Über die Iphigenie auf Tauris

Goethes Schriften. Dritter Band. 1787

Von Friedrich SchillerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedrich Schiller

Dieser dritte Band der Goethischen Werke enthält ausser dem schon bekannten Trauerspiel Clavigo zwey neue Dramen: Iphigenie auf Tauris, ein Schauspiel in fünf Akten und ein kleineres Stück: die Geschwister. Wir schränken uns hier allein auf das Zweyte ein, einer ganz neuen und merkwürdigen Erscheinung in der dramatischen Litteratur der Deutschen, die in allem Betracht die genaueste Erörterung verdienet.
Als der berühmte Verfasser mit seinem Götz von Berlichingen zum erstenmal in der litterarischen Welt auftrat, widerfuhr ihm von dem großen Haufen seiner Kritiker was jedem Schriftsteller, der sich auf eine ausserordentliche Art ankündigt, von dem Haufen gewöhnlich widerfährt. Aus seinem ersten Produkte wies man ihm sein Fach an; man zog daraus den Schluß auf alle folgende, man setzte seinem Genie Regel und Gränze. Seine damals noch muthwilligere Phantasie hatte die Schranken der Regel zu eng gefunden und übertreten; daraus wurde gefolgert, daß dieser Schriftsteller sich Shakespear zum Muster gewählt, und aller Kritik den tödlichsten Haß geschworen habe; und alle die engen Köpfe, die sich nicht anders, als nach der Regel interessiren und vergnügen lassen, triumphirten im Stillen, daß sie dadurch überhoben würden, gerecht gegen sein Genie zu seyn. An dieser Klasse von Lesern hätte der Verfasser schwerlich eine ehrenvollere und schönere Rache nehmen können, als durch gegenwärtiges Stück, das zum lebendigsten Beweise dienet, wie groß sein schöpferischer Geist auch im größten Zwange der Regel bleibt, ja wie er diesen Zwang selbst zu einer neuen Quelle des Schönen zu verarbeiten verstehet. Hier sieht man ihn eben so, und noch weit glücklicher mit den griechischen Tragikern ringen, als er in seinem Götz von Berlichingen mit dem brittischen Dichter gerungen hat. In griechischer Form, deren er sich ganz zu bemächtigen gewußt hat, die er bis zur höchsten Verwechslung erreicht hat, entwickelt er hier die ganze schöpferische Kraft seines Geistes, und läßt seine Muster in ihrer eignen Manier hinter sich zurücke.
Man kann dieses Stück nicht lesen, ohne sich von einem gewissen Geiste des Alterthums angeweht zu fühlen, der für eine bloße, auch die gelungenste Nachahmung viel zu wahr, viel zu lebendig ist. Man findet hier die imponirende große Ruhe, die jede Antike so unerreichbar macht, die Würde, den schönen Ernst, auch in den höchsten Ausbrüchen der Leidenschaft - dieß allein rückt dieses Produkt aus der gegenwärtigen Epoche hinaus, daß der Dichter gar nicht nöthig gehabt hätte, die Illusion noch auf eine andere Art - die fast an Kunstgriffe gränzt - zu suchen, nehmlich durch den Geist der Sentenzen, durch eine Ueberladung des Dialogs mit Epitheten, durch eine oft mit Fleiß schwerfällig gestellte Wortfolge und dergleichen mehr - die freilich auch an Alterthum, und oft allzustark an seine Muster erinnern, deren Er aber um so eher hätte entübrigt seyn können, da sie wirklich nichts zur Vortrefflichkeit des Stücks beytragen, und ihm ohne Nothwendigkeit den Verdacht zuziehen, als wenn er sich mit den Griechen in ihrer ganzen Manier hätte messen wollen.
Vielleicht dürfte es dem größern Theile des Publikums, der mit den Griechischen Tragikern wenig Bekanntschaft hat, nicht unangenehm seyn, wenn wir die deutsche Iphigenie neben die griechische des Euripides stellen, und diesen Weg einschlagen, ihm eine richtige Idee von der erstern zu geben.
Iphigenie eröfnet das griechische Trauerspiel mit einem Selbstgespräch vor dem Tempel Dianens, worinn sie uns mit ihrer Geschichte bis auf den gegenwärtigen Augenblick, ihren Auffenthalt im Tempel der taurischen Göttinn, kürzlich bekannt macht. Man erfährt von ihr die Gewohnheit dieses barbarischen Volks, alle Fremdlinge, die an dieser Küste landen, der Diana zu opfern, und daß sie selbst als Priesterinn dieses Amt zu übernehmen habe. Sie schließt mit Erzählung eines schreckhaften Traumes, der ihr den Tod ihres Bruders Orest zu verkündigen scheint, im Grunde aber die nachfolgende Entwicklung ihres Schicksals von ferne andeutet. Voll Glauben an diesen Traum geht sie, dem Verstorbenen mit ihren Jungfrauen die letzte Ehre zu erweisen.
Jetzt erscheint Orest mit seinem Freund Pylades auf der Scene. Ein Orakel des delphischen Apolls hat dem flüchtigen, von Furien verfolgten Orest im Tempel der taurischen Diana Rettung und Genesung versprochen, wenn er der Göttinn Bild dort entwenden und nach Griechenland bringen würde. Unerkannt langen beyde Freunde im Vorhof dieses Tempels an, den sie mit Schauern betrachten, und noch die Spuren von Menschenblut darinn zu erblicken glauben. Orest entsetzt sich und will fliehen. (Man erfährt nicht, woher er diesen Gebrauch der Menschenopfer erfahren, da er diesen Augenblick erst landet, noch mit niemand gesprochen, auch vorher nichts darum gewußt haben kann, wie sein jetziges Schrecken und seine vorhabende Flucht beweisen.) Pylades stellt ihm das Schändliche dieser Flucht vor Augen und dringt in ihn, das Orakel zu erfüllen. Sie kommen überein die Nacht zu erwarten, um mit deren Begünstigung das Bild zu entwenden. Jetzt gehen sie, eine Grotte am Meer aufzusuchen, worinn sie sich verbergen können.
Nun erscheint Iphigenie wieder in Gesellschaft des Chors, der aus gefangenen Griechinnen besteht. Sie bringt mit ihnen ihrem Bruder das Todtenopfer. Sie weint über die Unfälle ihres Hauses, die sie noch einmal wiederholt, und betrauert ihr eigenes Schicksal an diesem unwirthbaren Ufer fremd und freudelos zu wohnen XXX, ohne Gemahl, ohne Kinder, ohne Vaterland, ohne Freunde.
Ein Schäfer kommt und bringt Nachricht von Gefangennehmung zweyer Fremden, die man am Ufer entdeckt, und, als sie sich zur Wehr gesetzt, durch die Menge überwältigt habe. Er beschreibt einen fürchterlichen Furienanfall, den der eine von ihnen gehabt habe. Iphigenie will wissen, wer diese Fremden seyen? Er weiß nichts zu sagen, als daß sie Griechen seyn müssen, daß einer den andern Pylades gerufen, den Namen des andern aber habe er nicht gehört. (Wozu dieser kleinliche Kunstgriff? Soll er das Interesse vermehren? Soll er Iphigenien in der Folge eine Frage ersparen? so ist er gewiß nicht zum glücklichsten gewählt, weil er den Zufall in den Plan mischt, den der tragische Dichter sorgfältig vermeiden muß. Hätte der Schäfer den Namen Orest noch aussprechen hören, so wars um den ganzen folgenden Gang der Tragödie geschehen. Leser und Zuschauer fühlen dieß, und empfinden es widrig, daß es nur an einem dünnen Haare gehangen hat, ob der Rest des Stücks so oder anders würde.) Der Schäfer erzählt, daß der König die Fremden bereits zum Opfer bestimmt habe, und wünscht der Priesterinn Glück und noch recht viel solche Opfer, damit sie an Griechenland für die in Aulis erlittne Grausamkeit gerochen werde! Sie schickt ihn hinweg mit dem Befehl, ihr die Gefangenen herzuführen.
Iphigenie wirft sich ihre Unempfindlichkeit vor, und giebt ihrem finstern Traume davon die Schuld. Unglückliche, sagt sie, wollen den Glücklichen nicht wohl, weil es ihnen selbst übel gehet. Sie wünscht Helena und Menelaus an diese taurische Küste: "Wie wollte ich sie ein Aulis hier finden lassen!" Sie erinnert sich der Grausamkeit ihres Vaters, der sie Dianen geschlachtet, und nun vielleicht auch den Orest durch ein ähnliches Schicksal hingerafft habe. Sie kann nicht glauben, daß Menschenopfer einem göttlichen Wesen gefallen. "Die barbarischen Bewohner dieser Küste sind es, die die Schuld ihres eigenen Blutdurstes auf die Götter wälzen."
Der Chor unterredet sich von der Ankunft der Fremden, von dem Weg, den sie wohl genommen haben möchten, und von den Gefahren dieser Reise. Er moralisirt über die Habsucht, welche die Menschen dahinbringe, Meere und barbarische Städte zu durchirren, und beschließt mit dem Wunsche, daß doch einmal ein griechisches Schiff sich hier zeigen möchte, seine Gefangenschaft zu endigen, und ihn nach dem lieben Griechenland heimzubringen.
Dritter Aufzug. Die gefangenen Griechen werden vor die Priesterinn geführt. Sie läßt ihnen die Hände losbinden. "Sie sind heilig," sagt sie, "sie müssen frey seyn." Jetzt, nachdem sie die Wächter entfernt hat, beginnt eine Unterredung mit den Griechen, die wir darum ganz hieher setzen wollen, um dem Leser das Vergnügen zu verschaffen, sie mit einer ähnlichen des deutschen Dichters, die alsdann folgen wird, zu vergleichen.
"Arme Fremdlinge," redet Iphigenie sie an, "welche Mutter, welcher Vater gab euch das Leben? Welche Schwester, habt ihr eine Schwester, wird sich dieses brüderlichen Paares beraubet sehen? - Ach! Wer kennt den Ausgang der Dinge? Dunkel sind die Wege der Götter, und niemand ahndet das nahe Verderben! Unsern Augen verhüllt es das Schicksal - Aber sagt an - Von wannen kommt ihr, bedaurenswürdige Fremdlinge? Was für eine weite Reise habt ihr in diese Gegend gemacht, und wie lange werdet ihr von euerm Vaterlande ausbleiben? - Ihr werdet auf immerdar ausbleiben.
