehören die 15 beziehungsweise 20 Druckseiten umfassenden Typoskripte "Philosophie der Gegenwart" und "Der Wiener Kreis. Logischer Positivismus - Philosophie als Wissenschaft" aus der ersten Schaffensperiode Bachmanns, die aus der Zeit um 1960 stammenden "Entwürfe zu einer politischen Sprachkritik", die insgesamt 10 Druckseiten umfassen, und die drei Druckseiten langen "Reflexionen über die Beziehung zwischen italienischer und deutscher Literatur" aus Bachmanns später Schaffensphase, in denen uns die Autorin über das "Gähnen zwischen den beiden Literaturen" in Kenntnis setzt.

Wie die HerausgeberInnen mitteilen, umfasst der Band "alle derzeit zugänglichen kritischen Schriften der Autorin", also die zu Lebzeiten veröffentlichten oder nachgelassenen Rezensionen, Essays, Radio-Essays, Reden, Vorlesungen, Aufzeichnungen und Entwürfe zu Fragen der Literatur, der Philosophie, der Musik und der Kultur. Doch müssen sie diesen Anspruch auf Vollständigkeit relativieren, wenn nicht gar zurücknehmen. Nicht aufgenommen wurde Bachmanns Dissertation über die kritische Aufnahme der Existenzialphilosophie Martin Heideggers, da diese bereits seit 1985 in einer von Robert Pichl bearbeiteten historisch-kritischen Ausgabe vorliegt. Eine vertretbare Absenz. Ebenfalls unberücksichtigt blieben jedoch auch "verstreute kleinere Aufzeichnungen tagebuchartigen Charakters", "Notizen aus unbekanntem Anlaß und Kontext" sowie "mögliche essayistische Texte aus dem noch weithin unerschlossenen und nicht transkribierten Jugendwerk". Das ist bedauerlich. Doch dem Argument der HerausgeberInnen, dass es in allen diesen Fällen eingehenderer Forschungen bedurft hätte, die im Rahmen der zeitlichen, finanziellen und personellen Vorgaben für die hier vorliegenden Edition nicht durchgeführt werden konnten, lässt sich schwerlich etwas entgegensetzen. Bleibt also nur die Hoffnung auf eine natürlich auch von den HerausgeberInnen für "wünschenswert" gehaltenen historisch-kritischen Gesamtausgabe.

Wie Albrecht und Göttsche im editorischen Nachwort feststellen, lassen sich in Bachmanns kritischen Arbeiten verschiedene Entwicklungen ausmachen, sowohl was die Konzentration auf bestimmte Themen betrifft als auch hinsichtlich der Publikation der Texte. Befassen sich die Schriften der frühen 1950er Jahre überwiegend mit philosophischen Themen - der Philosophie der Gegenwart, dem Wiener Kreis sowie mit Heidegger und Wittgenstein, etwas später dann Simone Weil -, so wandte sich die Autorin im Laufe dieses Jahrzehnts in zunehmendem Maße den "Grundlagen ihres eigenen Schreibens" zu, wobei die in den "Frankfurter Vorlesungen" angestellten Reflexionen besondere Beachtung verdienen. Daneben bilden die musikästhetischen Arbeiten eine "eigene Linie", wie die HerausgeberInnen feststellen. Ins Auge sticht zudem, dass Bachmanns literaturkritische und -theoretische Schriften in den 1960er Jahren meist Entwürfe blieben, während diejenigen des vorangegangenen Jahrzehnts noch regelmäßig zur Publikation gelangt waren. Albrecht und Göttsche erklären dies nicht zuletzt damit, dass Bachmann in den 1950er Jahren auf die Honorare für diese Arbeiten angewiesen war.

Wie die HerausgeberInnen bemerken, werden die KärrnerInnen der Bachmann-Forschung noch im Einzelnen über "Neuakzentuierung[en] in der Beurteilung" von Bachmanns kritischem Werk zu befinden haben. Doch weisen sie selbst schon auf einige neue Erkenntnisse hin, die sich aus der erweiterten Quellenlage ergeben. So konstatieren sie etwa, "daß die Auseinandersetzung der Autorin mit der Shoah und dem Holocaust erst sehr viel später einsetzte, als vielfach angenommen wurde".

Das Editionsverfahren des vorliegenden Bandes folgt sinnvollerweise demjenigen, das Albrecht und Göttsche für die Edition des "Todesarten"-Projekts entwickelt hatten. So folgt auch hier die Anordnung der Schriften ihrer Entstehungschronologie. Ebenso wie der Anhang zum "Todesarten"-Projekt gliedert sich derjenige der "Kritischen Schriften" in Überlieferungsbeschreibungen sowie einen textkritischen und einen sachkritischen Kommentar. Letzterer beschränkt sich weithin auf Quellenangaben zu Zitaten, die Bachmann als solche kenntlich gemacht hat, sowie auf Personen, die in Bachmanns Texten genannt werden. Meist handelt es sich um AutorInnen, über deren Lebensdaten der Kommentar informiert. Außerdem ist verzeichnet, ob und gegebenenfalls welche Bücher sich von ihnen in Bachmanns Bibliothek fanden. Bekannte Personen der Zeitgeschichte, wie Kennedy, de Gaulle, Chruschtschow oder Castro haben in den Sachkommentar keinen Eingang gefunden. Konnte ein Zitat nicht nachgewiesen werden, wird dies in der Regel vermerkt, jedoch nicht immer. Der bei Bachmann als Zitat ausgewiesene Satz "Die Welt wird dich verändert haben, ehe du sie verändert hast!" wird beispielsweise im Kommentar übergangen. Anspielungen intertextueller oder anderer Art werden nur in wenigen Fällen kommentiert. So erfährt man etwa, dass es sich bei dem in den Frankfurter Vorlesungen erwähnten "Beatnickgeheul" um eine "Anspielung auf Allen Ginsbergs Gedicht 'Howl'" handelt. Hingegen erfolgt zu der in den "Entwürfe[n] zur politischen Sprachkritik" enthaltenen Wendung "Wie halten Sie es mit der Politik, fragte mich einer" kein Hinweis auf die Gretchenfrage. Auch hätte erläutert werden können, dass "der neue Mensch", von dem in dem "Entwurf 'Europa und der Marxismus'" die Rede ist, ein auf das Neue Testament (Epheser 4,24) zurückgehender Topos ist, der insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts von verschiedenen politischen und literarischen Strömungen mit allerlei Hoffnungen und Projektionen aufgefüllt wurde, so auch vom Marxismus, der den neuen Menschen mit dem geschichtlichen Telos, dem Kommunismus heraufziehen sah. Nicht immer also wurden erläuterungsbedürftige Stellen erkannt und kommentiert.

"Wünschenswert", bemerken die HerausgeberInnen im Nachwort, wäre eine "Ergänzung" der vorliegenden Ausgabe von Bachmanns kritischen Schriften durch die Editionen ihrer Korrespondenzen und unterstreichen dies mit einigen - zum Teil sehr aufschlussreichen - Appetithäppchen aus diversen Briefen, die noch manch andere Schätze bergen dürften. Auch ohne diese appetizer dürften Albrecht und Göttsche der einhelligen Zustimmung der Bachmann-ForscherInnen sicher sein.

Titelbild

Ingeborg Bachmann: Kritische Schriften.
Herausgegeben von Monika Albrecht und Dirk Göttsche.
Piper Verlag, München 2005.
828 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3492047076

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch