Umbruch ohne Hoffnung

Hochol Lees episodischer Roman "Kleine Leute"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder Krieg hat sein Hinterland, das ebenfalls verwüstet wird - auf vielleicht weniger augenfällige Weise, doch stets für lange Zeit. Im Falle des Koreakriegs 1950-1953 war dies im Südteil des Landes die Hafenstadt Pusan. Im einzigen Ort, der von den Truppen des Nordens nicht erreicht wurde, sammelten sich unzählige Flüchtlinge, die das von der vorangegangenen japanischen Kolonialherrschaft ohnehin beschädigte Sozialgefüge vollends einstürzen ließen. Dieser Vorgang bildet den historischen Rahmen für Hochol Lees Roman "Kleine Leute", der zuerst 1963/64 publiziert wurde und nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Bereits 2002 war, ebenfalls im Pendragon Verlag, Lees jüngerer Roman "Menschen aus dem Norden, Menschen aus dem Süden" erschienen, der Ereignisse im Norden und in den Kämpfen zum Stoff hat.

Die "kleinen Leute" sind die Angestellten einer Nudelfabrik. In dem winzigen Betrieb wohnen die Arbeiter auf engstem Raum mit der Familie des Besitzers zusammen, dem es auch nicht viel besser geht. An dem überschaubaren Ensemble demonstriert Lee unterschiedliche Haltungen zum sozialen Zerfall: Der ehemalige Linke Kim etwa repräsentiert den Willen zu einer radikalen, individualistischen Neuorientierung und bekämpft erfolgreich die moralischen Bedenken, die ihn anfangs noch am rücksichtslosen geschäftlichen Aufstieg hindern. Während er der Fabrik nach oben entkommt, ist der Verfall Chongs, der früher Kims Genosse war, unaufhaltsam. Zunächst als kraftvolle Persönlichkeit eingeführt, hält Chong an seinen gesellschaftlichen Vorstellungen fest, vermag damit keine Perspektive mehr zu formulieren und stirbt zuletzt völlig ausgezehrt. Ausgerechnet den unbekümmerten Kwak, der sich lange ohne gültige Militärpapiere durchzuschlagen weiß, ereilt am Ende der Krieg: Er wird eingezogen und kommt an der Front um.

Solche Nachrichten irritieren die Menschen kurz, dann wenden sie sich doch wieder ihren kurzfristigen Interessen zu: "Irgendwo zwischen Front und Hinterland schien es einen undurchlässigen Vorhang zu geben." So auch zwischen den Menschen und der großen Politik; was der Auslieferer mit dem Spitznamen Kasper von den Konflikten zwischen dem Parlament als der Institution der alten Eliten einerseits, Präsidenten und Militär als Repräsentanten der neureichen Aufsteiger andererseits darzulegen versucht, zeigt nur sein Unverständnis. Je mehr Kasper erklärt, desto deutlicher wird gegen seinen Willen, dass keiner der Herrschenden Politik zugunsten der "kleinen Leute" macht.

So ist das Interesse des Ich-Erzählers, des jungen Arbeiters Park, auf seine engere Umgebung fokussiert. Park in seiner Beschränktheit ist ideales Erzählmedium in einem Roman, in dem Auswege widerlegt und nicht beschrieben werden. Er ist mit den Personen seiner Umgebung vertraut - eben so weit, dass er genug von ihnen erfährt, um sie plastisch zu umreißen, doch ohne in den Auseinandersetzungen Partei zu ergreifen. Der Blick aufs Ganze gelingt ihm meist, weil er ihn nicht anstrebt: Anschaulich werden Zerfall wie auch Überlebenswille durch Beschreibung der Phänomene, und nur zuweilen lässt Lee seinen Protagonisten etwas zu viel wissen und erörtern.

Durch Park wird auch das Personenensemble ein wenig erweitert: Kwangsok, ein entfernter Verwandter aus Parks Heimat im Norden, ist in seinem Aufstiegswillen ein freilich kümmerliches Gegenstück zum erfolgreicheren Kim. Mehrere Frauen interessieren sich, neben der Frau des Fabrikbesitzers, für Park: die zwanzigjährige, illusionslose Mary, die zu den künftig Erfolgreichen zählen dürfte, und Chongs Verwandte Ok, die in etwas klischeehafter Tapferkeit sich selbst als Märtyrerin in der neuen Zeit darstellt und tatsächlich, zur Anpassung so unfähig wie unwillig, noch lange vor Chong ausgezehrt stirbt.

