In ein anderes Blau

Vor 30 Jahren starb Rolf Dieter Brinkmann, der im April 65 Jahre alt geworden wäre

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

"Geboren zu Anfang des Krieges in Nordwestdeutschland, Vechta, im südlichen Oldenburg, einer Kleinstadt von 15000 Einwohnern, ein Schweinelandstrich, leeres Moor, hellbraunen Torf stechen, Mücken und Wacholder. Viel krüppliges Grünzeug. Katholisch verseucht. Darin aller Schrecken einer wahnhaften Erziehungssucht gewesen ist, bis in die lächerlichen altphilologischen, viehlologischen Riten einer sogenannten höheren Bildungsanstalt. Anstalt - bereits diese Bezeichnung disqualifizierte die Ausbildung. Der Schrecken, jeden Montagmorgen in die Schule zu gehen, war allgemein. Die Lehrer haben gestunken, und sie haben stinkend den offiziellen Lehrstoff in die Körper der Schüler hineingejaucht."

Rolf Dieter Brinkmann wird am 16. April 1940 in Vechta geboren. Die Welt, zusammengeschrumpft auf ein oldenburgisches Nest, ist ihm von Anfang an ein feindseliger Ort. Es gilt, diesen mit größter Hingabe und zugleich Brutalität zu beschreiben. Seine Mutter stirbt elend an Krebs, da ist Rolf Dieter Brinkmann 17 - eine Urszene, eine Urangst, die sich durch sein gesamtes Schreiben zieht. Von den Monaten des Körperzerfalls der Mutter erzählt er, später.

In Oldenburg soll Brinkmann auf dem Finanzamt ausgebildet werden, aber es dauert nicht lange, und er flieht die Aussicht auf ein lebenslanges Angestelltendasein. In Essen absolviert er eine Buchhändlerlehre: Brinkmann verschlingt alle Bücher, zu denen er Zugang hat. In dieser Zeit, Anfang der 60er Jahre, lernt er Ralf-Rainer Rygulla kennen. Auch er ist Lehrling in dieser Buchhandlung. Man wohnt im selben Wohnheim, hat den selben Weg zur Ausbildungsstätte. Und teilt die Leidenschaft für die Literatur: "Brinkmann war ein großer Außenseiter. Er hat damals schon mit einer unglaublichen Intensität geschrieben. Er hat sich nachts aus dem Zweierzimmer geschlichen, sich Ecken gesucht in Gemeinschaftsräumen und dort geschrieben: essayistische Sachen, aber von Anfang an auch Gedichte."

Die Gedichte und Geschichten klingen in diesen frühen Jahren nach seinen Vorbildern: nach Gottfried Benn vor allem, nach der phänomenologischen Wahrnehmungsästhetik des Nouveau Roman. Die Lektüreerfahrungen sind vielfältig, aber fasziniert ist Brinkmann von Louis Ferdinand Céline und Hans Henny Jahnn, mit dem er auch Kontakt aufnimmt. Als Soundtrack dieser Dichterwerdung läuft Jazz-Musik, Gerry Mulligan oder Thelonious Monk. Und das Kino liefert nicht nur die Bilder dazu und einen Fluchtraum, sondern erzieht Brinkmann auch ästhetisch: Das Kino untermauert eine Idee des neuen Sehens und Wahrnehmens in Brüchen und Schnitten; von den Techniken des Films lernt er nach und nach, einen Film in Worten zu erzeugen. "Ich kann mich an diesen riesigen Essener Filmclub erinnern, in dem wir beide Mitglieder waren und in den wir oft gleich nach Ladenschluss hingingen. Oft aßen wir nur ein Stückchen trockenes Brot. Das klingt zwar dramatisch-romantisch, aber wir lebten zeitweise tatsächlich in großer Armut", erzählt Ralf Rainer-Rygulla.

Die Zeit in Essen, dann an der Pädagogischen Hochschule in Köln, sind Lehrjahre des Dichters.

