In der Gegenwart angekommen

Zum Abschluss der vierbändigen Geschichte des Pietismus

Von Wolfgang BreulRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Breul

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach mehr als einhundert Jahren liegt wieder eine umfassende wissenschaftliche "Geschichte des Pietismus" vor. Seit Albrecht Ritschls gleichnamigem dreibändigem Werk (1880-1886) hat diese bedeutendste Reformbewegung innerhalb der evangelischen Kirchen seit der Reformation keine derartige Darstellung mehr erhalten. Nachdem die Pietismusforschung zunächst eine Domäne der Theologen war, hat sie in den letzten Jahrzehnten in erheblichem Maß an Interdisziplinarität und Internationalität gewonnen. Die Bedeutung der Frömmigkeitsbewegung für Literaturgeschichte, Pädagogik, Sozialwesen, Medizin und Musik wird zunehmend wahrgenommen, ebenso die Verbindungen zu parallelen oder vergleichbaren Erscheinungen im europäischen Ausland und in Nordamerika, auch wenn hier noch viele Fragen offen sind, wie der Herausgeber in seiner Einleitung zu Recht anmerkt. Der Aufschwung der Pietismusforschung geht nicht unwesentlich auf die Arbeit der "Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus" zurück, die mit der Herausgabe umfangreicher Editionsprojekte, Bibliografien, einer wissenschaftlichen Reihe ("Arbeiten zur Geschichte des Pietismus") und einer eigenen Zeitschrift ("Pietismus und Neuzeit") sowie zahlreichen Tagungen vielfältige Anregungen gegeben hat. Ihrer Arbeit, die ein Beitrag am Ende des Bandes skizziert, verdankt sich auch das Erscheinen des nun abgeschlossenen Handbuchs.

Bereits der erste - von Martin Brecht herausgegebene - Band zum "Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert" (1992) führte den erweiterten Horizont der wissenschaftlichen Bemühungen vor Augen, indem er die Wurzeln der "neuen Frömmigkeitsbewegung" im englischen Puritanismus, in der niederländischen "Nadere Reformatie" und in Personen und Gruppierungen abseits des deutschsprachigen theologischen und kirchlichen Mainstream (Johann Arndt u. a.) aufsuchte. Diese zeitliche und inhaltliche Neubestimmung des Pietismusbegriffs löste eine bis heute nicht abgeschlossene Kontroverse aus. Johannes Wallmanns kritischer Einwand zum ersten Band war nicht unbegründet: Längst nicht alle beteiligten Autoren hatten in ihren Beiträgen das von den Herausgebern festgelegte Konzept eingelöst. Dennoch erwies sich die Erweiterung der Perspektive insgesamt als produktiv, wie insbesondere der zweite ("Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert", herausgegeben von Martin Brecht und Klaus Deppermann, 1995) und dritte Band ("Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert", herausgegeben von Ulrich Gäbler, 2000) zeigten.

Die Frage nach der Legitimität dieser Konzeption bedarf primär einer inhaltlichen Antwort, d. h. einer sachlichen Erfassung des Phänomens Pietismus nach theologischen, kultur- und sozialgeschichtlichen Kriterien. Daher durfte man auf das Erscheinen des von Hartmut Lehmann herausgegebenen vierten Bandes besonders gespannt sein, der "die Ausgestaltung pietistischer Lebenswelten aufgrund der Kräfte in der pietistischen Glaubenswelt sowie die Prägung dieser Glaubenswelt durch Erfahrungen und Eindrücke aus den pietistischen Lebenswelten von unterschiedlichen Aspekten aus thematisiert". Lehmann benennt in einer instruktiven Forschungsskizze offene Fragen hinsichtlich Terminologie, Abgrenzung und methodischem Ansatz. Nach wie vor bedürfen insbesondere anthropologische Aspekte des Pietismus einer genaueren Ausleuchtung in sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive. Dennoch repräsentiert die vorliegende "Zwischenbilanz" das hohe Maß an Interdisziplinarität, das die Pietismusforschung erreicht hat. Neben klassischen theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Themenfeldern wie "Bekehrung und Wiedergeburt", "Frömmigkeit und Gebet", Bibel, Gesangbuch (Christian Bunners) und Mission (Hermann Wellenreuther) steht ein deutliches Übergewicht an kulturgeschichtlichen Beiträgen zur Pädagogik (Werner Loch), Psychologie (Horst Gundlach), Philosophie (Walter Sparn), Medizin und Pharmazie, Naturwissenschaft und Technik (Thomas Müller-Bahlke), Musik (Christian Bunners), Architektur, Kunst (Jan Harasimowicz), Literatur und Sprache des Pietismus sowie zur Eigenkultur der pietistischen Bewegung(en) (Manfred Jakubowski-Tiessen) und zum Pfarrer- und Theologenstand. Sozialgeschichtliche Fragen beleuchtet der dritte Abschnitt des Sammelbandes: Ehe, Familie und Kinder, Frauen (Ruth Albrecht), Wirtschaft (Peter Kriedtke) und Soziales sowie pietistisches Weltverständnis und Handeln in der Welt.

