Schiller

Die Tragödie vom verlorenen Vater

Von Dieter BorchmeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Borchmeyer

Die Geschichte der deutschen Literatur ist zu einem guten Teil die Freuden- und Leidensgeschichte von Autoren, die ihr Werk im Lichte und im Schatten von Landesvätern schufen, welche beflügelnd oder hindernd in diese Werkgeschichte mit eingegangen sind. Vor allem zwei Fürsten sind deutsche Literaturgeschichte geworden: Goethes Herzog Carl August von Sachsen-Weimar und Schillers Herzog Carl Eugen von Württemberg - der eine in positivem, der andere in negativem Sinne. Man geht nicht zu weit, wenn man sagt: Herzog Carl Eugen hat eine traumatische Rolle im Leben Schillers gespielt. Schon im späten Kindesalter bekam er den gewaltigen Schatten der Raubvogelflügel dieses tyrannischen Fürsten über sich zu spüren. Als Carl Eugen 1793 starb, verkündete Schiller im Brief an seinen Freund Gottfried Körner vom 10. Dezember des Jahres den "Tod des alten Herodes", des Kindermörders. Hatte er nicht auch ihn in der Kindheit an Leib und vor allem Seele tödlich verletzt?

Herzog Carl Eugen war ein spätbarocker Fürst von unermeßlichem Repräsentationsbedürfnis, ausufernder Verschwendungssucht und unersättlichem erotischem Appetit. Sein Hof suchte den von Versailles noch zu überbieten, das ganze Leben zum Gesamtkunstwerk und Fest ohne Ende zu verherrlichen. Kein anderer als Giacomo Casanova hat das in seinen Memoiren mit Kennermiene gewürdigt. Doch dann, Ende der sechziger Jahre vollzog sich eine merkwürdige - und man darf sagen: epochentypische - Wende im Leben des Herzogs. Vom prassenden Repräsentationsfürsten wandelte er sich zum aufgeklärt-absolutistischen Herrscher, dem es nun um Rentabilität, Effizienz der Verwaltung und Wohlfahrt des Landes ging. Und je mehr er den sexuellen Eros unter dem Einfluß seiner Mätresse und späteren Gattin Franziska von Hohenheim zu bürgerlicher Liebe domestizierte, desto heftiger erwachte der pädagogische Eros, ja der Erziehungswahn in ihm. Das Zeitalter der Aufklärung ist das Zeitalter der Erziehung, und dieser pädagogische Geist der Zeit bemächtigte sich des Herzogs auf der ganzen Linie. Der von Carl Eugen verfolgte und auf der Festung Hohenasperg eingekerkerte Schriftsteller Christian Friedrich Daniel Schubart witzelte - und dafür mußte er büßen: "Als Dionys von Syrakus / Aufhören muß, / Tyrann zu sein, / Da ward er ein Schulmeisterlein."

Zwischen Aufklärung und Despotismus ist die Grenze beileibe nicht so leicht zu ziehen, wie uns das heute anmutet. Despoten konnten im 18. Jahrhundert recht aufgeklärt, ja regelrechte Kenner und Adepten der Aufklärungsphilosophie sein, wie Friedrich der Große, Katharina die Große oder Joseph II., und reine Aufklärer konnten recht despotisch sein, wie die Geschichte der Freimaurerlogen und der Umschlag von Aufklärung in Terror während der Französischen Revolution zur Genüge lehren. Die "Dialektik der Aufklärung" ist keine Erfindung von Adorno und Horkheimer, sondern sie war den Zeitgenossen - gerade Schiller - hochbewußt. Vom "Despotismus der Aufklärung" redet sein Freund Körner ausdrücklich in einem Brief an ihn vom 18. September 1787, der sich mit den Illuminaten, der radikal-aufklärerischen Spielart der Freimaurerei, auseinandersetzt, und er fügt hinzu: "Der edelste Zweck in den Händen einer Gesellschaft, die durch Subordination verknüpft ist" - und das ist in den geheimen Logen in der Regel der Fall - "kann nie vor einem Mißbrauche gesichert werden, der den Vorteil weit überwiegt." Adorno und Horkheimer hätten das nicht schärfer formulieren können.