Noch bevor er seine erste Zeile veröffentlicht, ist sich Brinkmann seiner Autorenrolle bewusst. Ralf-Rainer Rygulla: "Er stellte sich nie einfach nur als Rolf oder Rolf Dieter vor, sondern nahm stets die Position dessen ein, der schreibt, der nur mit Schreiben leben kann." Man trifft sich, hört Musik, trinkt Wein. Brinkmann liest Texte vor, fremde und eigene. Es ist eine Unbedingtheit und Bestimmtheit, die ihn auszeichnet. "Es gab eine ständige Diskussion über das Gelesene, ein ständiges Werten, bis hin zu so Ritualen, dass man Bücher zerriss und zerstörte, weil man sie als unerträglich empfand. In meiner Erinnerung hatte Brinkmann damals schon eine Aura der Besessenheit. Die Literatur, das Leben und Schreiben, was eine Einheit war - das war so absolut, dass man sich dem gar nicht entziehen konnte."

"Die Toten bewundern die Toten" - so charakterisiert Brinkmann einmal den bundesdeutschen Literaturbetrieb. Seine Emphase ist der Versuch, herauszutreten aus langen Schatten, aus einer Schattenwelt, Abstand zu nehmen vom "Hörighaltungs- und Abrichtungscharakter" eines Kulturbetriebs, der bereits alles vorformuliert und geprägt hat.

"Immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, Schnitte. Schnitt. Und noch ein Schnitt"

Zu Anfang der 60er veröffentlicht Brinkmann eine größere Erzählung, "In der Grube". Es folgt der erste, noch mit traditionellen Bildern aufgeladene Gedichtband "Ihr nennt es Sprache". Schon kurz darauf aber verändert sich die Form der Wirklichkeitswahrnehmung: Das Augenblickshafte wird als sinnliches Moment poetisiert, die Oberflächenreize führen bereits zu snap-shot-artigen Gedichten, die den Gestus eines William Carlos Williams ins Deutsche zu übertragen versuchen. Der fotografische Blick fokussiert ein Detail des Alltags, stellt es heraus. Mitte der 60er Jahre kommt es dann für Brinkmann zu einer richtungsweisenden Begegnung mit Autoren, die allen hochkulturellen Ballast über Bord werfen und sich selber im Underground verorten. Ralf-Rainer Rygulla, der damals in London lebt, versorgt Brinkmann mit neuen Texten vor allem aus den USA: Prosa und Lyrik von William Burroughs, Frank O'Hara oder Michael McClure. "Im Sommer 1966 kam ich zurück nach Deutschland mit Little Mags, hektographierten Zeitschriften und Büchern. Ein Zentner wird's gewesen sein, und Brinkmann stürzte sich darauf und lernte so durch die Beschäftigung mit diesem Material ganz nebenbei die Sprache Englisch."

"Cross the border, close the gap" - Brinkmann schreibt sich Leslie A. Fiedlers Diktum auf die Fahnen. Er reagiert in seiner Lyrik und in spielerischen Essays auf "veränderte Dimensionen des Bewusstseins", wird zum "Kosmonauten des Innenraums", wie William S. Burroughs einmal geschrieben hat. Das Gedicht, so Brinkmann, sei die geeignetste Form, spontan erfasste Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Es ist eine Bilderflut. Es gibt keine Gegenstände mehr, die nicht literaturfähig wären. "Beobachten, auseinandernehmen, neu zusammensetzen" - so beschreibt Brinkmann seine Arbeit und seine Lust am Text.

Die Blitzlichtaufnahmen der Gegenwart erhellen dunkle Flecken des Jetzt. Diese Gedichte stellen Provokationen dar, denn sie sind nicht auf die Ewigkeit gerichtet, sondern zielen auf den Moment - eine Apotheose des Augenblicks: "Sie sind zunächst einfach nur da", schreibt er. Und sie definieren neu, was in Augenschein genommen werden darf: Spülklosetts und Waschmaschinen, Hollywoodstars, Comics und Pornografie tauchen plötzlich in Gedichten auf.