Angesichts der Fülle der Beiträge kann hier nur auf einige ausgewählte Aspekte exemplarisch eingegangen werden. Wohl überlegt eröffnet der Band mit einem Beitrag zu "Geschichte, Gegenwart, Zukunft", da sich Philipp Jakob Speners Epoche machenden "Pia desideria" (1675) neben einigen Reformvorschlägen vor allem durch eine neue Zeitwahrnehmung auszeichneten. Entsprechend macht Ulrich Gäbler die "Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche" im Gegenüber zur reformatorischen Position zum Ausgangspunkt seiner differenzierten Darstellung, die einen Bogen schlägt von chiliastischen Erwartungen des 17. Jahrhunderts bis zu Erweckungsbewegung und Evangelikalismus. Wie kaum einem anderen Beitrag des Bandes gelingt es Gäbler, eine Vielfalt der Positionen zu präsentieren, zu strukturieren und miteinander in Beziehung zu setzen. Einen gänzlich anderen Weg der integrierenden Darstellung wählt Johannes Wallmann in seinem Artikel zur Haltung des Pietismus gegenüber den Juden ("Der alte und der neue Bund"): "Wie jede Darstellung des Pietismus von den Pia Desideria ausgehen muss, weil in ihr alle wesentlichen Merkmale des Pietismus enthalten sind, so muss jede Darstellung des Verhältnisses zwischen Pietismus und Judentum von der in Speners 'Pia Desideria' programmatisch ausgesprochenen Erwartung einer noch ausstehenden Bekehrung Israels ausgehen". Wallmann kann Speners Wirkung vor allem auf die Luther-Rezeption in dieser Frage eindrücklich vor Augen führen. Die auf Spener zentrierte Perspektive lässt anderen Positionen freilich nur eingeschränkt Raum, die Positionen Arnolds und Zinzendorfs kommen nur im Kontext der Spener'schen Wirkungsgeschichte zur Sprache. Wallmanns zweiter Beitrag ("Frömmigkeit und Gebet") formuliert in markanter Gegenposition zum Ansatz Martin Brechts, dass der Pietismus nicht als Frömmigkeitsbewegung zu verstehen und seine Eigenart daher auch nicht von der "Praxis pietatis" her zu erfassen sei. Am Beispiel der Gebetsliteratur im lutherischen Protestantismus zeigt Wallmann, wie sich Spener und Francke von den Gebetbüchern der lutherischen Orthodoxie lösten, das formelhafte Gebet kritisierten und das freie Gebet propagierten. Derart führt das gewählte Exempel freilich vor Augen, dass der Pietismus in den vom Autor gewählten Spielarten - entgegen seiner Eingangsthese - auch in frömmigkeitsgeschichtlicher Perspektive durchaus Eigenarten aufzuweisen hat, selbst wenn sie nicht schon bei Johann Arndt, sondern erst bei Philipp Jakob Spener greifbar sind.

