Irrwege und Sackgassen

Oliver Sill über Geschichte und Funktion germanistischer Literaturwissenschaft

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Germanistische Literaturwissenschaft der sechziger und siebziger Jahre" verspricht Oliver Sill in einem schmalen Band zu untersuchen, der zu diesem Thema allzu wenig und desto mehr zur gegenwärtigen Lage der Germanistik bringt. Was Sill schreibt, provoziert zum Widerspruch, ist freilich selbst widersprüchlich, und zwar derart, dass die Konflikte unserer Zeit eher unfreiwillig herausgestellt sind.

Sill betreibt Fachgeschichte nicht als Abfolge oder Gegeneinander einzelner Methoden oder gar Forscherpersönlichkeiten, sondern bemüht sich zu Recht um eine gesellschaftliche Einordnung und Begründung der Verläufe. Dabei stützt er sich auf zwei einander entgegengesetzte soziologische Ansätze. Auf der einen Seite steht die gesellschaftliche Entstrukturierung, wie sie Ulrich Beck und Gerhard Schulze wahrzunehmen meinen. Für Vertreter dieser Sichtweise lösen sich traditionelle Klassen (Marx) bzw. Schichten (Weber) auf und werden durch Milieus ersetzt, zwischen denen freigesetzte Individuen selbstverantwortlich wählen. Dagegen vertrat Pierre Bourdieu einen Strukturierungsansatz und betonte fortbestehende Hierarchien. Die Verfügung über Kultur wie auch über einen zur Statuswahrung oder zum Aufstieg nützlichen Habitus ist Mittel zum individuellen Erfolg, ohne dass Gleichheit oder auch nur Chancengleichheit gegeben wären.

Sill will beide Ansätze vereinen und kann es insoweit, als ein Bedeutungsverlust von Hochkultur, wie der größte Teil der Germanistik sie tradiert und wie er das Fach bedroht, im Rahmen beider Ansätze konstatiert werden kann. Um Bourdieus anhand der Lage in Frankreich gewonnene Erkenntnisse auf Deutschland zu übertragen, zieht er die historische Darstellung Georg Bollenbecks heran. Nach Bollenbeck stützte sich das politisch machtlose deutsche Bürgertum, anders als in den westlichen Nachbarstaaten, zwecks Distinktion auf einen Begriff von Bildung und Kultur, der vom praktisch und insbesondere wirtschaftlich Zweckmäßigen scharf geschieden war. In der ideologischen Defensive schon seit den naturwissenschaftlichen Fortschritten im Wilhelminischen Kaiserreich, radikalisierte sich das Bildungsbürgertum bis 1945 zunehmend, um in der Abendlandsideologie der fünfziger Jahre eine letzte Heimstatt zu finden, bevor es im Gefolge des Kulturbruchs um 1968 endgültig zerfiel.

Damit fehlt die soziale Voraussetzung, die seit Schillers Überlegungen über die Humanisierung durch das Ästhetische neben dem Nationalen die Germanistik erst entstehen ließ, sie stärkte und ihre soziale Funktion ausmachte. Empirisch ist Sill kaum zu widersprechen, wenigstens was den historischen Verlauf bis zur Gegenwart angeht. Problematisch indessen ist, wie er das, was nun mal wurde, in etwas umwandelt, was für die Zukunft zu gelten hat. So vertritt er eine Affirmation, wie sie Beck und Schulze propagieren. Ob der "deutsche Sonderweg", den Bollenbeck nachzeichnet und Sill denunziert, nicht auch zeitweise international ausstrahlen konnte und jenseits der finsteren Anschauungen vieler seiner Vertreter nicht auch Vorstellungen von einem besseren Leben als Gegenbild zu einer tatsächlich unerfreulichen Welt transportieren konnte, erscheint als obsolet. Soziale Machtverhältnisse, die für Bourdieu wesentlich sind, interessieren Sill nicht weiter, weil ihm als Leitlinie gilt, was sich nun einmal ergeben hat - bzw. was Machtgruppen erfolgreich durchgesetzt haben.

