Geheimnisse um eine literarische Sensation des Jahres 1797

Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen und ihr vergessener Liebesroman "Agnes von Lilien"

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Zeitalter der Aufklärung liebte man das Geheimnis. Als 1796/97 in Friedrich Schillers exklusiver Monatszeitschrift "Die Horen" anonym die ersten Fortsetzungsfolgen des Romans "Agnes von Lilien" erschienen, war die literarische Öffentlichkeit erstaunt und begeistert. Doch sie stand vor einem Rätsel. Wer hatte den Roman geschrieben?

Wie jede Art von Geheimnis in einer Zeit, in der Geheimbünde Konjunktur hatten, übte das Rätsel unbekannter Verfasserschaft einen beliebten Reiz aus. Die Anonymität hatte viele Gründe. Sie war damals, zumal unter Autorinnen adliger Herkunft, üblich, auch in den "Horen". Und nicht zuletzt hatte sie einen spielerischen Aspekt. Es gehörte zu den geselligen Gesprächsvergnügungen in den gebildeten Kreisen Weimars, die Lösung solcher Rätsel gemeinsam zu erraten.

Bis auf Frau von Stein, die Frau von Kalb für die Verfasserin hielt, waren sich alle einig: Der Roman musste von einem Mann geschrieben worden sein. Viele glaubten an Goethe. Schiller berichtete diesem darüber am 6. Dezember 1796, und beide zeigten sich höchst amüsiert: "Mit der Agnes von Lilien werden wir, scheint es, viel Glück machen; denn alle Stimmen, die ich hier darüber hören konnte, haben sich dafür erklärt. Sollten Sie es aber denken, daß unsre großen hiesigen Kritiker, die Schlegels, nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß das Product von Ihnen sei? Ja die Madame Schlegel meinte, daß Sie noch keinen so reinen und vollkommenen weiblichen Charakter erschaffen hätten, und sie gesteht, daß ihr Begriff von Ihnen sich durch dieses Product noch mehr erweitert habe." Er habe sich "bis jetzt nicht entschließen können, diese selige Illusion zu zerstören." Goethe antwortete umgehend: "Lassen Sie mir so lange als möglich die Ehre als Verfasser der Agnes zu gelten."

In Goethe den Autor zu vermuten war nicht ganz abwegig, die Anklänge an "Wilhelm Meisters Lehrjahre" ließen sich nicht übersehen. Da taucht eine an Mignon erinnernde und in ihrer vergeblichen Liebe zu dem Romanhelden ungemein rührende Kindfrau auf, da geht es um Bildung und um Entsagung. Einige jedoch gratulierten einem anderen zu seiner meisterlichen Leistung: Schiller. Manche wiederum hielten einen der beiden Brüder Jacobi für den Verfasser.

Die Geheimnisse der Autorschaft waren bald aufgeklärt, die Rätsel der an Verwirrungen reichen Handlung jedoch nicht. Was in den "Horen" zu lesen war, blieb ein Fragment. Wer ist dieses Waisenkind Agnes, dessen Geschichte hier erzählt wird? Wer ist ihr Vater, wer ihre Mutter? Unter welchen Umständen ist das Mädchen der Obhut eines Landgeistlichen anvertraut worden, den sie wie einen Vater liebt? Wer ist der Fremde, der eines Nachts an die Tür klopft und in den sich die Achtzehnjährige sofort verliebt? Er scheint ihre Liebe zu erwidern, doch ist er verheiratet mit jener Frau, deren Name auf seinem Ring steht? Warum nimmt er so intensiven Anteil an der Geschichte, die ihm der Geistliche über den Gutsherrn erzählt? Warum hatte dieser sein Land vor vielen Jahren fluchtartig verlassen und ist seither spurlos verschwunden?

Das ist erst der Anfang einer ständig wachsenden Fülle von Fragen. Der Leser weiß nie mehr als Agnes selbst. Denn der Roman ist in Ich-Form geschrieben, in der Fiktion einer Autobiografie, und das nicht mit dem überlegenen Wissen einer erwachsenen, ihr Leben rückblickend aufzeichnenden Frau, sondern aus der Perspektive des Kindes und der Jugendlichen. Auf Antworten mussten die Leser also warten, bis der ganze Roman im Dezember 1897 als Buch erschien.