Martin Brecht umreißt die "Bedeutung der Bibel im deutschen Pietismus" in beeindruckender Weite und notgedrungener Kürze. Das Spektrum reicht von den Reformvorschlägen der Pia Desideria, "das Wort Gottes" vor allem in Gestalt der Collegia pietatis "reichlicher unter uns zu bringen", über Frömmigkeitspraxis (Zinzendorfs "Losungen", Sammlungen von Andachtstexten) und Bibelverbreitung durch den Einsatz neuer Drucktechniken in Halle (Stehsatz, Canstein'sche Bibelanstalt) bis zu philologischen Bemühungen (August Hermann Franckes "Observationes", Johann Albrecht Bengels "Gnomon"). Indem Brecht ebenso wie in seinem Beitrag über "Pfarrer und Theologen" den Bogen bis zum 20. Jahrhundert schlägt, entspricht er der Pietismuskonzeption des Gesamtwerks. Markus Matthias befasst sich mit zwei miteinander korrespondierenden Vorstellungen pietistischer "Psychagogik". Er setzt "Bekehrung und Wiedergeburt" mit der ethischen Neuorientierung, welche der Pietismus seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts mit sich brachte, und von daher "mit dem neuzeitlichen Bewusstsein der moralischen Persönlichkeit" in Beziehung. So berühren sich die pietistische Herzensbekehrung mit der neuzeitlichen Kultur der Empfindsamkeit und der Individualität. Im Zentrum der Darstellung steht sachgemäß die von August Hermann Francke geprägte Bußkampftheologie mit der Bekehrungserfahrung als organisierender Mitte; ältere Wurzeln dieser Vorstellung geraten dabei aber ebenso wenig aus dem Blick wie literaturgeschichtliche und soziale Aspekte.

Richard Toellner setzt in seinem Beitrag zu "Medizin und Pharmazie" einen Schwerpunkt bei Georg Ernst Stahl (1659-1734) und seinen Schülern (u. a. die Gebrüder Richter, Johann Juncker, Friedrich Michael Alberti). Der Hallenser Ordinarius für Medizin habe im Gegensatz zum mechanistischen Körperkonzept der zeitgenössischen Naturwissenschaft mit seiner "Theoria medica vera" eine "sanfte Medizin" vertreten. Stahl sei jedoch "kein Relikt aus der vorrevolutionären Zeit der Wissenschaft, wie viele seiner Kollegen" gewesen, sondern ein "außerordentlich selbständig denkender originaler Kopf". Seine Betonung der Kraft der Seele für Wachstum und Gesundheit des Organismus weist nach Toellner nicht nur auf Einsichten der modernen Psychosomatik voraus, sie sei auch für die pietistische Anthropologie anschlussfähig gewesen. Hans-Jürgen Schrader versammelt in seinem mit umfangreichen bibliografischen Angaben versehenen Beitrag zur "Literatur des Pietismus" in beeindruckender Dichte und Prägnanz direkte und indirekte literaturgeschichtliche Wirkungen der Frömmigkeitsbewegung, die neben der nahezu gleichzeitigen Aufklärung "zum wirkungsvollsten Impuls aller literarischen und sprachlichen Innovationen vom ausgehenden Barock bis in die Goethezeit" wurde. Der Beitrag desselben Verfassers zur Sonderterminologie und Spezialsemantik des Pietismus ("Die Sprache Canaan") ist schon in der Überschrift als "Auftrag der Forschung" formuliert, gibt es doch seit der bahnbrechenden Arbeit von August Langen ("Der Wortschatz des deutschen Pietismus", 2. Aufl. 1968) keine wirklich weiterführende umfassende Untersuchung der beachtlichen sprachschöpferischen Potenz des Pietismus.

Udo Sträter zeigt, wie fruchtbar der Anschluss der Pietismusforschung an die frühneuzeitliche Sozialgeschichte sein kann ("Soziales"). Sein Blick auf die primär von Spener und Francke geprägte Sozialtätigkeit des Pietismus löst sich ohne Affront von Mythen der älteren Forschung, beschreibt differenziert die Funktionen, welche Waisenhäuser und andere Sozialeinrichtungen innerhalb der unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge ausfüllten und arbeitet abschließend Grundzüge des sozialen Engagements im Pietismus heraus. Anders als der Beitrag zur "Pädagogik am Beispiel August Hermann Franckes", der mit dem zeit- und kirchengeschichtlichen Kontext nicht immer ausreichend vertraut ist, werden in Sträters Beitrag Grundlinien deutlich, die für eine künftige Erforschung insbesondere des Halleschen Pietismus wichtig sein werden.