Der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher, der in seiner Studie "Gerade eben jetzt" auch die Schreibweise Rolf Dieter Brinkmanns untersucht, erläutert dessen begeisterte Annäherung an die Gegenwart: "Es gibt rückblickende Äußerungen von Brinkmann, wo er hinsichtlich seiner eigenen Gedichte sagt: Wofür sind eigentlich die Gedichte da - für mehr Gegenwart. Vielleicht wäre das so eine Kurzzusammenfassung dessen, was Brinkmann machen möchte mit seinen Gedichten: Gegenwart einfangen, Gegenwart aber auch herstellen."

Fliegen, Schweben und Entgrenzung des Bewusstseins - so die Parole. "Piloten" und "Gras" heißen die Gedichtbände jener Zeit.

"Underground bedeutet zunächst einmal ein allgemeines Verhalten, ein persönliches Verhalten, das sich abgesetzt hat von dem Verhalten der älteren Generation, die eben nur noch permanent sich selbst repräsentieren kann, ein Establishment repräsentieren kann, Und man hat sich davon abgesetzt und geht seine eigenen Wege."

Brinkmann arbeitet auch an einem Roman. "Keiner weiß mehr" erscheint 1968 und gewährt einen geradezu obszön offenen Blick aufs eigene Ich, eine akribische, besessene Bestandsaufnahme eines falschen Lebens im falschen. Ein Buch, dessen Schonungslosigkeit, transportiert über eine rigoros schamlose Sprache, auch seine Frau Maleen und die Freunde einbezieht. Das eigene Leben als Material. "Das Manuskript 'Keiner weiß mehr' war, als ich 1966 aus England zurück kam, fast fertig", erinnert sich Rygulla. "Beim Lesen der mitgebrachten amerikanischen Texte konnte man ja nun nicht umhin festzustellen, dass dort mit den Four-Letter-Words richtig groß umgegangen wurde. Das ist natürlich eine Spezialität des amerikanischen Puritanismus, und die öbszöne Sprache war Mittel der Revolte. In Deutschland hatte das nicht diese große Bedeutung, wichtig war es aber offensichtlich doch. Es wurde ja auch gleich bemerkt in Rezensionen. Das war eigentlich das Neue. Der Roman ist von Brinkmann also regelrecht umgeschrieben worden, um bestimmte Dinge, die Sexualität betreffend, die vielleicht versteckt oder angedeutet waren, auszusprechen."

In einer radikalen, surrealistischen Geste legt es Brinkmann bei einer Podiumsdiskussion mit Harald Hartung und Marcel Reich-Ranicki Ende der 60er in Berlin auf Konfrontation mit dem etablierten Literaturbetrieb an: "Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre", ruft er den Kritikern zu, "würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen." Brinkmann will deutlich machen, dass es um mehr geht als um Literatur, dass aber genau dieses Mehr für ihn Literatur bedeutet. "Es gab Auseinandersetzungen, die schlimm waren. Das ging bis hin zu Aufkündigungen von allem bisher Dagewesenem, von Freundschaften, von gemeinsamem Arbeiten. Deshalb gab es auch Phasen, in denen ich mich ganz radikal abgewendet habe", sagt Ralf-Rainer Rygulla. "Aber es kam immer wieder zu einem Neuanfang. Er hat sich mit Lust Feinde gemacht. Es gab diese berühmte Geschichte bei der Podiumsdiskussion mit Reich-Ranicki. Das ist eine Attitüde, die nicht spontan, sondern ihm einfach selbstverständlich war - und die hat er auch gegenüber Freunden und Bekannten an den Tag gelegt."

Brinkmann braucht die Spannung, den Widerspruch, die Aggressivität, um ein Erregungslevel zu erreichen, auf dem sich etwas fühlen und schreiben lässt. Freunde macht man sich so tatsächlich nicht.

"Alles kontrolliert. Jeder kontrolliert jeden. Das ist doch nur noch Schwachsinn. Was wollt ihr denn alle. Ist doch alles schon da. Ihr blöden Narren. Ihr kleinen Wichtelmännchen. Ihr alten Polizisten. Warum seid ihr denn alle Polizisten?"