Wenn es dann um Konkretisierung geht, d. h. um das, was die Germanistik in den sechziger und siebziger Jahren tatsächlich forschte, dann ist auf den etwa dreißig Seiten, die sich tatsächlich mit dem vorgeblichen Stoff des Buches befassen, ein allzu enger Ausschnitt gewählt. Es geht um die Literatursoziologie, die in Sills posthistorischer Perspektive als defizitär erscheinen muss. Als unzureichend gelten ihm zum einen empirische Ansätze wie der Alphons Silbermanns, der das eigentlich Künstlerische den werkimmanenten Interpreten überließ, wobei der überkommene Kunstbegriff unangetastet blieb. Mindestens ebenso scharfe Kritik aber trifft die traditionell marxistische Literatursoziologie eines Klassizisten wie Georg Lukács wie auch Theodor W. Adornos Bezug auf avancierteste Kunst, weil beide von Herrschaftsverhältnissen ausgehen, weil beide trotz schärfster Differenzen sich gegen die Macht des Kapitalismus wenden, und weil beide affirmativ oder negativ großer Kunst das Vermögen zusprechen, Opposition gegen das Bestehende zu sein und damit Statthalter für ein zukünftiges Besseres. Kunst, nach der Überzeugung der Kontrahenten Lukács und Adorno, transportiert humane Werte, die dem Schlechten des Kapitalismus entgegengesetzt sind.

Für Sill ist das bildungsbürgerliche Kunstreligion, die er erbarmungslos bis zum Lächerlichmachen verfolgt. Wo von Entfremdung die Rede ist, sieht er einen Marxismus, den er für veraltet hält. Veraltet scheint für ihn überhaupt jeder Begriff von Geschichte, der über eine Abfolge von zu konstatierenden Zuständen hinausgeht. Nicht allein lehnt er, überzeugend, jede Geschichtsphilosophie ab, die das zukünftig Bessere als notwendig postuliert; grundsätzlich hält er jeden Gedanken für bildungsbürgerlich obsolet, ein Besseres als das Bestehende sei denkbar und die kritische Beschäftigung mit Literatur könne dieses Bessere befördern. Neuere literatursoziologische Ansätze wie die von Peter Bürger oder Peter V. Zima werden denn auch nur unter dem Aspekt anerkannt, ob sie denn die Vorstellung von Geschichte als möglichem Fortschritt verabschieden; zur Ehre der früheren Germanistik sei erwähnt, dass Sill mit ihr nicht glücklich wird.

Sill übt stumpfe Ideologiekritik an einer vergangenen Germanistik, die er zudem auf ihren progressiv-ideologiekritischen Teil verkürzt; eine Auseinandersetzung etwa mit strukturalistischen Strömungen fehlt ganz. Stattdessen wendet Sill sein Augenmerk, eigentlich begrüßenswert, auf die in der Fachgeschichtsschreibung zumeist vernachlässigte Gruppe der Studierenden als den wichtigsten Abnehmern germanistischer Forschung und Lehre. Freilich befremdet der Zeitrahmen, den er hier wählt. Die Absolventenstudien, die er vorstellt, entstammen den achtziger und neunziger Jahren, also gerade nicht dem Abschnitt, den er eigentlich zu untersuchen aufbrach.

Wenig überraschend ergibt sich, dass zwar Akademikerarbeitslosigkeit auch für Geisteswissenschaftler nicht das einst befürchtete Ausmaß annahm, dass aber Status- und Einkommensgewinn durch den Erwerb von Bildungstiteln, die mit Hochkultur zusammenhängen, geringer wird und gerade im Vergleich mit anwendungsorientierten Wissenschaften abfällt. "Interesselose Bildung" und ein "kontemplatives Zeitregime" sind nicht mehr gefragt; "markttaugliche Schlüsselqualifikationen" sind, wie Sill zitiert, "Anpassungsfähigkeit, Leistungsbereitschaft, Flexibilität, psychische und räumliche Mobilitätsbereitschaft, souveräne Handhabung eines individuellen Zeitmanagements [...]."

Abgesehen von der Unverschämtheit, selbst die radikale Unterwerfung noch mit dem Begriff der Souveränität zu kennzeichnen, mag das als Beschreibung der Gegenwart durchgehen. Umso schlimmer ist das nicht nur für die Einzelnen, die sich dieser totalen Mobilmachung zu fügen haben, sondern auch für die Gesellschaft, die dann derart zugerichteten Wesen ausgeliefert ist. Was soll da noch die Germanistik? Sill referiert zwei Positionen und fasst damit zutreffend zusammen, was gegenwärtig zu hören ist. Auf der einen Seite stehen die Konservativen, die sich weiter positiv auf tradierte philologische Arbeitsweisen beziehen und im Übrigen systemkonform darauf verweisen, dass ja das Fach "Schlüsselqualifikationen" wie Sprachkompetenz oder konzeptionelles Denken durchaus zu vermitteln in der Lage ist. Dagegen fordern die Modernisierer angesichts der Abwertung traditioneller Bildungsgüter eine "permanent flexible Handhabung neuer Gegenstände und Methoden, stets abgestimmt auf die rasch sich verändernden Bedürfnisse des Arbeitsmarktes".