Der pädagogische Ehrgeiz des Herzogs verlegte sich in erster Linie auf die von ihm gegründete Erziehungsanstalt, die als Hohe Carlsschule in die Geschichte eingegangen ist. Er ernannte sich selbst zum Rektor dieses Instituts, das sich von bescheidenen Anfängen in kurzer Zeit zur Militärakademie mit Universitätsprivileg mauserte und das er penibel bis in den Verwaltungs- und Schullalltag hinein überwachte. Selbst für die Inspizierung der Schlafsäle oder die Verabreichung von Ohrfeigen bei Verfehlungen der Schüler war er sich nicht zu schade. Die Eleven wurden unter ständiger Kontrolle gehalten, ja hatten sich selbst zu überwachen und Rapporte über ihre Mitschüler zu verfassen. Solche besitzen wir auch aus Schillers Feder. So reaktionär uns der psychische Drill und die militärischen Zwangsregulierungen der Carlsschule anmuten, die der erwähnte Schubart als "Sklavenplantage" bezeichnet hat - unterrichtet wurde hier modernstes Wissen von den fachlich exzellentesten Dozenten des Landes, wie von dem für Schiller wichtigsten Lehrer Jakob Friedrich Abel, der sogar über die verfemte materialistische Philosophie eines La Mettrie, Helvétius oder Holbach dozierte. Schiller entging hier nichts von den aktuellen und innovativen Wissensschätzen seiner Zeit: Aufklärung in Kasernenform verabreicht.

Und doch, obwohl Schiller ihr seine gründliche Bildung verdankt, bedeutete die Einweisung in die Hohe Carlsschule für ihn einen traumatischen Schock, denn mit einem Schlage verlor er Vater, Mutter, Familie. Den Verlust der Kindheit hat er nie verwunden, und er durchzieht hintergründig-leitmotivisch sein ganzes Werk vom Drama über die Ästhetik bis zur Geschichtstheorie. Mit der Überlassung an die Akademie begaben sich die Eltern formell aller Rechte und Pflichten ihrem Sohn gegenüber. Er wurde vom Herzog regelrecht zwangsadoptiert. Zu seinem Erziehungsprogramm gehörte der Abbruch aller familiären Bindungen. Durch juristische Gutachter wie den Tübinger Staatsrechtler Gottfried Daniel Hoffmann ließ er sich ausdrücklich bestätigen, daß das Verfügungsrecht des Souveräns die Ansprüche der Eltern auf ihre Kinder aufhob, seine Vormundschaft die des leiblichen Vaters ersetzte. Tatsächlich hatten die Eleven den Herzog als "Vater" anzureden, für ihn waren sie nun seine "Söhne". Besuche der Eltern bei ihren Kindern und dieser bei ihrer einstigen Familie waren bis auf seltene Ausnahmen verboten. Schillers Vater Caspar wußte genau, warum er sich lange, bis an die Grenze der Insubordination sträubte, seinen Sohn an die Akademie abzugeben. Gegen seinen und des Sohnes Willen sah er sich jedoch gezwungen, der Forderung des Herzogs schließlich nachzukommen und den dreizehnjährigen Friedrich 1773 an die Carlsschule zu überstellen. Andernfalls hätte er seine Lebensstellung - und seinen Sohn erst recht verloren.