In den späten 60er Jahren übersetzen Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla aus dem Englischen, zusammen bringen sie unter anderem die wegweisende Anthologie "Acid - Neue amerikanische Szene" heraus. Der Aufbruchsgeist, die Euphorie, die gesellschaftlich in der Studentenbewegung verankert ist, hält nur eine Weile an. Für Brinkmann, der mit Frau und Sohn in Köln lebt, endet der Traum der Revolte in einer Depression, einer sowohl persönlichen, ästhetischen als auch finanziellen Krise.

"Sieben Gedichtbände, zwei Erzählungsbände, einen Roman, zwei Übersetzungen aus dem Amerikanischen, zwei Anthologien, drei Hörspiele. Das macht 17 größere Arbeiten in acht Jahren. Und davon kann ich nicht leben."

1970/1971. Brinkmann zieht sich zurück. Nach und nach vergrault er die verbliebenen Freunde, die ihm inkonsequent und verräterisch vorkommen. Rygulla etwa wechselt die Seiten, wird Lektor in Jörg Schröders März Verlag. Der Kontakt bricht fast vollständig ab. Brinkmann veröffentlicht Hörspiele, aber zu Lebzeiten keinen Gedichtband mehr, keinen Roman. Der Literaturbetrieb erscheint ihm noch verachtenswerter; die Attacken werden schärfer.

"Immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, Schnitte. Schnitt. Und noch ein Schnitt."

"Ich denke, es gibt auch einen ästhetischen Bruch", meint Rygulla. "Diese Leichtigkeit, die propagiert wurde in der Popphase zwischen 1966 und 70, steht ja in extremem Gegensatz zu seinen Arbeiten, die dann nach seiner riesigen - auch finanziellen - Krise entstanden sind. Erst in Rom, bei seinem Aufenthalt in der Villa Massimo, hat er wieder begonnen, Prosaentwürfe zu skizzieren, die bekanntlich später aus dem Nachlass erschienen sind. In seinen Gedichten ist aber tatsächlich eine Kontinuität da. Wobei das unbekümmerte Umgehen mit dem Material verloren ist. In "Westwärts 1 & 2" erscheint alles viel reflektierter."

In Rom entstehen Notizen und Vorstufen zu einem Roman: Collagenhafte Texte, mit Bildern und Briefen durchsetzt, hasserfüllte Aufzeichnungen, Abrechnungen, Raum- und Alltagserkundungen, die Brinkmanns Gefühl widerspiegeln, von Dreck, Sprachmüll, Phrasendrehern und Muff umgeben zu sein. Diese gewaltigen Texttopografien erscheinen erst posthum unter dem Titel "Rom, Blicke". Andere Materialienbände folgen. Brinkmann wendet sich mit Abscheu gegen die ehemaligen Freunde, gegen die Gegenkultur. Und zieht natürlich gleichfalls Hass auf sich. Der Autor Hermann Peter Piwitt verspottet ihn als "D'Annunzio aus Vechta/Oldenburg", ihm werden unbändiger Narzissmus und ein faschistisches Menschenbild vorgeworfen. Er blockt ab. Betrachtet seine Umwelt mit Argwohn und Verachtung.

"Köln ist die schmierigste Stadt, die ich kenne. Die schmierigste, versauteste, dreckigste, blödeste, verschissenste, verpinkelste, stinkendste Stadt. [........] Ich geh am Friesenplatz entlang, muffig, grau, öde, verwaltet. Sie machen alles plan, sie rotten überall alles aus. Die Mehrzahl rottet alles aus. Überall diese Popmuffsänger. Die sollte man bald auch mal so von der Bühne treten. Dem Mick Jagger einen Tritt in den Arsch, während er singt dort vorne. O ich friere, mir ist kalt. Ach, ich träume von ganz anderen Landschaften, während ich hier durchgehe."