Eine Handlung im Sinne eines zielgerichteten Verlaufs gibt es nicht; mehr oder minder prägnante Episoden lösen sich ab. Mag der koreanische Leser bei entsprechender historischer Bildung anhand der schlaglichtartig beleuchteten politischen Ereignisse erkennen, in welchem Verhältnis historischer Verlauf und die Entwicklung der Romanfiguren stehen - für die Leser der Übersetzung ergibt sich eine eigenartige Zeitlosigkeit, die indessen ihre Funktion hat. Tatsächlich handelt es sich ja um eine Epoche des Übergangs, in der weniger das Neue als die Zerstörung erkennbar wird; und wenn überhaupt etwas das Buch rhythmisiert, so sind es die zahlreichen Totenfeiern.

Mit Vorstellungen, die in Europa noch von asiatischer Zurückhaltung und Würde herumgeistern mögen, haben diese Feiern nichts zu tun. Ohnehin dient ein koreanisches Totenfest der Ablenkung von der Trauer mindestens so sehr wie der Artikulation der Verlusterfahrung. Doch im äußersten Misslingen drängt sich hier zuweilen eine Würdelosigkeit in den Vordergrund, die freilich nicht nur ausdrückt, was an Form in der Gesellschaft verloren ging. Ebenso greifbar ist die Angst der Überlebenden, die gemeinsam zechen.

Indem Hochol Lee solche Momente in ihrer Widersprüchlichkeit zu schildern weiß, entgeht er einem bloßen Folklorismus und erlaubt dem westlichen Leser dennoch Einblicke in eine koreanische Lebensweise, die gerade vergeht. Mehr noch: Bei allen Unterschieden der ärmlichen Kleinstproduktion mit persönlichen Beziehungen zwischen Besitzer und Arbeiter einerseits von der modernen Industriegesellschaft andererseits ergeben sich verblüffende Parallelen zur deutschen Gegenwart, in der alles zerschlagen wird, was keinen ökonomischen Nutzen bringt, und in der Neues jenseits eines rücksichtslosen Egoismus nicht zu erkennen ist.

Leider bietet die vorliegende Übertragung dennoch keine ungetrübte Erkenntnis- und Lesefreude. Dafür sind manche Wiederholungen in der Vorlage verantwortlich, mehr aber noch sprachliche Mängel. In ihrem Nachwort benennt die Übersetzerin Heike Lee zu Recht die Schwierigkeiten, für die bildreiche und dialektgefärbte Prosa Lee Hochols eine deutsche Entsprechung zu finden; und sicher war es klug, für die je politisch gefärbten Mundarten der Landesteile Koreas keine deutschen Entsprechungen mit ihren ganz anderen landschaftlichen Assoziationen, die sie hervorrufen, einzusetzen. Auch gehört die Metaphorik eines Textes zum Kernbereich seiner Poetik und darf nur dort verändert werden, wo es sich um verbreitete Redewendungen handelt, für die dann in der Zielsprache ein Äquivalent zu finden ist. Resultat kann und sollte vielleicht sogar eine Irritation sein, und wer die nicht mag, kann ja deutsche Literatur oder einen der für ein internationales Publikum zugeschnittenen US-Bestseller lesen. In Heike Lees Text aber finden sich schleppende Sätze zuhauf, deren Syntax noch halb dem ganz anderen und nicht sinnvoll übertragbaren koreanischen Satzbau verhaftet ist; Wendungen, die nicht ganz zu passen scheinen und etwas unbedacht einem der allesamt wenig zuverlässigen deutsch-koreanischen Wörterbücher entnommen scheinen; Stilbrüche ohne erkennbare Funktion. In sprachlicher Hinsicht wäre eine gründliche Überarbeitung wünschenswert gewesen und hätte es erleichtert, einen Roman zu würdigen, der zwar kein Meisterwerk ist, doch wertvolle Einblicke in die koreanische Gesellschaft und in die Dynamik von Umbruchszeiten überhaupt eröffnet.

Titelbild

Hochol Lee: Kleine Leute. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Heike Lee.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2004.
282 Seiten, 15,40 EUR.
ISBN-10: 386532004X

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