Der erste Teil hatte so viele Rätsel aufgegeben und Verwirrungen gestiftet, dass die Autorin im zweiten Teil kaum weniger Raum dazu brauchte, um sie alle zu lösen und zu entwirren. Dies geschieht nach und nach. Nichts scheint die Autorin mehr gefürchtet zu haben, als ihre Leserinnen und Leser zu langweilen. Und neben den vielen, immer neuen und zuweilen geradezu an den Haaren herbeigezogenen Hindernissen, die der endgültigen Vereinigung der Liebenden bis zum Schluss entgegenstehen, sind es die Missverständnisse und Geheimnisse, die für Spannung sorgen. So bediente und bedient der Roman zwei gegensätzliche Bedürfnisse zugleich: das nach Verzauberung in einer durch Rationalität entzauberten Welt und das nach Aufklärung, die sich erst in der Lösung von Geheimnissen bewähren kann.

Caroline von Wolzogen, geborene von Lengefeld, die Schwester von Schillers Frau Charlotte, wurde durch ihren Roman innerhalb kurzer Zeit berühmt. Noch 1798 sorgte ein Raubdruck für die weitere Verbreitung, 1800 ein zweiter. 1802 wurde eine französische Übersetzung in Paris verlegt.

Als die Autorin 1830 ihr zweites bedeutendes und erfolgreiches Buch "Schillers Leben" vorlegte, galt sie zwar immer noch als die "Verfasserin der Agnes von Lilien", doch wurde der Roman kaum noch gelesen. Erst in den 1880er Jahren erschienen zwei neue Ausgaben, danach - bis heute - keine mehr, sieht man von dem eher für wissenschaftliche Bibliotheken als für Leser verlegten Faksimilenachdruck der Erstausgabe (1988 bei Georg Olms) ab. In den zahllosen Büchern zum Schiller-Jahr 2005 ist das Interesse an Caroline von Wolzogen als eine der beiden Schwestern, die Schiller gleichzeitig liebte, zwar durchaus groß. Und "Agnes von Lilien" wird dabei immer genannt. Aber nichts deutet darauf hin, dass der Roman gelesen wurde.

Die teilweise auch negativen Urteile Goethes, Schlegels oder Jean Pauls, aus denen heute lieber zitiert wird als aus dem Roman selbst, mögen dazu beigetragen haben, zumal sie etliche Schwächen des Textes durchaus treffend benennen. Am 3. Februar 1798 schrieb Goethe nach der Lektüre des zweiten Teils an Schiller: "Es ist recht schade, daß diese Arbeit übereilt worden ist. Die summarische Manier, in der die Geschichte vorgetragen ist und die gleichsam in einem springenden Takt rhythmisch eintretenden Reflexionen lassen einen nicht einen Augenblick zur Behaglichkeit kommen und man wird hastig ohne Interesse." Ähnliche Schwächen hatte Friedrich Schlegel bemerkt, als er die "gewaltsamen Übergänge" monierte, die das Erzählen unterbrechenden Reflexionen, manche Unwahrscheinlichkeiten im Verhalten der Personen und im Gang der Handlung, einzelne "Unschicklichkeiten und Nachlässigkeiten in der Anlage und im Ausdrucke" und das allzu pathetische Bemühen um die Emotionalisierung des Lesers. Außerdem störte ihn die "Nachbildung eines bekannten Vorbildes" in der "Kopie bestimmter Gestalten". Gemeint waren wohl die Nähe zu Samuel Richardsons empfindsamer "Geschichte des Sir Charles Grandison". Im Mittelpunkt steht hier das Idealbild eines Mannes, dem das Bild des von Agnes geliebten Nordheim in der Tat sehr ähnlich ist. Richardsons "Grandison" war, was Schlegel nicht wissen konnte, eine der einprägsamsten Lektüreerfahrungen in Carolines Jugend gewesen.