Orest. Wer du auch seyn magst, unbekannte Frau - was weinest du und trauerst über Leiden, die uns bedrohen? Die Furcht des Todes mit eiteln Thränen bekämpfen wollen, ist nicht weise. Wer ein Verhängniß, das er nicht abwenden kann, beweinet, macht aus einem Uebel zwey, und wird darum nicht weniger sterben. Laß immer dem Schicksale seinen Lauf, und höre auf, uns zu betrauern. Was für Opfer man in diesem Lande bringt, wissen wir und haben wir erfahren.
Iphigenie. Wer von euch beyden nennt sich Pylades? Dieß laßt mich zuerst wissen.
Orest. Dieser hier - Was kann es dir aber für Freude machen, dieses zu wissen?
Iphigenie. Aus welcher Gegend Griechenlands gebürtig?
Orest. Wenn du dies auch erfährest - Was frommt dir das Jungfrau?
Iphigenie. Brüder von Einer Mutter?
Orest. Freundschaft, nicht Geburt, macht uns zu Brüdern.
Iphigenie. (zu Orest) Aber du - welchen Nahmen gab dir dein Vater?
Orest. Ich bin unglücklich. Das ist mein Nahme.
Iphigenie. Das ists nicht, was ich frage. Halte dich an dein Schicksal.
Orest. Laß mich unerkannt sterben, so wird niemand meines Unglücks spotten.
Iphigenie. Hast du solche Gesinnungen? Denkst du so edel?
Orest. Du opferst meinen Leib, nicht meinen Nahmen.
Iphigenie. Darf ich nicht wenigstens die Stadt wissen, die dir das Leben gab?
Orest. Jetzt empfang' ich den Tod - was kann mir jenes mehr nützen?
Iphigenie. Willst du mir diesen Dienst nicht erzeigen?
Orest. Das glorreiche Argos ist mein Geburtsland.
Iphigenie. Fremdling! Um der Götterwillen! Ist das wahr? Daher wärst du gebürtig?
Orest. Ja, aus Mycene, die einst so beglückt war.
Iphigenie. Verliessest du dein Vaterland als ein Flüchtling, oder was für ein Schicksal entriß dich demselben?
Orest. Wider Willen mußt' ich es fliehen, und doch war es mein eigener Vorsatz.
Iphigenie. Wirst du mir gerne beantworten, was ich dich fragen möchte?
Orest. Wenn du dich hüten willst, nach meinem Unglück zu fragen.
Iphigenie. Fremdling du weißt nicht, wie willkommen du mir bist aus Mycene!
Orest. Desto besser für dich! Von mir kann ich dasselbe nicht sagen.
Iphigenie. Du hast doch von Troja gehört, die in Jedermanns Munde ist.
Orest. Daß ich nie davon gehört hätte! daß ich sie auch im Traum nie gesehen hätte!
Iphigenie. Sie stehe nicht mehr, sagt man. Sie sey mit Sturm erobert.
Orest. Man hat dir die Wahrheit gesagt.
Iphigenie. Helena ist also mit Menelaus zurück gekehrt?
Orest. Sie ist zurückgekehrt - und einem der Meinigen zum Verderben.
Iphigenie. Wo ist sie jezt? Auch mir war sie einst zum Verderben.
Orest. Zu Sparta wohnt sie bey ihrem ersten Gemahle.
Iphigenie. Allen Griechen ein Abscheu wie mir!
Orest. Auch ich weiß davon zu erzählen.
Iphigenie. Und sind die Griechen zurückgekehrt, wie die Sage verbreitet?
Orest. Wie viel fragst du mit dieser einzigen Frage?
Iphigenie. Ehe du stirbst, gönne mir diese Erzählung.
Orest. Frage, was dir gefällt. Ich will dir antworten.
Iphigenie. Kehrte Kalchas der Priester von Troja zurücke?
Orest. Das Gerüchte sagte ihn todt in Mycene.
Iphigenie. Heilige Vergelterinn! - Und der Sohn des Laertes?
Orest. Sah seine Heimat noch nicht wieder - Doch am Leben soll er noch seyn.
Iphigenie. Verderben über ihn! Mög er sie nie wieder sehen!
Orest. Wünsch ihm nichts Böses! Er hat der Leiden genug.
Iphigenie. Aber jener Sohn der Thetis - lebt Achilles noch?
Orest. Er ist nicht mehr - und seine Hochzeit in Aulis war nichts!
Iphigenie. Betrug war sie! Laß die davon sprechen, die es zu ihrem Verderben erfuhren.
Orest. Aber sage mir, wer bist du, die nach den Schicksalen Griechenlands so genau und so wohl unterrichtet sich erkundigt?
Iphigenie. Ich bin selbst eine Griechinn - aus Griechenland gerissen in der Blüthe meiner Jugend.
Orest. Nun freilich ist deine Neugierde löblich.
Iphigenie. Was ward aber aus dem Feldherrn der Griechen, dem Glücklichgepriesenen?
Orest. Von welchem Feldherrn redest du? Denn wahrlich der, den ich kenne, kann nimmermehr damit gemeynt seyn.
Iphigenie. Agamemnon nannten sie ihn, den Sohn des Atreus.
Orest. Von diesem weiß ich nichts. Enthalte dich solcher Fragen.
Iphigenie. Um der Götter willen, Fremdling! Antworte mir! Richte meine Seele auf.
Orest. Der Unglückliche ist todt, und noch ein andrer folgt ihm ins Verderben.
Iphigenie. Todt! O ich Aermste! - Todt! - Und wie fiel er?
Orest. Was seufzest du über ihn? Er gehörte Dir ja nicht an.
Iiphigenie. - - - Sein voriges Glück erpreßte mir diese Thräne.
Orest. Ja. Schrecklich war sein Schicksal. Sein Weib brachte ihn ums Leben.
Iphigenie. O! dann ist sie beweinenswürdig wie er!
Orest. Jetzt aber höre auf und forsche nicht weiter.
Iphigenie. Noch diese einzige Frage - Lebt sie noch die Gattinn des Unglückseligen?
Orest. Sie ist nicht mehr. Ihr Sohn, sein Sohn hat sie getödet.
Iphigenie. O des jammervollen Hauses! Getödet? Wissentlich getödet?
Orest. Als der Rächer seines Vaters.
Iphigenie. Entsetzlich! - Gerecht und entsetzlich!
Orest. So gerecht es war - Die Götter verfolgen ihn.
Iphigenie. Hinterließ Agamemnon sonst noch Kinder?
Orest. Eine einzige Tochter, Elektra.
Iphigenie. Wie? Und von jener, die in Aulis geopfert ward, hört man nichts mehr?
Orest. Nichts, als daß sie todt sey, und das Licht der Sonne nicht mehr genieße.
Iphigenie. Sie ist zu beweinen, wie ihr Vater, der sie tödtete.
Orest. Und um einer Nichtswürdigen willen tödtete!
Iphigenie. Aber der Sohn des Ermordeten - lebt der noch in Argos?
Orest. Der Unglückliche lebt. Nirgends und überall.
Iphigenie. Er lebt! Hinweg mit euch betrügerische nichtige Träume! u. s. f.
Nun verfällt Iphigenie auf den Gedanken, einen dieser Griechen dem Opfertode zu entziehen, und durch ihn einen Brief nach Argos zu schicken. Ihre Wahl fällt auf Oresten; sein Freund soll sterben für beyde, weil der Staat es einmal so gebiete. Dagegen aber setzt sich Orest, er allein will sterben, sein Freund soll den Brief bestellen, und sein Leben davon bringen. Diese Großmuth rührt die Priesterinn. "Möchte der einzige übriggebliebene Zweig meines Hauses dir gleichen! - Denn wisse, auch mir lebt ein Bruder, nur sein Anblick ist mir versagt. Weil du es denn so willst, so mag der gehen und den Brief bestellen; du aber bleibst und stirbst, denn dich verlangt ja zu sterben."(Man begreift nicht warum sie nicht beyde rettet. Ist es ihr bey einem möglich, warum nicht auch bey dem andern? Ist es Gewissenhaftigkeit gegen das Gesetz? Sie verabscheut es und überdieß will sie es ja zum Vortheil des Pylades - oder vielmehr zu ihrem eigenen - übertreten.) Orest erkundigt sich nun, wer das abscheuliche Opfer an ihm vollziehen werde.
Iphigenie. Ich selbst, als Priesterinn der Diana.
Orest. Ein unwürdiges, ein trauriges Amt für eine Jungfrau wie du bist.
Iphigenie. Die Nothwendigkeit legt es mir auf. Der Nothwendigkeit muß man gehorchen.
Orest. Du, ein junges Weib, willst Männer mit dem Eisen erwürgen?
Iphigenie. Nicht erwürgen. Mein Amt ist, das heilige Wasser
über dein Haupthaar zu gießen.
Orest. Wer aber wird der Opferer seyn, wenn mir erlaubt ist, es zu wissen?
Iphigenie. Drinnen im Tempel sind welche, die dieses Amt übernehmen werden.
Orest. Und welche Grabstätte wird meinen Leichnam empfangen?
Iphigenie. Das heilige Feuer im Tempel und die dunkle Steinkluft.
Orest. Ach! daß keine schwesterliche Hand es hier schmücken wird!
Iphigenie. Ein eitler Wunsch, armer Fremdling, wer du auch seyn magst - denn deine Schwester wohnt ferne von dieser barbarischen Küste. Doch, weil du aus Argos stammest, so will ich selbst, was an mir ist, diesen letzten Dienst dir erzeigen. Ich werde deine Grabstätte schmücken und süßen Honig auf den Holzstoß gießen. An mir sollst du keine Feindinn finden" u. s. f. Und nunmehr geht sie in den Tempel, den Brief zu holen; die Gefangenen übergiebt sie den Wächtern, mit dem Befehl, sie wohl zu hüten, aber nicht zu binden.
Der Chor, der ein wichtiges Interesse hat, Iphigenien nicht zu verrathen, weil sein eigenes Schicksal an ihres fest gebunden ist, beklagt Oresten, und wünscht dem Pylades Glück zu seiner Errettung. Er geht und läßt beyde Freunde allein. (Dieß Weggehen des Chors ist gegen das Herkommen auf der griechischen Bühne, aber Euripides mußte ihn wegschaffen, um ihn bey der folgenden Scene nicht zum Zeugen zu haben, wodurch die Erkennungscene zu Grunde gegangen seyn würde.)
"Wer ist diese Jungfrau?" fragt Orest seinen Freund ganz verwundert."Wie ganz Griechinn sie war! wie wohl berichtet und wie genau sie sich nach dem Trojanerkriege erkundigte, nach der Heimkehr der Griechen, nach Kalchas dem Priester und nach dem Achilles? Wie sie den unglückseligen Agamemnon beklagte, ja seine Gemahlinn, seine Kinder selbst nicht vergaß! Gewiß! diese Fremde ist aus Argos gebürtig, wie hätte sie sonst Briefe dahin zu schicken, und mit so nahem Antheil nach den Begebenheiten in Mycene zu fragen!
Pylades. Du nimmst diesen Gedanken aus meiner Seele - Doch wem, der nur einige Neugierde nach diesen Dingen hat, sollte das Schicksal so großer Könige unbekannt bleiben? - Aber Orestes - die Priesterinn sagte noch etwas anders -
Orest. Was ist das? Theile mirs mit, so können wirs vielleicht zusammen herausbringen.