Die Aufhebung der familiären Bande durch die despotische Anmaßung des Staates und seines Repräsentanten hat Schiller sein Leben lang verfolgt. Das aufschlußreichste Dokument dafür ist seine Jenaer Vorlesung "Die Gesetzgebung des Lykurg und Solon" aus dem Jahre 1789. Der Vergleich der beiden griechischen Gesetzgeber arbeitet mit einem rhetorischen Trick. Die spartanische Gesetzgebung Lykurgs wird zunächst mit dem Anschein der Billigung beschrieben. Lykurg habe nicht nur "Gesetze für seine Mitbürger", sondern auch "Bürger für diese Gesetze" schaffen wollen. "Der wichtigste Teil seiner Gesetzgebung war daher die Erziehung." Die "Sorgfalt für die Kinder" blieb öffentliche Angelegenheit. "Sobald das Kind geboren war, gehörte es dem Staat. - Vater und Mutter hatten es verloren." Die Knaben übergab man Wärterinnen, denen sie im Alter von sieben Jahren genommen wurden, um "gemeinschaftlich erzogen, ernährt und unterrichtet" zu werden. Das führte dazu, "daß die Gemüter, durch keine Privatsorge zerstreut, nur dem Staate lebten". Nachdem Schiller alle vermeintlichen Vorzüge der spartanischen Verfassung geschildert hat, kippt er plötzlich die Wertung radikal um: "Diese bewundrungswürdige Verfassung ist im höchsten Grade verwerflich", bemerkt er mit abruptem Lichtwechsel, denn sie habe den Staat zum Selbstzweck gemacht. Und nun geht Schiller mit der spartanischen Erziehung rigoros ins Gericht: "Dadurch daß der Staat der Vater seines Kindes wurde, hörte der natürliche Vater desselben auf, es zu sein. Das Kind lernte nie seine Mutter, seinen Vater lieben, weil es, schon in dem zärtesten Alter von ihnen gerissen, seine Eltern nicht an ihren Wohltaten, nur von Hörensagen erfuhr." Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Schiller hier seine eigene verlorene Kindheit in der spartanischen Verfassung spiegelt. Lykurg ist Carl Eugen, Sparta die Hohe Carlsschule.

Der Verlust der Kindheit, die Tragödie vom verlorenen Vater durchzieht das dramatische Werk Schillers von den "Räubern" bis zum "Wilhelm Tell". Schon in seinem ersten Drama - noch auf der Carlsschule verfaßt und von ihren traumatischen wie intellektuellen Erfahrungen geprägt - bildet diese Tragödie, als Gegengeschichte zum immer wieder leitmotivisch angespielten Gleichnis vom verlorenen Sohn, den Angelpunkt der ganzen Handlung. Karl Moors Ausbruch aus der bürgerlichen Welt in die Räuberexistenz ist ein Akt der Verzweiflung über seinen Vaterverlust. Sein Bruder Franz legt es darauf an, seinen nach der feudalen Erstgeburtsordnung zum Alleinerben des gräflichen Vermögens eingesetzten Bruder aus seinem Recht zu verdrängen. Durch eine teuflische Intrige schafft er es, daß der Vater sich von seinem auf der Universität über die Stränge schlagenden erstgeborenen Sohn lossagt und es Franz überläßt, Karl einen Brief zu schreiben, der ihm verkündet, "daß ich meine Hand von ihm wende". Die Hand, das alte Symbol der väterlichen Verfügungsgewalt und Fürsorgepflicht des Hausvaters! Für den alten Grafen Moor ist dieser Akt freilich nicht endgültig. Er denkt bis zu seinem letzten Auftritt in den Maßen der biblischen Parabel vom verlorenen Sohn, d. h. er rechnet mit einer reumütigen Rückkehr Karls. Das ahnt dieser jedoch nicht. Der abgefeimte Brief von Franz hat für ihn die tragische Umkehrung der Parabel des Lukas-Evangeliums zur Folge: die Tragödie vom verlorenen Vater.

"Ein allerliebstes köstliches Kind, dessen ewiges Studium ist, keinen Vater zu haben", so nennt Franz seinen Bruder vor dem verzweifelten Vater. Infam dichtet er Karl sein eigenes "Studium" an, pervertiert er doch gewissermaßen das Ziel der Aufklärung, deren radikale materialistische Philosophen er sich für seine Zwecke zynisch zunutze gemacht hat. Dieses Ziel besteht in gewisser Hinsicht tatsächlich darin, "keinen Vater zu haben". In der bedeutendsten und griffigsten "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung" - sie stammt von Immanuel Kant aus der Dezembernummer der "Berlinischen Monatsschrift" 1784 - heißt es ja: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." Mündigkeit und Unmündigkeit sind ursprünglich rechtliche Begriffe. Das Modell der Aufklärung ist also das Heraustreten aus dem Abhängigkeitsverhältnis der Vormundschaft: das Mündig-, d. h. das Rechtsfähig- Werden des Mündels - die Emanzipation von der väterlichen Gewalt, der patria potestas des Römischen Rechts, dessen Rezeption das neuzeitliche Europa so grundlegend geprägt hat. Auch der Begriff der Emanzipation ist ursprünglich ein Rechtsbegriff, bedeutet im Römischen Recht die Entlassung aus der 'Hand' (manus), d. i. aus der durch sie symbolisierten Verfügungsgewalt des Familienvaters, des pater familias, die sich auch noch auf die erwachsenen Söhne erstreckt hat. Diese wurden in der Regel erst durch den Tod des Vaters rechtsfähig, konnten im allgemeinen nur mit väterlicher Einwilligung durch formelle emancipatio selbständig werden.