Trotz aller kritischen Vorbehalte zeigten Schlegel wie Goethe dem Roman gegenüber viel Respekt. Goethe bekundete sein Erstaunen über das wirkungsmächtige Talent der Autorin. Er schrieb die Vorzüge des Romans allerdings auch den lektorierenden Eingriffen Schillers zu. Diese scheinen sich jedoch weitgehend auf etliche Streichungen beschränkt zu haben. Sein Anteil an der Romanveröffentlichung bestand vornehmlich darin, seine Schwägerin, die viel schrieb und vieles unfertig liegen ließ, zur raschen Publikation gedrängt zu haben. Auf Goethes Bemerkung antwortete er am 6. Februar 1798: "Sie scheinen mir auf das Produkt meiner Schwägerin einen größern Einfluß einzuräumen, als ich mir gerechterweise anmaßen kann. Plan und Ausführung sind völlig frey und ohne mein Zuthun entstanden. [...] Bei dem zweiten Theil war an nichts zu denken als an das Fertigwerden, und bei diesem habe ich nicht einmal mehr auf die Sprache Einfluß gehabt. Wie also der 2te Teil geschrieben ist, so kann meine Schwägerin völlig ohne fremde Beihilfe schreiben. Es ist wirklich nicht wenig, bei so wenig solider und zweckmäßiger Cultur, und bloß vermittelst eines fast leidenden Auf sich wirken lassens und einer mehr hinträumenden als hellbesonnenen Existenz doch so weit zu gelangen als sie wirklich gelangt ist."

Die Auskünfte und Einschätzungen Schillers sind in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Dass der Roman unter einem extremen Termindiktat des "Fertigwerdens" entstand und dann in einem noch 'unfertigen' Zustand veröffentlicht wurde, ist ihm noch heute anzumerken. Vieles von dem, was Schlegel und Goethe als Mangel an künstlerischer Bearbeitung kritisierten, ist darauf zurückzuführen. Goethe plädierte für eine Überarbeitung, als er (am 7. Februar) Schiller antwortete: "Das was Sie mir von Ihrem wenigern Einfluß auf Agnes von Lilien schreiben vermehrt meinen Wunsch daß die Verfasserin, im Stillen, die Arbeit, besonders des zweiten Theils, nochmals vornehmen, ihn an Geschichtsdetail reicher machen und in Reflexionen mäßiger halten möge."

Schiller indes hatte die Schwächen des Romans auch der psychischen Konstitution seiner Schwägerin zugeschrieben, ihrer mehr träumerischen als besonnenen Existenz. Abgesehen von den zeittypischen Einschätzungen männlicher und weiblicher Charaktereigenschaften sind in diese Bemerkungen einige grundlegende Annahmen über den Prozess künstlerischer Produktivität eingegangen. Caroline von Wolzogen erscheint hier wie eine Kontrastfigur zu Schillers Freund Körner. Als dieser sich einmal über seine "Furcht vor der Stümperei" und über mangelnde "Fruchtbarkeit" seines Tuns beklagt hatte, schrieb Schiller ihm am 1. Dezember 1788 einen Brief, in dem die noch heute viel zitierten Sätze stehen: "Der Grund Deiner Klagen liegt, wie mir scheint, in dem Zwang, den Dein Verstand Deiner Imagination auferlegte. [...] Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachtheilig zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Thoren schon zu scharf mustert." Bei "einem schöpferischen Kopfe" habe der "Verstand seine Wache vor den Thoren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle-mêle herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den großen Haufen."

Das Bild, das sich Schiller von seiner Schwägerin macht, steht zu dem an Körner diagnostizierten Fall von Kreativitätshemmung in denkbar größtem Gegensatz. Nicht die allzu strenge Musterung der zuströmenden Ideen durch den Verstand war nach Schillers Einschätzung ihr Problem, sondern der Mangel an nachträglicher Bearbeitung ihrer Fantasieprodukte. Das Ergebnis konnte vor den Normen einer klassischen Ästhetik, der die Distanz und Kontrolle gegenüber den spontanen Energien der Fantasietätigkeit letztlich doch heilig war, nicht bestehen. Einige unwillentliche Verstöße des Romans gegen diese Normen geben dem Roman heute jedoch ein zuweilen erstaunlich modernes Gepräge. Da finden sich in der Konzentration auf die Perspektive einer Romanfigur Ansätze zur erlebten Rede und zum inneren Monolog. Den Wechsel von erzählenden und reflektierenden Passagen, die Unstimmig- und Unwahrscheinlichkeiten oder die oft unvermittelte Sprunghaftigkeit der Handlungsführung kann man heute beim Lesen positiver wahrnehmen als vor zwei Jahrhunderten. Die Mischung zwischen trivialliterarischen Elementen massenhaft verbreiteter Unterhaltungsliteratur, deren empfindsame Tränenseeligkeit und schwärmerische Idealisierung für sich genommen verkitscht wirken, und ungemein anspruchsvollen Passagen, die sich, wie eine Rezension Wilhelm von Humboldts begeistert feststellt, auf der Höhe des philosophischen und psychologischen Reflexionsniveaus der Weimarer Elitekultur bewegen, wird jemanden, der in den letzten Jahrzehnten durch die Schule des Lesens postmoderner Erzählprogramme gegangen ist, ebenso wenig stören wie die von Schlegel monierte Kopie bekannter Texte.