Von einem "Wörtersüden" träumt Brinkmann, von Gedichten, die so einfach sind wie Songs, die eine Tür aufmachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus. Die Gedichte, die er Anfang der 70er Jahre verfasst, sind allerdings alles andere als voraussetzungslose Rocksongs, wie der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher ausführt: "Vielleicht ist die größte ästhetische Herausforderung bei Brinkmann die, nicht allzu ernst zu nehmen, dass er ständig betont, dass es nicht um ästhetische Qualitäten geht. Das heißt, die ganze Emphase für Einfachheit, für Banalität, für Verabschiedung aller Kritierien und Verfahren und Motive, die man aus der klassischen Moderne kennt, all das zwar wahrzunehmen, aber sich anzusehen, dass er eigentlich in seinen Gedichten, vielleicht sogar vor allem in den Gedichten, jemand ist, der offensichtlich durchaus sich selbst in eine Tradition stellt, die nicht nur auf amerikanische Beatliteratur, Kerouac usw. zurückgreift, sondern auch relativ nahtlos anschließbar ist an Surrealismus auf der einen Seite, aber auch zum Beispiel Autoren wie Gottfried Benn, der für ihn ja sehr viel wichtiger ist als so wahrgenommen wird. Wenn es wirklich um so etwas geht wie ästhetische Qualitäten, würde ich fast sagen, ist Brinkmann weitaus traditioneller als es die Selbstwahrnehmung, aber auch die Brinkmann-Geschichtsschreibung haben möchte."

Es entstehen lange, flächenhafte Texte, eindrucksvolle Gedichtlandschaften, die unter negativen Vorzeichen fortsetzen, was Brinkmann in den 60er Jahren begonnen hat. "Rolltreppen im August" ist eines davon, veröffentlicht posthum in dem Band "Westwärts 1 & 2".

"Die Panik der vielen einzelnen Personen, die nicht richtig
gefickt haben, nie geliebt worden sind, nicht irgendetwas
liebten, umarmt haben, immer haben sie die Mantelkragen

hochgeschlagen, ihre Kleider zugehalten, die Knie
aneinander gedrückt, in einem Gespräch. Die Panik
der Abteilungsleiter, die zwischen den Ständen gehen,

die Krawatten festgezogen, der Anzug nicht verbeult,
die schwarzen Sonderangebotsschuhe glänzen, die Socken
sind verschwitzt, Mundspray in den Pausen gegen den

schlechten Atem, Gestalten in gläsernen Kabinen, die
von den Ferien in Österreich mit Vollpension träumen,
über Wiesen gehen, stehenbleiben, nicht sehen, was sie sehen."

"Offensichtlich brauchte er immer wieder einen Absprung, der ohne doppelten Boden stattgefunden hat", sagt Rygulla. "Denn nach 70/71 hat er ja auch viele extreme Experimente mit sich selbst durchgeführt hat, Schlafentzug und Essensentzug etwa, um zu sehen, welche Erfahrungen er machen kann. Er hat jede Beziehung abgebrochen oder so hinterfragt, dass man sich zum Selbstschutz abwenden musste. Und viele haben vor ihm Angst gehabt, weil er praktisch jede Konvention in Frage stellte, zum Beispiel Small Talk nicht akzeptiert und Höflichkeitsfloskeln verurteilt hat. Auch das war. ein Experiment mit sich selbst - und zwangsläufig mit seiner Umwelt."

"Jetzt bin ich aus den Träumen raus, die über eine / Kreuzung wehn. [...] was krieg ich jetzt, / einen Tag älter, tiefer und tot? / Wer hat gesagt, dass so was Leben / ist? Ich gehe in ein / anderes Blau."

Diese Zeilen stehen ebenfalls in "Westwärts 1 & 2". Das "andere Blau", die Farbe mit dem höchsten Wallungswert, wie Gottfried Benn einmal gesagt hat, ist nicht mehr das Comic-Blau eines Roy Lichtenstein. Es spielt schon ins Schwarz, ins Düstere. Die Veröffentlichung dieser Gedichte, die einen Neuanfang markieren sollen, erlebt Brinkmann nicht mehr. Am 23. April 1975, gerade 35 Jahre alt, wird er beim Überqueren einer Straße in London von einem Auto überfahren und ist sofort tot.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wurde zuerst am 13. April 2004 im "Deutschlandfunk" gesendet. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.