Nachtigallenstimmen aus dem Krieg

Günter Grass und Peter Rühmkorf lesen Barocklyrik

Von Julia-Charlotte BrauchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia-Charlotte Brauch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kenntnisse hinsichtlich berühmter deutscher Barockdichter erwartet man selbst im deutschen Bildungsbürgertum vergebens. Neben Andreas Gryphius fallen auf Nachfrage bestenfalls Namen wie Opitz und Fleming ein. Barocklyrik scheint einer großen Mehrheit - durch Unkenntnis? - ein lustloser Graus aus der Schulzeit zu sein, Material, an dem man einst das Versmaß abzählen und "vanitas"-Motivik erlernen musste. Selbst eingefleischte Lyrikliebhaber verirren sich selten ins 17. Jahrhundert, und nur wenige Leser meinen in den Texten dieser Zeit mehr als die Formstrenge und Zeugnisse des Dreißigjährigen Krieges erkennen zu können.

Günter Grass und Peter Rühmkorf haben 1998 im Norddeutschen Rundfunk eine sehr persönliche, zugleich aber breit gefächerte und weitgehend repräsentative Auswahl von Barockgedichten vor Publikum rezitiert. Einzig die stark religiös geprägten Texte eines Friedrich Spee oder Gryphius' Perikopensonette könnte man in dieser kleinen Anthologie vermissen. Die Bandbreite der Textauswahl übersteigt bei Weitem den aus Schulbüchern bekannten Rahmen.

Grass und Rühmkorf verleihen einer uns völlig fremden, befremdlichen Zeit ihre Stimmen. Trotz einer Distanz von fast 400 Jahren sind diese Gedichte weit mehr als bloße historische Zeugnisse einer fernen Epoche oder gar totes Kulturgut. Gerade im gesprochenen Wort kommt die unerwartete Modernität der Texte zur Geltung: Die beiden Schriftsteller führen den Zuhörer jeweils mit einigen Worten zu Autor und Zeit in die einzelnen Texte ein und spiegeln darin die Kriegs- und Lebenserfahrung des 20. Jahrhunderts, verkörpert nicht zuletzt durch ihre eigenen Biografien. Doch selbst die Atmosphäre des allgegenwärtigen Krieges kennt bei Grass und Rühmkorf nicht die notorische vanitas-Lastigkeit gerne verdrängter Deutschstunden. In ihrer Lesung feiern die beiden zeitgenössischen literarischen Größen geradezu die eben barocke Fülle des Lebens. Hier trennt sich der Zuhörer unschwer von einem allzu zähen Gemeinplatz.

Der herausragendste Lyriker dieser Epoche, Andreas Gryphius, begründet ein Paradoxon: Als erster deutscher Dichter führte er die Versschule Martin Opitz' in der Praxis zur Perfektion und verfasste die bekanntesten Sonette in deutscher Sprache überhaupt. Andererseits verleitet Gryphius zu klischeehaftem Denken: In seinem Werk betont er wiederholt und mit Nachdruck, wenn auch nicht ausschließlich, die Nichtigkeit irdischen Lebens. Die Forschung spricht daher von der "Poetik der Klage" (Wiedemann) - und eine verkürzte, kanonisch verfälschte Lesart reduziert Gryphius, der heute als vermeintlich allumfassend repräsentativer Dichter seiner Epoche gilt, prompt auf vanitas und memento mori. Grass und Rühmkorf belehren uns eines Besseren.