Pylades. Wenn du stirbst Orest, kann ich das Licht nicht mehr schauen. Zusammen schifften wir und zusammen müssen wir auch sterben. Wie schändlich, wenn ich ohne dich nach Argos, nach Phozis zurückkäme! Du kennst die bösen Zungen der Menschen. Würde es nicht heissen, ich hätte dich als ein Verräther verlassen? oder dich gar ermordet, um mich als deiner Schwester Gemahl in den Besitz deines Erbes und deiner Herrschaft zu setzen? Nein! davor graut mir. Dieser Argwohn brächte mir Schande! Miteinander müssen wir erblassen, miteinander erwürgt werden! Meine Asche muß sich mit der deinigen vermischen, denn ich bin dein Freund, und ich fürchte mich vor dem Tadel." (Diese Stelle ist ein merkwürdiges Beyspiel von den Gesinnungen auf der griechischen Bühne. Wie sehr vermeidet der Dichter, seinen Pylades eine reine idealische Großmuth zeigen zu lassen, wie wenig erlaubt er ihm, sich über die Menschheit zu erheben! Auch gibt Pylades (wie sehr es auch der P. Brumey zu verstecken sucht) den Gründen seines Freundes nach, und verspricht ihm, am Leben zu bleiben, ihm in Argos ein Grabmal zu errichten, und der Freund des Todten zu seyn, wie des Lebenden.)
Vierter Aufzug. Iphigenie kommt mit dem Briefe aus dem Heiligthum zurück, und läßt sich von Pylades erst einen Eid schwören, daß er ihn ja übergeben wolle. "Denn", sagt sie, "der Unglückliche ist sich nicht mehr ähnlich, wenn er von der Furcht zur Sicherheit übergeht; darum besorg ich, wenn er nur erst wieder den Fuß aus diesem Lande hat, wird er sich wenig um meine Briefe bekümmern." Aber auch von ihr fodert Orest einen Eid, daß sie seinen Freund ja lebendig von dannen bringen wolle. "Sehr billig," sagt sie. "Denn wie könnte er sonst meinen Botschafter machen?" Nun fällt aber dem Pylades ein, daß ihn ein Sturm überfallen, und der Brief zu Grunde gehen könnte. In diesem Falle bedingt er sich aus, seines Eides quitt und ledig zu seyn. "Weißt du, was ich thun will?" sagt Iphigenie. "Niemand kann für Zufälle stehen. Ich will dir mündlich sagen, was in dem Briefe enthalten ist, so kannst du alles selbst an die Freunde bestellen, und wir sind denn sicher. Rettest du den Brief, so wird er schweigend seinen Inhalt melden. Geht er im Meer verloren und du kommst mit dem bloßen Leben davon, so wirst du meine Worte bewahren." Nun weiß man nicht, ob sie den Brief abließt, oder seinen Inhalt bloß auswendig meldet. Dem Texte nach scheint das erste zu seyn; das zweyte aber ist wahrscheinlicher, weil nicht zu vermuthen ist, daß sie den Brief wieder erbrochen haben werde. "Die lebendige Iphigenie," lautet der Brief, "die man in Argos nicht mehr lebendig glaubt, sendet dem Orest diesen Brief" - "Wo ist diese Iphigenie? Ist die Todte wieder erstanden?" unterbricht sie der erstaunte Orest - "Die du vor Augen siehst, ists," gibt sie zur Antwort, "aber störe mich jezt nicht in meiner Rede. - Führe mich hinein nach Argos," fährt sie fort, "eh ich sterbe - Führe mich aus diesem barbarischen Lande, aus dem Tempel der Göttinn, der ich Menschenopfer bringen muß. Sonst werd ich dich und dein ganzes Haus mit meinen Verwünschungen verfolgen. - Orestes - ich wiederhole dir den Namen," sagt sie zu Pylades, "damit du ihn besser behaltest." Der Schluß des Briefs ist die Geschichte ihrer wundervollen Errettung in Aulis.
Pylades überreicht den Brief sogleich dem Orest. "Ich brauche wenig Zeit," sagt er, "um mich meines Eides zu entledigen. Hier Orest übergeb ich dir den Brief deiner Schwester." Dieser fällt Iphigenien um den Hals "O meine Schwester, meine theuerste Schwester, die jezt so bestürzt dasteht? Meine Arme umschlingen dich und doch kann ich es noch nicht glauben." Der Chor mischt sich nun ein, und bedeutet Oresten, daß er die Hand nicht legen soll an den Schleyer der Priesterinn. Noch steht Iphigenie sprachlos und entzieht sich seiner Umarmung. "Du mein Bruder?" ruft sie endlich aus. "Wirst du nicht aufhören, solche Reden zu führen? Mein Bruder ist zu Nauplia in Argos.
Orest. Unglückliche! Nein! Da ist er nicht.
Iphigenie. Du der Sohn Clytemnestrens?
Orest. Ja und Pelops Enkel.
Iphigenie. Was sagst du? Kannst du mir das beweisen?
Orest. Das kann ich. Höre mich an. Ich will dir vom väterlichen Hause erzählen.
Iphigenie. Das mußt du, und ich muß hören.
Orest. Zuerst also höre. Die Zwietracht ist dir bekannt zwischen Thyest und Atreus?
Iphigenie. Wegen des goldenen Vliesses? Ja. Davon hört' ich erzählen.
Orest. Und diese Geschichte sticktest du in ein kostbares Gewebe? Erinnerst du dich dessen?
Iphigenie. Liebster! - Ja - ich fange an, dir zu glauben.
Orest. In diesem Gewebe zeigtest du noch die untergehende Sonne.
Iphigenie. Ja. Die webt' ich darein mit zarten Fäden.
Orest. Und die Mutter besprengte dich in Aulis mit heiligem Wasser.
Iphigenie. Ach! Ich weiß es. Das war jene traurige Hochzeit.
Orest. Wozu schicktest du der Mutter die abgeschnittene Locke?
Iphigenie. Daß man sie mit mir begrübe!
Orest. Nun will ich dir auch Zeichen nennen, die ich selbst gesehen habe. Du kennst die alte Lanze des Pelops, womit er den Oenomaus tödtete und sich Hippodamien von Pisa erwarb. Ich sah sie in deinem Gemache.
Iphigenie. Genug. O mein Geliebtester - Mein Theuerster - Mein Orest! Du bists. Ich habe dich, den Fernen! den mein Vaterland, mein Argos gebar, den Geliebtesten!
Orest. Und ich die Todtgeglaubte! Und Thränen, Thränen süßer Wehmuth fließen aus deinen Augen, wie aus den meinigen.
Iphigenie. Sieh doch! Das lag noch als Kind in den Armen der Wärterinn, als ich mein Haus verließ! - O Wonne die keine Worte aussprechen! Was sag ich? Es geht über alle Wunder, über alles, was sich denken läßt.
Orest. Wir sind wieder vereinigt. Vereinigt wollen wir glücklich seyn.
Iphigenie (zum Chor) Eine unverhoffte Wonne ist mir geworden, meine Gespielinnen! Aber mir ist bange, daß sie mir nicht unter den Händen in die Lüfte entschlüpfe" u. s. f.
Nun fährt sie fort sich nach der Geschichte ihres Hauses zu erkundigen, nach der Ermordung und nach dem Verbrechen ihrer Mutter.
"Laß uns davon schweigen," antwortet ihr Orest. "Dir steht es nicht an, solches zu hören." Er erzählt seinen verlassenen fürchterlichen Zustand nach vollbrachtem Mord, und das Gericht das unter dem Vorsitz ApolIs und Minervens zu Athen von den Furien über ihn gehalten worden. Apoll ist sein Vertheidiger und Minerva sammelt die Stimmen, die durch ihre Vermittlung zu seinem Vortheile ausfallen. Er wird losgesprochen, aber die andern Furien, mit diesem Spruch nicht zufrieden, werfen sich auf ihn und jagen ihn flüchtig von einem Orte zum andern. In dieser Angst eilt er nach Delphi und fordert Hülfe von Apollo, der ihm auflegt, nach Tauris zu gehen und das vom Himmel gefallene goldne Bild dort zu entwenden, wozu ihm Iphigenie jezt verhelfen soll. Aber hier liegt die Schwürigkeit. Wie kann diese Flucht und dieser Diebstahl dem Beherrscher von Tauris verborgen bleiben? Wird Iphigenie es nicht mit ihrem Leben bezahlen müssen? Sie ist großmüthig genug, das letzte in Gefahr zu setzen, wenn Orest nur gerettet wird; dieser aber will lieber in Tauris sterben als seine Schwester verlassen. Er bringt in Vorschlag, den Thoas zu ermorden, was sie aber aus Furcht und Achtung für die gastfreundlichen Gesetze verwirft. Er will sich irgendwo verbergen und die Nacht abwarten, "denn die Nacht", sagt er, "ist für Räuber, das Licht für die Wahrheit." Auch dieß findet Schwürigkeiten. - Nun fällt ihr ein, daß sich die Raserey des Orest selbst zu ihrer gemeinschaftlichen Rettung vielleicht benutzen ließe.
"Das Weib", ruft Orest aus, "ist doch gar sinnreich und erfahren in allerley Listen.
Iphigenie. Ich will deine Mordthat bekannt machen.
Orest. Benutze meine Verbrechen wozu du sie gut findest.
Iphigenie. Solche Opfer, werde ich sagen, verschmähe die Göttinn.
Orest Und wozu soll dir dieser Vorwand dienen? Ich ahnde etwas.
Iphigenie. Du seyst unrein, du bedürfest der Reinigung, werde ich sagen.
Orest. Wie kann uns dieß dazu helfen, das Bild der Göttinn zu entwenden?
Iphigenie. Ich werde dich im Meerwasser baden.
Orest. Aber das Bild, warum es uns zu thun ist, bleibt drinnen im Tempel!
Iphigenie. Du habest es berührt, werde ich vorgeben. Auch das Bild müsse gereinigt werden.
Orest. Und wo soll dieß geschehen? In welcher Meeres Gegend?
Iphigenie. Eben dort, wo dein Schiff vor Anker liegt.
Orest. Wird man dieses Amt aber keinem dritten übergeben?
Iphigenie. Ich allein übernehm es. Ich allein habe das Recht, das Bild der Göttinn zu berühren.
Orest. Was geben wir aber diesem (auf Pylades zeigend) dabey zu thun?
Iphigenie. Er sey mit demselben Verbrechen befleckt, werde ich vorgeben.
Orest. Kannst du alles dieses heimlich vollbringen, oder muß der König davon wissen?
Iphigenie. Ich muß ihn durch Ueberredung dazu zu bringen suchen. Ihn kann ich nicht täuschen.
Orest. Und dann retten wir uns durch geschwindes Rudern?
Iphigenie. Das ist alsdann deine Sache" u. s. f.
Nun beschwört sie noch den Chor, sie nicht zu verrathen. Wenn sie erst in Griechenland sey, wolle sie auch für ihre hier zurückgelassenen Gespielinnen sorgen. Der Chor sagt es ihr zu und beschließt diesen Akt mit einer wehmüthigschönen Erinnerung an sein Vaterland und seine verlorene Freyheit. Er preißt Iphigenien selig, die nun mit schwellenden Segeln davon eilen, und ihre Gespielinnen an diesem barbarischen Ufer weinend zurücklassen werde!