Die Aufklärung hat die Termini der Mündigkeit und Emanzipation zu Grundbegriffen der religiösen, politischen und sozialen Befreiung verallgemeinert: eine Auflehnung gegen die vormundschaftliche Gewalt des Vaters, die nur vor dem Hintergrund der Steigerung der patria potestas im absolutistischen Zeitalter zu erklären ist. Diese Steigerung wirkte nämlich weit über den familienrechtlichen Bereich hinaus, gehörte zur Legitimationsbasis des absolutistischen Staates und hatte in Verbindung mit einem an der väterlichen Gewalt orientierten Gottesbild eine Entmündigung auch im religiösen Bereich zur Folge. Die vormundschaftliche Gewalt des Hausvaters im römischen Sinne wird auf den König wie auf Gott übertragen und wirkt aus dieser Übertragung wieder auf die erste zurück. Eine Pyramide, die vom Familienvater über den Landes- zum Weltvater aufsteigt, vom pater familias über den pater patriae zum pater omnipotens.

So gewiß die Aufklärung auf die Emanzipation von diesem universalen Paternalismus römisch absolutistischer Prägung zielt, hat sie, von einigen ihrer extremen Vertreter abgesehen, doch nicht daran gedacht, die väterliche Gewalt überhaupt zur Disposition zu stellen, sondern es galt, sie auf ihre 'natürliche' Funktion zurückzuführen, sie wieder in den Grenzen zusammenzuziehen, welche die Natur diesem "heiligsten aller Ämter" (so Montesquieu) gesetzt habe. Die väterliche Gewalt bestehe darin, lesen wir im Artikel "Kindheit" in der "Enzyklopädie" der französischen Aufklärer von 1755, die Kinder zu erziehen und zu leiten, solange sie noch nicht imstande sind, sich selbst zu lenken; weiter erstrecke sie sich nach dem "Rechte der Natur" nicht.

Um zu Schillers Erstlingsdrama zurückzukehren: Karl Moors Räuberexistenz ist die Folge einer nicht gewollten 'Emanzipation' im wörtlichen Sinn: hat doch der Vater wahrhaft die Hand von ihm abgezogen. Die Gründung der Räuberbande ist mithin eine aus Verzweiflung geborene Perversion aufgeklärter Mündigkeit! Dadurch daß der Vater die naturrechtlich gegebene und somit unauflösbare Liebesbeziehung zu seinem Sohn wie einen zivilrechtlichen Vertrag aufkündigt, verkehrt sich für Karl die Ordnung der Welt und der Natur. "Die Privaterbitterung gegen den unzärtlichen Vater wütet in einen Universalhaß gegen das ganze Menschengeschlecht aus", heißt es in Schillers Selbstrezension der "Räuber". "Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine Liebe mehr, und Blut und Tod soll mich vergessen lehren, daß mir jemals etwas teuer war!"

Karls aus dem Vaterverlust geborener Universalhaß wird erst vor dem Hintergrund der Liebesphilosophie voll verständlich, die sich der Autor der "Räuber" auf der Carlsschule zu eigen gemacht hat und die auch den Gegenstand einer der Reden bildet, die der "Eleve Schiller" zur "Feier des Geburts-Festes der Frau Reichsgräfin von Hohenheim auf gnädigsten Befehl Sr. Herzoglichen Durchlaucht" zu halten hatte: "Die Tugend in ihren Folgen betrachtet". Die Rede ist geprägt von der religiösen Popularphilosophie der Zeit, die im Geiste der Newtonschen Attraktions- und Gravitationslehre die alte kosmologische Idee der großen Wesens und Liebeskette, der chain of beeing, welche Gott, Natur und Mensch zusammenbindet, wiederbelebt hat. Schiller veranschaulicht die universale Attraktion der körperlichen und geistigen Elemente durch das Bild der Familie: "Liebe ist es, die aus der grenzenlosen Geisterwelt eine einzige Familie und so viel Myriaden Geister zu so viel Söhnen eines alliebenden Vaters macht." Die in eine Krise geratene Vaterordnung erfährt eine neue Legitimation - nicht mehr freilich als Herrschafts-, sondern als Liebesordnung, welche die Freiheit des einzelnen nicht beeinträchtigt, sondern Kind und Vater, Mensch und Gott in der Sympathie autonomer Wesen vereinigt. Das wird noch das Thema des Lieds "An die Freude" sein: "Brüder - überm Sternenzelt / Muß ein lieber Vater wohnen." Nicht mehr der allherrschende Vater, der den Welthaushalt lenkt, sondern der Vater der Liebe!