Die beiden Beiträge von Andreas Gestrich sind anders als die meisten übrigen nicht chronologisch, sondern systematisch aufgebaut. Seine Ausführungen zu "Ehe, Familie, Kinder im Pietismus" setzen einen Schwerpunkt beim Thema Sexualität, zu dem der Pietismus höchst unterschiedliche Haltungen hervorgebracht hat. Während der kirchliche Pietismus keine grundlegend andere Haltung zum "gezähmten Teufel" (so der Untertitel) einnahm als die lutherische Orthodoxie, lediglich zurückhaltender war, reichte das Spektrum im radikalen Pietismus von der völligen Ablehnung von Sexualität und Ehe bei dem von Jakob Böhme inspirierten Johann Georg Gichtel bis zur religiösen Deutung und Zelebration des Geschlechtsverkehrs in der Sozietät der Eva von Buttlar. Gestrich skizziert die wesentlichen Positionen zuverlässig (allerdings fehlt die für das gesamte Thema maßgebliche Arbeit von Willi Temme, "Krise der Leiblichkeit", 1998), um anschließend knapp auf die Partnerwahl, das Ehe- und Familienleben und die pietistische Kindererziehung einzugehen. Dabei gelingt es ihm anhand eindrücklicher Exempla, den Bogen bis zum Pietismus der Gegenwart zu schlagen.

Gestrichs Beitrag zum pietistischen "Weltverständnis und Handeln in der Welt" führt die beiden Grundtypen pietistischer Kosmologie auf die Vorstellung der creatio ex nihilo bzw. ex Deo zurück. Während das im kirchlichen Pietismus vertretene Theologumenon der "Schöpfung aus dem Nichts" ganz im Sinne der lutherischen Orthodoxie eine klare Unterscheidung von Gott und Welt respektive Mensch nach sich zog, bildete die Annahme einer stufenweisen Entwicklung der Welt aus einem göttlichen Urgrund (Jakob Böhme) die Basis für die Kosmologie des mystischen Spiritualismus, dessen lange Wirkungsgeschichte Gestrich bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts reichen sieht (Johann Georg Gichtel, Michael Hahn, Friedrich Fabri). Unerwähnt bleiben die schon bei Johann Arndt zu findenden Ansätze in dieser Richtung, wie auch Gottfried Arnold. Doch darf man Vollständigkeit bei einer derart knappen Skizze nicht erwarten, die sich der pietistischen Kosmologie ebenso wie dem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft vom ausgehenden 17. bis zum Ende des 20. Jahrhundert und der Alltagsethik des Pietismus widmet. Gestrichs Beiträge sind mit ihrer systematisch-integrativen Perspektive trotz kleiner Lücken und gelegentlicher Unschärfe der Darstellung äußerst anregend.

Auch wenn nicht alle für die Pietismusforschung relevanten Aspekte behandelt werden - es fehlt beispielsweise ein Beitrag zur für den Pietismus wichtigen Ethik -, so ist doch mit dem vorliegenden Band ein Werk zum Abschluss gekommen, das auch auf längere Sicht als Standardwerk gelten dürfte. Dass um die Konzeption dieser vierbändigen Geschichte gestritten wird, ist angesichts des Forschungsstands unvermeidbar; dass der Ansatz der Herausgeber von den Autoren nicht einheitlich umgesetzt wurde, entspricht der Vielstimmigkeit der Forschung. Die "Geschichte des Pietismus" repräsentiert in vielen Bereichen einen Zwischenstand, doch ist er fast durchweg von ausgewiesenen Experten verfasst worden. Sie spiegelt in exzellenter Weise das Maß an Interdisziplinarität und Internationalität, das die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Pietismus inzwischen erreicht hat.

Titelbild

Hartmut Lehmann (Hg.): Glaubenswelt und Lebenswelten. Geschichte des Pietismus Band 4.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004.
710 Seiten, 86,00 EUR.
ISBN-10: 3525553498

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