Fünfter Aufzug. Thoas kommt in den Tempel, gerade in dem Augenblick da Iphigenie, der Göttinn Bild in den Armen tragend, herauskommt. Hier kommt es nun zu einer Unterredung, worinn Iphigenie allen Doppelsinn und alle Künste aufbietet, um den Thoas zu betrügen, der sich denn auch wirklich in frommer Einfalt und vollem Glauben an ihre Redlichkeit dadurch hintergehen läßt. Sie befiehlt ihm, unterdessen die Gefangenen im Meere gebadet würden, sich im Tempel aufzuhalten, um ihn zu reinigen; auch nicht unruhig zu werden, wenn sie etwas lange ausbleiben sollte. Wenn man die Griechen herausführe, solle er sein Gesicht mit dem Mantel verhüllen, um sich durch den Anblick dieser Verbrecher nicht zu besudeln. Seinem Volke muß er gleichfalls Befehl geben, sich weit von dieser unreinen Gegend zu entfernen, und um ihn recht sicher zu machen, bittet sie ihn selbst darum, die Gefangenen binden zu lassen, damit ihnen die Lust nicht ankäme, sich in Freyheit zu setzen, "denn", sagt sie, "bey den Griechen ist weder Treu noch Glaube zu finden." Während daß die Griechen ihren Anschlag am Ufer ausführen, bleibt der Chor auf der Bühne und richtet eine Hymne an Apoll und Minerven. Bald darauf erscheint ein eilender Bote, der den Thoas herausruft, und ihm die Flucht der Griechen verkündigt. Der erzürnte König will schon sein ganzes Volk aufbieten, den Fliehenden nachzusetzen, die er vom Fels herabstürzen oder pfählen lassen will, sobald sie wieder in seiner Gewalt sind, als - Minerva dazwischen tritt und ihm Einhalt thut; "Orest", sagt sie, "ist nicht ohne Zuthun der Götter an dieß Ufer gekommen." Sie wendet sich darauf an Orest selbst, "denn", sagt sie, "so weit er auch entfernt ist, die Stimme einer Göttinn hört er doch." - (Man muß gestehen, daß dieß Mittel, die Einheit des Orts zu retten, und etwas sagen zu lassen, was mit keiner physischen Möglichkeit gesagt werden kann, possierlich genug ist. Es ist etwas bequemes um die Götter, und die alten Tragiker hatten hierinn große Vortheile vor den Neuem voraus. - Wie kann man darum von den leztern verlangen, sich eben dem strengen Gesetz der Orteinheit zu unterwerfen, da sie dieses Gesetz nicht so geschickt wie ihre Vorgänger umgehen können.) Sie giebt ihm und Iphigenien Befehle, wie sie sich den Göttern bey ihrer Nachhausekunft dankbar erzeigen sollen und legt ihnen noch einige Einrichtungen auf, die den Stolz der Athenienser schmeicheln konnten, denen hier überhaupt etwas angenehmes gesagt werden sollte. Thoas fügt sich dem Willen der Göttinn - "denn welcher Sterbliche", sagt er, "wird gegen die Götter ankämpfen?"
Das deutsche Schauspiel wird, wie das griechische, mit einem Selbstgespräch Iphigeniens eröfnet, das im Ganzen denselben Inhalt hat - stillen Widerwillen gegen ihr priesterliches Amt und Sehnsucht nach ihrem Vaterlande.