Fast wirkt es, als wolle Sill dem zustimmen und "anwendungsorientierte Wissensformen", die "so weit wie möglich angepasst an sich rasch verändernde Bedarfsansprüche" Sprach- und Literaturwissenschaft "auf ein unverzichtbares, vielleicht im Grundstudium zu vermittelndes Minimum" reduziert. Dann aber kommt es zu einer Wendung, und Sill bezieht sich auf die Systemtheorie, die mit keinem der zuvor verhandelten Ansätze zusammenpasst. Gesellschaft erscheint mit Luhmann als funktional differenziert, und jedes Subsystem besteht zunächst für sich selbst. Die Wissenschaft dient der Wissenschaft und der autonomen Produktion "wahren Wissens", d. h. in ihrem Kommunikationssystem akzeptablen Aussagen über ihren Gegenstand. Auf diese Funktion müsse sich die Literaturwissenschaft rückbesinnen, denn sie sei auf die Literatur angewiesen wie umgekehrt die Literatur auf ständige Kommentierung durch die Literaturwissenschaft.

Anderes freilich hätten die Werkimmanenzler der fünfziger Jahre auch nicht sagen können, sie hätten es nur anders gesagt. Was bei Sill als System benannt ist, hieß Dienst an der Kunst. Wenn man freilich die Diagnose ernst nimmt, dass Hochkultur ihr Ansehen verloren hat, muss man begründen, weshalb der Staat ein System Literatur mit zugehörigen Goethe-Forschern fördern soll anstelle eines denkbaren nachfrageintensiven Systems Pornofilm mit entsprechenden Forschern. Eine Antwort zugunsten Goethes ist nur denkbar auf Basis einer Wertentscheidung; und eine Wertentscheidung ist mit einer normativen Vorstellung von Gesellschaft verbunden, d. h. mit der Bevorzugung möglicher Entwicklungen vor anderen möglichen Entwicklungen. So hätte Sill am Ende trotz seiner szientistischen Formulierung glücklich all das in die Germanistik wieder eingebracht, was er ihr zuvor auszutreiben gesucht hatte: die Favorisierung von Literatur als Hochkultur und die Idee, dass Literaturwissenschaft zu einer Gesellschaft beitragen kann, die besser ist als eine, in der allein "markttaugliche Schlüsselqualifikationen" zählen.

Leider: Sill weiß das nicht und will es nicht wissen; oder er weiß es und will es nicht schreiben, weil solche Bekenntnisse doch nicht zu dem passen, was er sich unter Wissenschaft vorstellt. Derart abgebrüht ahmt er ausgerechnet die pathetischen Verfechter einer Kunstautonomie nach, deren Position schon um 1968 zusammenbrach. Wie viel einfacher hätte er es, würde er eine Literaturwissenschaft, die heute ideologisch wertet, nicht als "eher skurril" abwerten! Selbst sein Gewährsmann Ulrich Beck musste die Zukunft, die er verteidigte, schon 1986 als "Risikogesellschaft" kennzeichnen - und immerhin denkbar ist, dass die Benachteiligten der Risikogesellschaft ihren Misserfolg nicht als individuelles Versagen, sondern als strukturelles gesellschaftliches Problem erkennen; dass ökologische Gefahren, die der von Sill verhöhnte Jost Hermand 1997 als Anknüpfungspunkt für eine gesellschaftlich relevante germanistische Literaturwissenschaft benannt hat, unübersehbar werden.

In solchen Konflikten ihre Funktion zu finden, entspräche der Geschichte der Literaturwissenschaft. Nicht als selbstbezügliche hat die Germanistik eine Zukunft. Sie war nie Sprechen nur über Literatur, sondern war nachgefragt als antinapoleonisch, als nationalreligiös oder nationalliberal, als wilhelminisch, faschistisch oder abendländisch, nach 1968 dann in Teilen als Statthalterin einer Emanzipation, die gesellschaftlich freilich scheiterte; und sogar die seit 1940 vorbereitete Werkimmanenz gewann ihre ideologische Funktion in einer Gesellschaft, die ideologisch entschlossen sich als ideologielos darzustellen gewillt war. Kein System oder Subsystem wird die Wissenschaft von der deutschen Literatur retten, sondern der kritische Bezug auf eine Gesellschaft, der die flexiblen, mobilen und im Übrigen pragmatisch-skrupellosen, gutbezahlten Distinktionsgewinnler von heute noch arge Probleme bereiten werden.

Titelbild

Oliver Sill: Kein Ende und ein Anfang. Germanistische Literaturwissenchaft der sechziger und siebziger Jahre.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2003.
136 Seiten, 14,50 EUR.
ISBN-10: 3895284238

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