Immer wieder taucht hinter dieser überschwenglichen Liebesphilosophie ein apokalyptischer Gedanke auf: die Vorstellung, die universale Liebesanziehungskraft, das Gravitationsgesetz der Sympathie könnte sich erschöpfen. "Würde die Liebe im Umkreis der Schöpfung ersterben, wie bald wie bald würde das Band der Wesen zerrissen sein, wie bald das unermeßliche Geisterreich in anarchischem Aufruhr dahintoben, ebenso wie die ganze Grundlage der Körperwelt zusammenstürzen, als alle Räder der Natur einen ewigen Stillstand halten würden, wenn das mächtige Gesetz der Anziehung aufgehoben worden."

So wie nach der Carlsschulrede die Liebe, "die den Vater an den Sohn, den Sohn an den Vater fesselt", mächtig auf die "Harmonie des Ganzen" zu wirken vermag, so wird umgekehrt diese Harmonie zerstört, wenn sich das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn löst. Das ist die Situation der "Räuber": die Abwendung des Vaters vom Sohn läßt für Karl Moor die Ordnung des Kosmos zerbrechen. Nun scheint wirklich das Gravitationsgesetz der Liebe außer Kraft gesetzt; und so stellt Karl dem Kosmos der universalen Sympathie die Welt des Universalhasses entgegen, das Räuberdasein, das eben jenen 'anarchischen Aufruhr' verwirklicht, welcher das wahre Wesen einer Welt spiegelt, deren zusammenhaltende Liebes-Kraft sich zersetzt hat.

Die emphatische, Gemeinsamkeit stiftende Gewißheit: "Brüder - überm Sternenzelt / Muß ein lieber Vater wohnen" - das Postulat der liebenden Vernunft - schlägt in den "Räubern", dem dramatischen Gegenexperiment zur Schillerschen Liebesphilosophie, in das tödlich vereinsamende Bewußtsein des Vaterverlusts um. Die Vater-Sohn-Beziehung ist die mikrokosmische Repräsentation der Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch. Der Verlust des leiblichen bedeutet dementsprechend den Verlust des göttlichen Vaters. So wird es Karl Moor selbst in der Donauszene des dritten Akts bewußt: "Die ganze Welt eine Familie und ein Vater dort oben - Mein Vater nicht - Ich allein der Verstoßene, ich allein ausgemustert aus den Reihen der Reinen - mir nicht der süße Name Kind." Der Vaterverlust als Gottesverlust - eine Vision, die schon auf Jean Pauls "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei" vorausweist. Hier wird das Zerreißen der Wesenskette durch die Zerstörung des Vater-Sohn-Bezugs zur metaphysischen Vaterlosigkeit radikalisiert, zum apokalyptischen Bild des vaterlosen Gottes Sohns: "Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater", verkündet Jesus "mit strömenden Tränen" den gestorbenen Kindern.

Immer wieder wird in Schillers Drama das Bild des liebenden, 'zärtlich' fürsorgenden Vaters dem des despotisch verfügenden kontrapunktisch gegenübergestellt. So in seinem dritten Trauerspiel Drama "Kabale und Liebe". Verkörpert hier der Präsident von Walter ausschließlich die väterliche Gewalt, die sich darin bekundet, daß dem nicht rechtsfähigen Sohn Ferdinand die Gemahlin vorgeschrieben wird, so ist der Musikus Miller der fürsorgende Vater, der im Sinne eines naturrechtlich begründeten, empfindsamen Patriarchalismus seiner Tochter Luise die freie Partnerwahl zubilligt. Die gegensätzlichen Vaterbilder aber werden in diesem theologisch grundierten bürgerlichen Trauerspiel immer wieder mit den sich widerstreitenden Gottesbildern verschränkt: Gott erscheint entweder als "Vater der Liebenden" oder als "Richter der Welt", als rächender Herr oder als vergebender Vater. Und den Verlust dieses liebenden Vaters fürchtet Luise so sehr, daß sie eher bereit ist, auf den Geliebten zu verzichten, als den Vater preiszugeben.