"So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen
ein hoher Wille dem ich mich ergebe,
doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
Denn ach mich trennt das Meer von den Geliebten
und an dem Ufer steh ich lange Tage
das Land der Griechen mit der Seele suchend" u. s. f.

Arkas ein redlicher Diener des Thoas tritt auf, ihr die siegreiche Heimkehr des Königs von einem Feldzuge zu verkündigen; zugleich kommt er auf einen alten Wunsch seines Herrn zu reden, sie als Gattinn zu besitzen, dem sie immer ausgewichen ist und abermals ausweicht. Der König erscheint gleich darauf selbst und erneuert seinen Antrag. Er hat einen einzigen Sohn verloren; die Oede seiner Wohnung und ein kinderloses Alter wecken den alten Wunsch lebhafter in ihm auf. Die Priesterinn hüllt sich, wie bisher, in ein geheimnißvolles Wesen, worüber ihr Thoas sanfte Vorwürfe macht. Sie entschuldigt diese Zurückhaltung mit der Furcht, durch Bekanntmachung ihres Geschlechts den bisher genossenen Schutz zu verlieren, und ein Gegenstand seines Abscheus zu werden. Er kann sich nicht überreden, daß er an ihr ein schuldvolles Haupt beschütze; seitdem sie in Tauris wohne und des Gastrechts da genieße, sey er sichtbar gesegnet worden. Er verspricht ihr, wenn sie Rückkehr hoffen könne, ihr kein Hinderniß in den Weg zu legen, sie in Frieden ziehen zu lassen.
Nun entdeckt sie ihm ihren Ursprung und giebt ihm die Geschichte ihrer Ahnherrn bis auf Thyest und Atreus, wo sie abbricht. Er ermahnt sie, fortzufahren.

"Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt,
der froh von ihren Thaten, ihrer Größe,
den Hörer unterhält, und still sich freuend
an's Ende dieser schönen Reyhe sich
geschlossen sieht! Denn es erzeugt nicht gleich
ein Haus den Halbgott, noch das Ungeheuer;
Erst eine Reyhe Böser oder Guter
bringt endlich das Entsetzen, bringt die Freude
Der Welt hervor - Nach ihres Vaters Tode
gebiethen Atreus und Thyest der Stadt
gemeinsam herrschend. Lange konnte nicht
die Eintracht dauern. Bald entehrt Thyest
des Bruders Bette. Rächend treibet Atreus
ihn aus dem Reiche."

(Diese vier Jamben klingen ganz unerträglich monotonisch, weil alle vier ihre Cadenz nach der fünften Silbe haben, und aus drey Perioden bestehen, die gleichviel Silben haben. Dazu kommt daß die vier Anfänge Lange, Bald, Rächend, Tückisch auch zu eintönig lauten. Schon das Auge stößt sich daran und noch weit mehr das Ohr.)

"Tückisch hatte schon
Thyest, auf schwere Thaten sinnend, lange
dem Bruder einen Sohn entwandt und heimlich
ihn als den seinen schmeichelnd auferzogen.
Dem füllet er die Brust mit Wuth und Rache
und sendet ihn zur Königsstadt, daß er
Im Oheim seinen eignen Vater morde.
Des Jünglings Vorsatz wird entdeckt; der König
straft grausam den gesandten Mörder, wähnend,
er tödte seines Bruders Sohn. Zu spät
erfährt er wer vor seinen trunknen Augen
gemartert stirbt; und die Begier der Rache
aus seiner Brust zu tilgen, sinnt er still
auf unerhörte That. Er scheint gelassen,
gleichgültig und versöhnt, und lockt den Bruder
mit seinen beyden Söhnen in das Reich
zurück, ergreift die Knaben, schlachtet sie
und setzt die ekle schaudervolle Speise
dem Vater bey dem ersten Mahle vor.
Und da Thyest an seinem Fleische sich
gesättigt, eine Wehmut ihn ergreift,
er nach den Kindern fragt, den Tritt, die Stimme
der Knaben an des Saales Thüre schon
zu hören glaubt, wirft Atreus grinsend
ihm Haupt und Füße der Erschlagnen hin.