Eine ganze Reihe der hier vorgetragenen Texte widmen sich unerwartet direkt den profansten Themen: Liebe, Eifersucht, Erotik. Klingt Flemings Kussgedicht in seinem schulmeisterlichen Ton noch harmlos und lustig, so lassen die erotischen Gedichte Greflingers und Hoffmannswaldaus an frappanter Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Die Eifersucht der Liebsten wird geschwind zum Anlass, ihre Einzigartigkeit und seine ewige Treue zu beteuern. Der Mund ist Zugang zur Welt und Zentrum häretischer Lust, ein Kuss das höchste Lebenselixier, und besonders Hoffmanswaldau schlägt in einem hochpoetischen Briefwechsel zwischen Abelard und Heloise alle Tonarten der Liebe an. Die Körperlichkeit ist aufs Stärkste mit dem Ideellen verbunden, das Phallische mit dem Philosophischen. Das bittre Fazit des entmannten Liebhabers: "Itzt lern ich, daß ein Schnitt mein Meister werden kann." Und wir Zuhörer werden trotz all unserer gebrochenen Tabus blass ob so viel männlicher Bar-heit.

Neben den fest in der Glaubenskraft verankerten Gedichten von Andreas Gryphius oder Paul Gerhardt sprengt auch Kaspar Stieler Klischees. In seinem Lob auf Venus bildet das lichterlohe Brennen der eigenen Liebe die einzige Gewissheit im Kriegsalltag. Paul Flemings "Dennoch"-Ton beweist, was wir Lyrik aus der "Epoche des Konfessionalismus" (Kemper) kaum zutrauen würden: In der quälenden Ungewissheit der Zeiterfahrung, im aufgelösten Zustand der Welt begründet das Ich sich gerade nicht im Glauben, sondern in der Kunst der Gelassenheit. "Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kan / dem ist die weite Welt und alles unterthan." Anstelle der Verdrängung überwältigenden Leids, die wir heute im dröhnenden Medienhype globaler Katastrophen geradezu professionell betreiben, stehen bei Fleming der Trost und das bewusste Ertragen der Not: "Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren."

Ob all der Widersprüchlichkeiten der krisengeschüttelten Barockzeit wird dem ehemals sonettgenervten Eleven nun als Zuhörer klar, was formale Perfektion - auch im Kontext der Jugendzeit der beiden Vorleser - bedeutet: Die Sprache bietet eine ansonsten zerstörte Restheimat und ein wenig Halt, der Wortprunk ist als einzige irdische Kostbarkeit unverwüstlich. Die strenge Form der Poesie stellt ein Gegengewicht zur allgegenwärtigen Auflösung jeglicher sicherheitsspendender Ordnung dar. So erscheinen Martin Opitz und Johann Michael Moscherosch nur oberflächlich als Begründer eines zähen Rechtschreibpatriotismus. Ihre Streitschriften gegen den Missbrauch der gerade erst hoffähig gewordenen deutschen Sprache sind Kulturmanifeste, die inmitten des Krieges sogar identitätsstiftend wirken. Die Poesie in ihrer reinen Form kann neben der Religion antreten als gleichwertige Kraft zur Rettung des "Seelen Schatz" (Gryphius). Die Dichter-Nachtigallen besingen das Jammertal und die Vielfalt des Lebens.

Trotz der Themenfülle dieser kleinen Anthologie endet der Vortrag mit Gryphius' "vanitas, vanitatum et omnia vanitas", "Es ist alles Eitel". In jedem Gedicht dieser Lesung erklingt durch die geschickte Auswahl und Gegenüberstellung der Texte etwas Unerhörtes. Zu keinem Zeitpunkt vernimmt man etwa das Pisa-Moralin eines "Das sollten Sie aber kennen!". So knüpft das Schlussgedicht nicht an das eben erst verworfene vanitas-Klischee eines scheuklappenbehafteten Deutschunterrichts an, sondern erscheint im Lichte eines breiten Spektrums, eines opernhaft prallen Lebens, das einem doch nicht einmal die letzte Ankunft im wohlgezimmerten Sarg garantiert. Die Parallelen zum Hier und Heute stellen sich von selbst ein: der Krieg und die Welle

Titelbild

Andreas Gryphius / Martin Opitz: Komm, Trost der Nacht. Günter Grass und Peter Rühmkorf lesen Barocklyrik. CD.
Der Hörverlag, München 2004.
70 Minuten, 14,95 EUR.
ISBN-10: 3899403185

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