Der Roman enthält viele verschiedene Angebote an seine damaligen Leser und an jene, die ihn heute neu zu entdecken bereit sind. Wer ihn zur spannenden und anrührenden Unterhaltung lesen möchte, kommt ebenso auf seine Kosten wie jene, die ihn als vergessenes Dokument der Gefühls- und Reflexionskultur im ausgehenden 18. Jahrhundert entziffern wollen. Die großen Worte, mit denen sich die kulturelle Elite Deutschlands identifizierte, über die und mit denen sie dachte und die sie literarisch veranschaulichte, sie sind in dem Roman reichlich präsent: Schönheit, Anmut und Würde, Vernunft, Wahrheit und Güte, Bildung und Freiheit, Liebe und Entsagung, Entzweiung und Einheit. Liebes- und Freiheitspathos sind in solchen Zusammenhängen zwei Seiten des gleichen Anliegens. "Ja, so sind diese alten eingerosteten Staatsmaschienen. Jedes individuelle Interesse suchen sie ins Collective zu spielen, zu vernichten. Das ganze lebendige Herz wird so zum leeren Schall, zum todten Zeichen, - ein altes Familien-Dokument." So spricht einer der Männer, die Agnes lieben. Und der andere: "Die Stimme der Freiheit, die uns nicht mehr ins Feld zum ofnen Kampf gegen die Unterdrückung lockt, ist darum nicht verstummt." Mit der Revolution in Frankreich, die in Terror umschlug, mochte man sich in Weimar nicht mehr identifizieren, den Motiven der Revolution fühlte man sich weiter verbunden.

Seine größten Qualitäten entfaltet der Roman wohl für diejenigen, die ihn mit psychologischen Interessen lesen. Er ist durch die hohe Schule pietistischer Selbsterforschung und jener "Erfahrungsseelenkunde" des 18. Jahrhunderts gegangen, von der die wissenschaftliche Psychologie und die Psychoanalyse der folgenden Jahrhunderte ihren Ausgang nahmen. Schon Schlegel waren die "analysierenden Betrachtungen" der Agnes "über ihre Krankheit, über das erste Empfinden ihrer vollen Weiblichkeit" besonders aufgefallen. Die enthusiastische Rezension Humboldts spricht sich für eine literarische Kunst aus, die dazu verhelfe, "dem philosophischen Forscher das menschliche Gemüth, das er studirt, in seinen verborgensten Tiefen zu erkennen, und das erkannte zu bilden." Nach langen und allgemeinen Ausführungen dazu kommt Humboldt zur Sache und zu seinem entschiedenen Urteil: "Wem solche Schilderungen der innern Gestalt der Seele, solche feine Zergliederungen ihrer geheimsten Seiten werth sind, wer vorzugsweise die Werke aufsucht, die sie ihm darbieten, dem wird Agnes von Li1ien eine wohlthätige Erscheinung seyn."

Eine interessante Erscheinung könnte "Agnes von Lilien" heute auch für psychologische Beobachtungen zur literarischen Fantasiebildung sein, und zwar gerade weil die Autorin ihre Fantasien keiner starken künstlerischen Kontrolle unterworfen hat. Vieles von dem, was in dem Roman erzählt wird, entspricht eher der Logik von Träumen als den Prinzipien der Stimmigkeit und Plausibilität. Wenn der Roman zum Beispiel den großen Geliebten Nordheim ganz unerwartet und gegen alle Wahrscheinlichkeit immer gerade dann in der Nähe von Agnes auftauchen lässt, wenn dies für sie besonders peinlich und verfänglich oder aber in höchster Not sehnlichst erwünscht ist, dann kann man sich darüber belustigen - oder sich zeigen lassen, wie Fantasien, auch die eigenen, funktionieren. Als Konglomerat kollektiver wie individueller Wünsche und Ängste lädt der Roman zur Identifikation ein und zu analytischen Entdeckungen.