In seinem letzten Jugenddrama "Don Carlos" hat Schiller die Vater-Sohn-Konfiguration zum erstenmal durchgehend politisch grundiert. König Philipp verkörpert als Herrscher und Vater die jede Liebe und Fürsorge für sein Volk wie für seinen Sohn ausschließende patria potestas. Er ist das extreme Gegenbild zum naturrechtlich begründeten Typus des zärtlichen Haus und fürsorgenden Landes Vaters. Die Unväterlichkeit des Königs im naturrechtlichen Sinne zeigt sich zumal in den Eingangsszenen des zweiten Akts in doppelter, in privater wie politischer Hinsicht: in der Weigerung nämlich, Don Carlos als Sohn sein Herz zu öffnen und ihn als Statthalter nach Flandern zu entsenden. "Sie schlossen mich, wie aus dem Vaterherzen, / Von Ihres Zepters Anteil aus", hält Carlos dem Vater vor. Wenn er sich in der letzten Szene des Dramas von ihm radikal lossagt - "Ich schätz ihn nicht mehr. [...] Er hat seinen Sohn verloren" -, manifestiert sich ein 'Ausgang aus der Unmündigkeit', der mit Leiden bis an den Rand der Selbstzerstörung erkauft werden muß. Der Preis für die Emanzipation von der Verfügungsgewalt des Vaters ist das Opfer auch der natürlichen Bindung an ihn: "Ausgestorben ist in meinem Busen die Natur." Die Ermordung Posas auf Veranlassung Philipps II. hat Carlos jede Illusion einer gütigen Vaterschaft des Königs geraubt - ihn mit einem Schlage 'mündig' gemacht. "Eine kurze Nacht / Hat meiner Jahre trägen Lauf beflügelt, / Frühzeitig mich zum Mann gereift."

Hier deutet sich schon die tragische Problematik an, die im Zentrum von Schillers dramatischem Hauptwerk: der "Wallenstein"-Trilogie stehen wird. Max Piccolomini verliert hier gleich zwei Väter, den leiblichen und den geistigen, durch deren "Doppelschuld": weil beide - Octavio Piccolomini und Wallenstein - im Spiel der Macht ihre Integrität verloren haben, welche die Basis für das unbedingte Vertrauen des jungen Idealisten zu ihnen war. Der Verrat Wallensteins, die Erkenntnis, daß dieser nicht bereit ist, die persönliche Macht an das von Max ersehnte politische Ideal zu wagen, bedeutet für ihn den Verlust eines Vaters, der Wallenstein für ihn bis dahin wahrhaft gewesen ist. "Du machst mich heute mündig", verkündet Max seinem General, nachdem dieser selbst ihm mit beschönigenden Worten seinen Hochverrat mitgeteilt hat. Maxens Worte sind eine unmittelbare Anspielung auf Kants Definition der Aufklärung. Durch Wallenstein ist Max wahrhaft 'aufgeklärt', d. h. zum Ausgang aus der Unmündigkeit verholfen worden: "Denn bis auf diesen Tag war mirs erspart, / Den Weg mir selbst zu finden und die Richtung" - sich also seines Verstandes ohne fremde Leitung zu bedienen. "Zum ersten Male heut verweisest du / Mich an mich selbst." Zum ersten Mal erfährt Max, daß die Weisung Wallensteins, der er sich bisher unbedingt überlassen zu können glaubte, nicht mit dem "Herzen" als der autonomen moralischen Urteilskraft übereinstimmt. Maxens nunmehr aufgeklärtes ist aber ein unglückliches Bewußtsein, es verstrickt ihn in einen tragischen Konflikt:

O! welchen Riß erregst du mir im Herzen!
Der alten Ehrfurcht eingewachsnen Trieb
Und des Gehorsams heilige Gewohnheit
Soll ich versagen lernen deinem Namen?
[...]
Die Sinne sind in deinen Banden noch,
Hat gleich die Seele blutend sich befreit!