Du wendest schaudernd dein Gesicht, o König:
so wendete die Sonn' ihr Antlitz weg,
und ihren Wagen aus dem ewgen Gleise.
Dieß sind die Ahnherrn deiner Priesterinn;
und viel unseliges Geschick der Männer,
viel Thaten des verworrnen Sinnes deckt
die Nacht mit schweren Fittigen und läßt
uns nur in grauenvolle Dämmrung sehn.

Thoas. Verbirg sie schweigend auch."

Wie sie geendigt hat, wiederholt der König seinen Antrag, aber eben so fruchtlos. Ihr hartnäckiges Weigern bringt ihn auf; um sich nicht gegen sie zu vergessen, bricht er lieber ab, erklärt aber, daß er von jetzt an die Menschenopfer wieder ihren Gang wolle gehen lassen, die er, durch ihre Reden bezaubert, bis jezt unterlassen habe. Eben seyen zwei Fremde eingebracht, mit denen die Göttinn ihr erstes, lang entbehrtes Opfer wieder empfangen solle. Ein schöner Monolog Iphigeniens schließt diesen Akt.

Orest und Pylades - sie sind die eingebrachten Fremden - eröfnen den zweyten Aufzug. Orest hofft nichts mehr und sieht dem Tod als seinem einzigen Retter mit Verlangen entgegen, nur das gleiche Loos seines Freundes macht ihm Kummer. Pylades kann noch nicht von bessern Aussichten scheiden, und glaubt auch jezt noch fest an die Aufrichtigkeit des delphischen Gottes. Er bemüht sich auch in der Seele seines Freundes Hofnung und Muth lebendig zu erhalten, und seinen Blick auf heitre Scenen zu ziehen. Sie verlieren sich in den Scenen ihrer Kindheit.
Pylades gründet seine Hofnung auf die Nachricht, daß ein fremdes göttergleiches Weib das blutige Gesetz gefesselt halte. "Ein Mann," sagt er, "auch der beste, gewöhnt seinen Geist an Grausamkeit, und wird hart aus Gewohnheit; allein ein Weib bleibt stät auf einem Sinne, den sie gefaßt - Du rechnest sicherer auf sie im guten als im bösen." Sie sehen sie eben kommen und Pylades entfernt Oresten, um sich vorläufig allein mit ihr zu unterreden.
Iphigenie nimmt ihm die Ketten ab, und befragt ihn um seine Person und Heimat. Pylades erkennt sie mit froher Bestürzung als eine Griechinn:

"O süsse Stimme! Vielwillkommner Ton
der Muttersprach in einem fremden Lande!
Des väterlichen Hafens blaue Berge
seh ich Gefangner neu willkommen wieder
vor meinen Augen. Laß dir diese Freude
versichern, daß auch ich ein Grieche bin!"

Er erzählt ihr eine erdichtete Geschichte, in die er das Wahre von den Schicksalen seines Freundes hüllt. Es geschieht darinn der Stadt Troja Erwähnung, und mit Ungeduld dringt Iphigenie in ihn, ihr die Geschichte vom Erfolg dieses Krieges zu geben.

"So groß dein Unglück ist, beschwör ich dich,
vergiß es, bis du mir genug gethan.

Pylades.
Die hohe Stadt, die zehen lange Jahre
dem ganzen Heer der Griechen widerstand,
liegt nun im Schutte, steigt nicht wieder auf.
Doch manche Gräber unsrer Besten heißen
uns an das Ufer der Barbaren denken.
Achill liegt dort mit seinem schönen Freunde.

Iphigenie.
So seyd ihr Götterbilder auch zu Staub!

Pylades.
Auch Palamedes, Ajax Telamons,
sie sahn des Vaterlandes Tag nicht wieder.

Iphigenie.
Er schweigt von meinem Vater, nennt ihn nicht
mit den Erschlagnen. Ja! er lebt mir noch!
Ich werd ihn sehn. O hoffe, liebes Herz!"

Sie erfährt hier zum Erstenmal Agamemnons Ermordung durch seine Gemahlinn und ihren Buhler, und, was ihr wie ein Pfeil durch die Seele fliegt, auch die entfernte Ursache davon.

Iphigenie.
"So trieb zur Schandthat eine böse Lust?

Pylades.
Und einer alten Rache tief Gefühl.

Iphigenie.
Und wie beleidigte der König sie?

Pylades.
Mit schwerer That, die, wenn Entschuldigung
des Mordes wäre, sie entschuldigte.
Nach Aulis lockt er sie, und brachte dort,
als eine Gottheit sich der Griechen Fahrt
mit ungestümen Winden widersetzte,
die ältste Tochter Iphigenien
vor den Altar Dianens und sie fiel
ein blutig Opfer für der Griechen Heil.
Dieß, sagt man, hat ihr einen Widerwillen
so tief ins Herz geprägt, daß sie dem Werben
Aegisthens sich ergab und den Gemahl
mit Netzen des Verderbens selbst umschlang.

Iphigenie. (schnell abgehend und sich verhüllend.)
Es ist genug. Du wirst mich wiedersehn."

Dritter Aufzug. Iphigenie und Orest, beyde einander noch unbekannt. Sie läßt sich die Erzählung seines Freundes von ihm bestätigen, und bittet ihn fortzufahren. Aber man muß dieses mit den eigenen Worten des Dichters hören; ihres Vaters Ermordung hat sie erfahren.

"Enthülle,
was von der Rede deines Bruders schnell
die Finsterniß des Schreckens mir verdeckte.
Wie ist des großen Stammes letzter Sohn,
- - wie ist Orest dem Tage
des Bluts entgangen? Hat ein gleich Geschick
mit des Avernus Netzen ihn umschlungen?
Ist er gerettet? Lebt er? Lebt Elektra?

Orest.
Sie leben.

Iphigenie.
Goldne Sonne, leihe mir
die schönsten Strahlen, lege sie zum Dank
vor Jovis Thron! denn ich bin arm und stumm."

Orest will ihre aufwallende Freude niederschlagen, weil noch schreckliche Nachrichten zurück seyen. Sie scheint für alles andre gleichgültig. Er erzählt ihr nunmehr Clytemnestrens Ermordung - wieder ein meisterhaftes Gemählde! Iphigenie fährt fort zu fragen, und will nun auch Orests Schicksal wissen. Er macht ihr eine fürchterliche Beschreibung von dem Zustand dieses Unglücklichen nach vollbrachtem Morde und von den Verfolgungen der Furien. Dieß erinnert sie an die erdichtete Erzählung, die ihr Pylades im vorigen Akte von dem Zustand seines Gefährten gemacht hat. "Unseliger," sagt sie zu ihm, "du bist in gleichem Falle. Dich drückt ein Brudermord wie jenen.

Orest.
Ich kann nicht leiden, daß du, große Seele,
mit einem falschen Wort betrogen werdest.
Ein lügenhaft Gewebe knüpf ein Fremder
dem Fremden, sinnreich und der List gewohnt,
zur Falle vor die Füße; zwischen uns
sey Wahrheit!
Ich bin Orest."

Er bittet sie, sich seines Freundes anzunehmen, mit diesem zu entfliehen, weil auch sie ungern hier zu verweilen scheine. Er wolle den Tod hier erwarten, sie beyde sollen gehen und im schönen Griechenlande ein neues Leben anfangen. Er geht ab in dieser Aufwallung von Verzweiflung.
Iphigenie gießt ihre Freude in einem Dank an die Götter aus. Eine äußerst glückliche Stelle:

"Wie man den König an dem Uebermaaß
der Gaben kennt: denn ihm muß wenig scheinen,
was Tausenden schon Reichthum ist: so kennt
man euch, ihr Götter, an gesparten, lang
und weise zubereiteten Geschenken.
Denn ihr allein wißt was uns frommen kann,
und schaut der Zukunft ausgedehntes Reich,
wenn jedes Abends Stern und Nebelhülle
die Aussicht uns verdeckt. Gelassen hört
ihr unser Flehn, das um Beschleunigung
euch kindisch bittet; aber eure Hand
bricht unreif nie die goldnen Himmelsfrüchte;
und wehe dem, der ungeduldig sie
ertrotzend, saure Speise sich zum Tod
genießt." u. s. f.