Freud hat die literarisch oft aufgegriffene Fantasie von Kindern beschrieben, die sich in ihrem "Familienroman" den wahren Vater als sozial hochgestellte Person erfinden. In "Agnes von Lilien" ist das nur wenig anders: Ein Kind weiß nicht, wer seine Eltern sind, und erfährt eines Tages, dass die Mutter eine Prinzessin ist. Was sind das für Situationen und Konstellationen, die da literarisch ausgemalt werden und den Lesern unter die Haut gehen: Eine Mutter rettet ein Kind und weiß nicht, dass es ihr eigenes ist. - Ein Mann erfährt, dass die Frau, die ihn liebt, an der Trennung von ihm zugrunde geht. Er lässt alles, was er hat, hinter sich, um ihr zu helfen. - Eine Frau liebt nicht mehr ihren Ehemann, sondern einen anderen. Der Ehemann geht auf Reisen, plötzlich tritt der ebenfalls lange abwesende Geliebte in ihr Zimmer und bringt ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes. - Vermeintlich Tote, die doch noch leben, sind in dem Roman keine Seltenheit.

Was solche Fantasien der Autorin an Lektüre- und Lebenserfahrungen verarbeiten, lässt sich allenfalls in Ansätzen rekonstruieren. Spekulationen über autobiografische Bezüge gibt der Roman jedoch reichlich Nahrung. Dass literarische Fantasien Wünsche erfüllen, die in der Realität versagt bleiben, dafür liefert der Roman schönes Anschauungsmaterial. Oder was hat es zu besagen, wenn die Familie, in der Caroline von Lengefeld aufwächst, nach dem Tod des Vaters von Armut bedroht ist und die Heldin des Romans von ihrer Prinzessinenmutter ein Vermögen erhält. Oder wenn Caroline im Alter von dreizehn Jahren ihren geliebten Vater verliert und die Heldin ihres Romans gleich von drei Vätern innig geliebt wird: dem leiblichen, dem Pflegevater und dem väterlichen Geliebten, der über zwanzig Jahre älter ist als sie. Wer es nicht sein lassen kann, den Roman nach alter psychoanalytischer Manier nach ödipalen Konstellationen abzusuchen, wird leicht fündig: Der ältere Geliebte von Agnes ist einer Frau verbunden, die sich des Waisenkindes wie eine Mutter annimmt. Da werden Rivalitäten sichtbar, doch am Ende entsagt die ältere Frau zugunsten der jüngeren.

Offensichtlicher sind jedoch andere autobiografische Bezüge: Der Konflikt, um den sich in dem Roman alles dreht, ist der zwischen dem individuellen Wunsch nach einer Liebesehe und den sozialen Zwängen zu einer Vernunft- und Konvenienzehe. Caroline von Wolzogen hatte ihn am eigenen Leib durchgemacht. Nach dem frühen Tod des Vaters und unter dem Diktat ökonomischer Not wurde die Verbindung Carolines mit dem elf Jahre älteren Legationsrat Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz in die Wege geleitet, der nach der Verlobung für den Unterhalt der Familie Lengefeld sorgte. Die 1785 geschlossene Ehe hielt nur fünf Jahre lang. 1790 trennte sich das Paar, im August 1794 wurde es offiziell geschieden, im September heiratete Caroline Schillers Jugendfreund Wilhelm von Wolzogen. In die Zeit der Ehe mit Beulwitz fiel auch Schillers "Simultanliebe", wie Jean Paul sie nannte, zu den beiden Schwestern, über die heute erneut viel gerätselt wird. Schiller war Carolines große Liebe, auf die sie zugunsten ihrer Schwester verzichten musste. Auch davon handelt "Agnes von Lilien". Ein Schlüsselroman ist der Text allerdings nicht. Die Logik der traumhaften Fantasie, die dem Roman zugrunde liegt und in der sich Personen aus der realen Welt in verschiedene Figuren der erzählten Geschichte aufspalten, gibt seine Geheimnisse nie ganz preis.

Der Essay ist eine etwas veränderte und stark gekürzte Fassung des Nachwortes zur eben erschienenen Neuausgabe des Romans "Agnes von Lilien".

Literaturhinweise: Die Schriftstellerin Renate Feyl hat in ihrem 1999 erschienenen Roman "Das sanfte Joch der Vortrefflichkeit" die Lebensgeschichte Caroline von Wolzogens in Ich-Form erzählt. Fakten und Fiktionen gehen da eine fließende Verbindung ein. Nicht ganz so kühn in der Fantasie, doch ebenfalls mit literarisch-fiktionalen Mitteln der Vergegenwärtigung des Vergangenen erzählt der Schriftsteller und Publizist Jörg Aufenanger die Geschichte der beiden Lengefeld-Schwestern.