(Es geschieht nicht allein ihrer vorzüglichen Schönheit wegen, daß ich diese Stelle hier anführe; der Platz und die Situation wo sie angebracht ist, scheinen eine so wort- und allegorienreiche Freude nicht wohl zu gestatten. Iphigenie hat eben auf die überraschendste Weise ihren Bruder kennen lernen, - kann ihr Blut unmittelbar auf diese - ihr die allerwichtigste - Entdeckung ruhig genug seyn, um ihre Empfindung in so zusammenhängenden Bildern und so schön periodirten Reden auszumalen? Fast während der ganzen Rede, woraus wir nur den größern Theil hier angeführt haben, wird ihres eigenen Zustands so gut als gar nicht erwähnt, sie ist eine philosophische Betrachterinn der göttlichen Weißheit in Rücksicht auf die Erfüllung menschlicher Wünsche - sollte sie auch nicht einmal durch das, ihr sich aufdringende, vorwaltende Gefühl ihres eigenen Zustands in dieser ruhigen Betrachtung gestört werden?)
Orest kommt zurück. Die ihm abgedrungene Erzählung seines Schicksals hat alle Furien wieder bey ihm aufgeweckt, und macht ihn jetzt ganz und gar unfähig, sich einer freudigen Empfindung hinzugeben - und doch sieht man Iphigenien auf der andern Seite von ihrem seligen Geheimniß gleichsam belastet, von ihrer zurückgepreßten Freude gequält, dem Augenblicke mit Ungeduld entgegenharren, wo sie sich ihm als Schwester entdecken kann. Wie schön ist diese Situation herbey geführt, und wie tragischrührend behandelt! Aber man muß den Dichter selbst hören. Die Entdeckung ist geschehen, aber Orest will nicht hören.

Iphigenie.
"O daß ich nur
ein ruhig Wort von dir vernehmen könnte! -
Es wälzet sich ein Rad von Freud und Schmerz
durch meine Seele. Von dem fremden Manne
entfernet mich ein Schauer; doch es reißt
mein Innerstes gewaltig mich zum Bruder.

Orest.
Ist hier Lyäens Tempel? und ergreift
unbändig-heilge Wuth die Priesterinn?

Iphigenie.
O höre mich! O sieh mich an, wie mir
nach einer langen Zeit das Herz sich öffnet,
der Seligkeit, dem Liebsten, was die Welt
noch für mich tragen kann, das Haupt zu küssen,
mit meinen Armen, die den leeren Wänden,
nur ausgebreitet waren, dich zu fassen.
O laß mich! Laß mich! Denn es quillet heller
nicht vom Parnaß die ewge Quelle sprudelnd
von Fels zu Fels ins goldne Thal hinab,
wie Freude mir vom Herzen wallend fließt,
und wie ein selig Meer mich rings umfängt.
Orest! Orest! Mein Bruder!" u. s. f.

Aber die Verfinsterung des Letztern geht so weit, daß er die reinste Freude der Schwester verkennet und sie einer strafbaren Flamme zuschreibt, bis ihn endlich Iphigeniens Reden ganz überweisen. Anstatt aber sich nun der Freude zu öfnen, ergreift er diese glückliche Begebenheit selbst von ihrer schrecklichen Seite.

"So mag die Sonne denn
die letzten Gräuel unsers Hauses sehn!
Ist nicht Elektra hier? damit auch sie
mit uns zu Grunde gehe" u. s. f.
"Tritt auf, unwillger Geist!
Im Kreis geschlossen tretet an, ihr Furien,
und wohnet dem willkommnen Schauspiel bey,
dem lezten, gräßlichsten, das ihr bereitet!
Nicht Haß und Rache schärfen ihren Dolch;
die liebevolle Schwester wird zur That
gezwungen!"

Von diesem heftigen Ausbruch der Wuth erschöpft sinkt er in einen Zustand der Ermattung. Iphigenie, gepreßt zwischen Schmerz und Freude, eilt hinweg, um in dieser drangvollen Lage bey Pylades Trost zu suchen.
Ein Selbstgespräch folgt, das einzige in seiner Art auf der tragischen Bühne. Es ist der letzte Wahnsinn Orests, mit welchem auch seine Furien von ihm Abschied nehmen. Hätte die neuere Bühne auch nur dieses einzige Bruchstück aufzuweisen, so könnte sie damit über die alte triumphiren. Hier hat das Genie eines Dichters, der die Vergleichung mit keinem alten Tragiker fürchten darf, durch den Fortschritt der sittlichen Kultur und den mildern Geist unsrer Zeiten unterstützt, die feinste edelste Blüthe moralischer Verfeinerung mit der schönsten Blüthe der Dichtkunst zu vereinigen gewußt, und ein Gemählde entworfen, das mit dem entschiedensten Kunstsiege auch den weit schönern Sieg der Gesinnungen verbindet, und den Leser mit der höheren Art von Wollust durchströmt, an der der ganze Mensch Theil nimmt, deren sanfter wohlthätiger Nachklang ihn lange noch im Leben begleitet. Die wilden Dissonanzen der Leidenschaft, die uns bis jezt im Karakter und in der Situation des Orest zuweilen widrig ergriffen haben, lösen sich hier mit einer unaussprechlichen Anmuth und Delikatesse in die süßeste Harmonie auf, und der Leser glaubt mit Oresten aus der kühlenden Lethe zu trinken. Es ist ein Elysiumsstück im eigentlichen wie im uneigentlichen Verstande.

"Noch einen! Reiche mir aus Lethe's Fluthen
den letzten kühlen Becher der Erquickung!
Bald ist der Krampf des Lebens aus dem Busen
hinweggespült; bald fließet still mein Geist,
der Quelle des Vergessens hingegeben,
zu euch, ihr Schatten, in die ewgen Nebel.
Welch ein Gelispel hör ich in den Zweigen,
Welch ein Geräusch aus jener Dämmrung säuseln?
Sie kommen schon den neuen Gast zu sehn!
Wer ist die Schaar, die herrlich miteinander
wie ein versammelt Fürstenhaus sich freut?
Sie gehen friedlich, Alt und Junge, Männer
mit Weibern; göttergleich und ähnlich scheinen
die wandelnden Gestalten. Ja, sie sind's,
die Ahnherrn meines Hauses! - Mit Thyesten
geht Atreus in vertraulichen Gesprächen,
die Knaben schlüpfen scherzend um sie her.
Ist keine Feindschaft hier mehr unter euch?
Verlosch die Rache wie das Licht der Sonne?
So bin auch ich willkommen, und ich darf
in euern feierlichen Zug mich mischen.
Willkommen, Väter! euch grüßt Orest,
von euerm Stamm der letzte Mann;
was ihr gesät, hat er geärntet:
Mit Fluch beladen stieg er herab.
Doch leichter träget sich hier jede Bürde:
Nehmt ihn, o nehmt ihn in euern Kreis! -
Dich Atreus ehr' ich, auch dich Thyesten;
wir sind hier alle der Feindschaft los. -
Zeigt mir den Vater, den ich nur Einmal
im Leben sah! - Bist dus, mein Vater?
Und führst die Mutter vertraut mit dir?
Darf Klytemnestra die Hand dir reichen,
so darf Orest auch zu ihr treten,
und darf ihr sagen: sieh deinen Sohn! -
Seht euern Sohn! Heißt ihn willlkommen.
Auf Erden war in unserm Hause
der Gruß des Mordes gewisse Losung,
und das Geschlecht des alten Tantalus
hat seine Freuden jenseits der Nacht" u. s. f.

(Iphigenie und Pylades treten auf. Er gesellt dieses Bild noch zu seinem Traume.)

"Seid ihr auch schon herabgekommen?
Wohl, Schwester, dir! Noch fehlt Elektra.
Ein gütger Gott send' uns diese Eine
mit sanften Pfeilen auch schnell herab" u. s. f.