Die besten Schiller-Biografien der letzten Jahre, die von Peter André Alt und Rüdiger Safranski, gehen auf die Beziehung zwischen Schiller und Caroline von Wolzogen in gebührendem Umfang ein: Alt auf gut zehn Seiten informativ, sachlich und relativ umfassend in einem eigenen Kapitel über die "Begegnung mit den Lengefeld-Schwestern", Safranski knapper und mit essayistischer Pointiertheit.

Am gründlichsten und oft mit kriminalistischer Akribie recherchiert, haben sich mit "Schillers Doppelliebe" (so der Titel) Kirsten Jüngling und Brigitte Rossbeck befasst. Der erste Satz gibt die Stillage des Buches vor: "Zwei Schwestern umwarben einen Mann. Die eine wurde seine Ehefrau, die andere blieb seine Geliebte." Das schönste Zitat zur Beschreibung der zeitweiligen "Ménage à trois" liefert dem Buch ein Brief Wilhelm von Humboldts an seine spätere Frau: "Hast Du ihn nie Caroline küssen sehen und dann Lotten?" Am spektakulärsten ist das Kapitel "Fast eine Kriminalgeschichte". Es deckt die mysteriösen Umstände und Vertuschungen der Geburt von Carolines erstem Kind auf und wartet mit einigen Indizien dafür auf, dass auch Schiller der Vater gewesen sein könnte.

Weniger spektakulär als literaturgeschichtlich versiert geht Ursula Naumann das Thema an. Frappierend deutlich wird hier, wie die reale Dreiecksgeschichte literarischen Mustern entspricht. Und während die sich so frauenfreundlich gebenden Bücher über die Lengefeld-Schwestern insofern eine frauenverachtende Tendenz haben, als sie das literarische Werk Caroline von Wolzogens meist so gut wie ganz ignorieren, hat Ursula Naumann dieses genau gelesen. Ihr Buch enthält viele erhellende Beobachtungen zu Carolines Texten: "'Agnes von Lilien' handelt von einem Dreiecksverhältnis, oder genauer, von Dreiecksverhältnissen, wie alle Geschichten Carolines, die obsessionell um dieses Thema kreisen. In ihren beiden Romanen findet sich ein ganzes Netz von familiären, freundschaftlichen, erotischen Beziehungsdreiecken, die Geometrie von Dreiecksfiguren prägt ihre Texte bis hin ins nebensächliche Detail".

Über die kulturelle Bedeutung von Geheimnissen und Geheimbünden in der Weimarer Klassik informiert facettenreich der von Walter Müller-Seidel und Wolfgang Riedel herausgegebene Aufsatzband "Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde". Er führt einschlägige Forschungen von Hans-Jürgen Schings fort. Zwei Aufsätze (von Wolfgang Riedel und Dieter Borchmeyer) handeln von Schiller. Vor allem der Beitrag von Hartmut Reinhardt über Goethes Fragment "Die Geheimnisse" reflektiert die ästhetischen Reize und die humane Bedeutung des Geheimnisvollen im Zusammenspiel von Rätsel, Neugier, Spannung und Fantasie.

Titelbild

Renate Feyl: Das sanfte Joch der Vortrefflichkeit. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999.
319 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3462028367

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Walter Müller-Seidel / Wolfgang Riedel (Hg.): Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2003.
203 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3826025288

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Rüdiger Safranski: Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
576 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3446205489

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Peter-André Alt: Schiller. Leben - Werk - Zeit. Erster und zweiter Band.
Verlag C.H.Beck, München 2004.
1423 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 340646226X

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Ursula Naumann: Schiller, Lotte und Line. Eine klassische Dreiecksgeschichte.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
200 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-10: 3458347798

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Caroline von Wolzogen: Agnes von Lilien. Mit Rezensionen von Friedrich Schlegel und Wilhelm von Humboldt sowie einem Nachwort herausgegeben von Thomas Anz.
Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2005.
290 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3936134103

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Jörg Aufenanger: Schiller und die zwei Schwestern.
dtv Verlag, München 2005.
195 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3423244461

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Kirsten Jüngling / Brigitte Roßbeck: Schillers Doppelliebe. Die Lengefeld-Schwestern Caroline und Charlotte.
Propyläen Verlag, Berlin 2005.
352 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3549072074

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