Was für ein glücklicher Gedanke, den einzig möglichen Platz, den Wahnsinn, zu benutzen, um die schönere Humanität unsrer neueren Sitten in eine griechische Welt einzuschieben, und so das Maximum der Kunst zu erreichen, ohne seinem Gegenstand die geringste Gewalt anzuthun! - Vor und nach dieser Scene sehen wir den edlen Griechen, nur in dieser einzigen Scene erlaubt sich der Dichter, und mit allem Rechte, eine höhere Menschheit uns gleichsam zu avanciren!
Sobald Orest zu sich selbst gebracht ist, umarmt er Iphigenien, und genießt jezt die erste reine natürliche Freude. Seine Raserey hat ihn verlassen. Die Schilderung die er uns davon macht ist des Vorhergehenden ganz würdig:

"Ihr Götter, die mit flammender Gewalt
ihr schwere Wolken aufzuzehren wandelt,
und gnädig-ernst den lang erflehten Regen
mit Donnerstimmen und mit Windes-Brausen
in wilden Strömen auf die Erde schüttet;
doch bald der Menschen grausendes Erwarten
in Segen auflöst und das bange Staunen
in Freudeblick und lauten Dank verwandelt,
wenn in den Tropfen frischerquickter Blätter
die neue Sonne tausendfach sich spiegelt" u. s. f.

"Es löset sich der Fluch, mir sagts das Herz.
Die Eumeniden ziehn, ich höre sie,
zum Tartarus und schlagen hinter sich
die ehrnen Tore fernabdonnernd zu."

Nun gehen sie ab, um die Anstalten zu ihrer Flucht zu machen.

Der vierte Aufzug wird durch Iphigenien eröfnet, die uns von dem Anschlag unterrichtet, welchen Pylades zu ihrer Flucht und Rettung ersonnen hat. Ihr hat man auch eine Rolle dabey aufgetragen, die ihr aber sehr schwer wird:

"Sie haben kluges Wort mir in den Mund
gegeben, mich gelehrt, was ich dem König
antworte, wenn er sendet und das Opfer
mir dringender gebietet. Ach! ich sehe wohl,
ich muß mich leiten lassen, wie ein Kind.
Ich habe nicht gelernt, zu hinterhalten,
noch jemand etwas abzulisten. Weh!
O weh der Lüge! Sie befreyet nicht,
wie jedes andre wahr gesprochne Wort,
die Brust; sie macht uns nicht getrost, sie ängstet
den, der sie heimlich schmiedet, und sie kehrt,
ein losgedrückter Pfeil, von einem Gotte
gewendet und versagend, sich zurück
und trifft den Schützen."

Indes kommt Arkas als des Königes Bote, sie sieht mit schlagendem Herzen den Mann, dem sie eine Unwahrheit sagen soll. Die Ausflucht selbst ist die nämliche, wie beym Euripides; das Bild der Göttinn nehmlich sey durch Orests Raserey verunreinigt und müsse im Meere gewaschen werden. Arkas aber erhält von ihr, daß er den König erst von diesem Hinderniß unterrichten dürfe. Er legt ihr das Anliegen seines Herrn noch einmal ans Herz; bey ihr stehe es, die Fremden vom Tode zu erretten. Aber sie bleibt standhaft, so sehr ihr Herz auch durch die Vorstellungen des redlichen Mannes erschüttert wird.
Wie er fort ist, regen sich neue Zweifel in ihrem Herzen, welche Pylades durch die Stärke seiner Beredsamkeit und seiner Gründe mit Mühe noch zerstreut. Sie ist in die schreckliche Alternative gesetzt, entweder ihren Bruder und Freund aufzuopfern, oder ihren Wohlthäter zu betrügen.

"O! (ruft sie endlich aus) trüg ich doch ein männlich Herz in mir,
das, wenn es einen kühnen Vorsatz hegt,
vor jeder andern Stimme sich verschließt!"

Nachdem Pylades fort ist, fällt ihr diese schmerzhafte Situation noch mehr auf die Seele, so daß sie der Bitterkeit nahe ist.
"O daß in meinem Busen nicht zuletzt
ein Widerwillen keime! der Titanen,
der alten Götter tiefer Haß auf euch,
Olympier, nicht auch die zarte Brust
mit Geyerklauen fasse! Rettet mich;
und rettet euer Bild in meiner Seele!"

Fünfter Aufzug. Thoas kommt mit Arkas zum Tempel, und weil ihm diese Ausflucht der Priesterinn mit einigen Gerüchten verbunden, verdächtig vorkommt, so schickt er diesen ab, das ganze Ufer scharf zu durchsuchen, ob man nicht das Schiff der beyden Fremden irgendwo versteckt fände.
Iphigenie tritt nun heraus und versucht noch alle Gründe der Menschlichkeit den König zu einem Widerruf seines grausamen Befehls zu bewegen, aber vergeblich. Von ferne läßt sie den Wink fallen, daß ein Misbrauch der Gewalt zur List einlade. Das lebhafte Weigern Iphigeniens macht Thoas, der überhaupt schon argwohnt, noch mehr aufmerksam, und da er sie merken läßt, daß er Mißtrauen in sie habe, so wird ihre Standhaftigkeit überwältigt, die sie dem Pylades versprochen hat. Nach einem sehr schönen Eingang - den man aber doch etwas zu weit ausgeholt und auch etwas zu weit gedehnt finden dürfte - entdeckt sie ihm treuherzig selbst, daß ein Betrug gegen ihn geschmiedet werde und was für einer, daß Einer dieser beyden Fremden Orest sey, daß beyde gekommen seyen, das Bild der Göttinn zu entwenden, und kurz das ganze des Anschlags und seine Gründe. "Und nun", schließt sie, "verdirb uns, wenn du darfst.

Thoas.
Du glaubst, es höre
der rohe Scythe, der Barbar, die Stimme
der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus,
der Grieche, nicht vernahm?"

Doch hat diese edelmüthige Handlung Iphigeniens das Herz des edeln Scythen gerührt, und seinen Zorn schon beynahe entwaffnet, als Orest mit entblößtem Schwerdt hereintritt, Iphigenien zur Flucht wegzureissen, weil Arkas ihnen indeß auf die Spur gekommen ist. Der König, der nicht gleich von ihm bemerkt wird, zieht gleichfalls das Schwerdt. Iphigenie vermittelt eine friedliche Unterredung, zu der sich auch noch Pylades gesellt, und deren Ausgang ist, daß Thoas durch die Wahrheit ihrer Gründe und seine eigene Gerechtigkeit bezwungen endlich nachgiebt, und beyde mit Iphigenien friedlich ziehen läßt. Das Bild der Göttinn, das Orest zu entwenden gekommen ist, hätte noch alles verderben können, wenn der Dichter nicht durch eine eben so einfache als scharfsinnige Wendung sich aus der Sache gezogen hätte. Der Beschluß krönt das ganze Stück, und läßt einen tiefen Nachhall in der Seele zurück.

Iphigenie.
"Ohne Segen,
in Widerwillen scheid' ich nicht von dir.
Verbann' uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte
von dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig
getrennt und abgeschieden. Werth und theuer,
wie mir mein Vater war, so bist du's mir,
und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele.
Bringt der Geringste deines Volkes je
den Ton der Stimme mir ins Ohr zurück,
den ich an euch gewohnt zu hören bin,
und seh ich an dem Aermsten eure Tracht:
Empfangen will ich ihn wie einen Gott,
ich will ihm selbst ein Lager zubereiten,
auf einen Stuhl ihn an das Feuer laden,
und nur nach dir und deinem Schicksal fragen.
O geben dir die Götter deiner Thaten
und deiner Milde wohl verdienten Lohn!
Leb wohl! O wende dich zu uns und gib
ein holdes Wort des Abschieds mir zurück!
Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an,
und Thränen fließen lindernder vom Auge
des Scheidenden. Leb wohl! und reiche mir
zum Pfand der alten Freundschaft deine Rechte.

Thoas.
Lebt wohl!"

(Die Fortsetzung künftig.)

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension erschien zuerst in "Kritische Übersicht der neuesten schönen Literatur der Deutschen". 2. Jg. 2. Stück. 1789. S. 72-112.