Die 'blutend befreite' Seele mit diesem Bild, mit diesen beiden letzten Versen hat Schiller den Preis der Aufklärung bestürzend zum Ausdruck gebracht. In ihrer Dialektik ist Maxens Tragödie begründet.

Diese Dialektik hat schon der junge Schiller in seinen "Philosophischen Briefen" thematisiert, am Beispiel des Julius, dem durch die kritische Philosophie, wie sie sein Freund Raphael (alias Gottfried Körner) vertritt, der "Glauben gestohlen" wurde, der ihm "Frieden" gab. "Selige paradiesische Zeit, da ich noch mit verbundenen Augen durch das Leben taumelte wie ein Trunkner - da all mein Fürwitz und alle meine Wünsche an den Grenzen meines väterlichen Horizonts wieder umkehrten [...]. Raphael hat mich denken gelehrt, und ich bin auf dem Wege, meine Erschaffung zu beweinen." Eine Anspielung auf den biblischen Hiob, der seine Geburt verflucht! In dem von Körner stammenden Schlußbrief des Raphael an Julius heißt es gnadenlos: "Die Rückkehr unter die Vormundschaft Deiner Kindheit ist auf immer versperrt. Dein Weg geht vorwärts, und Du bedarfst keiner Schonung mehr." Aber dieser Schonung bedarf Julius aus seiner Sicht und von seinem Herzen her sehr wohl. Wie Max Piccolomini betrauert er das verlorene Glück der Unmündigkeit, in seinem Falle: den Zwang der erkenntniskritisch aufgeklärten Vernunft, die Grenzen des bergenden 'väterlichen Horizonts' zu durchstoßen.

Schiller kann sich den "Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit", so scheint es, kaum anders denn als Tragödie vorstellen. In seinem gesamten dramatischen Werk gibt es nur ein einziges Beispiel für einen emanzipatorischen Prozeß, der nicht unter tragischen Vorzeichen abläuft: "Wilhelm Tell". Ein solch untragisches Exempel war für Schiller freilich nur im Rahmen eines von den realen geschichtlichen Gegebenheiten abgehobenen mythisch-utopischen Dramas denkbar, das den Versuch darstellt, die Geschichte zu korrigieren, ihren Verlauf so zu konstruieren, wie er sich in Wirklichkeit nicht ereignet hat und nach Schillers Überzeugung auch nicht ereignen kann. Das hat ihn das welterschütternde Ereignis seiner Zeit gelehrt: die Französische Revolution. Auch sie ist eine Tragödie vom verlorenen Vater in gewaltigen geschichtlichen Dimensionen. Ihre terroristischen Exzesse haben gezeigt, so schreibt Schiller in seinem Brief an den Prinzen von Augustenburg vom 13. Juli 1793, "daß das Menschengeschlecht der vormundschaftlichen Gewalt noch nicht entwachsen", aus seiner Unmündigkeit noch nicht herausgetreten ist. Die Aufklärer haben den Menschen allzu selbstverständlich als vernünftiges Wesen vorausgesetzt, nicht einkalkuliert, daß er weit mehr durch "Empfindungen" als durch "Begriffe" zum Handeln bestimmt wird, daß er sich durch den "Kopf" erst leiten läßt, wenn er mit dem "Herzen" im reinen ist. Die Empfindungswelt, die Sinnlichkeit befindet sich "unter fremder Vormundschaft viel zu wohl [...], als daß sie die Epoche der Mündigkeit nicht so weit als möglich zurücksetzen sollte." Die Bindung Max Piccolominis an Wallenstein ist dafür das deutlichste Beispiel: "Die Sinne sind in deinen Banden noch ..."

Der Irrtum der Französischen Revolution bestand nach Schiller darin, den theoretischen Entwurf einer nach reinen Vernunftprinzipien organisierten politischen Ordnung unbekümmert um die sinnliche Natur des Menschen in die Tat umzusetzen. Sie setzte seine Mündigkeit voraus, obwohl er sich in einer Entwicklungsphase befand, in der er sich seines Verstandes noch gar nicht ohne fremde Leitung bedienen konnte. Man hatte ihm gewissermaßen den Vater geraubt, ohne ihn doch auf eigene Füße zu stellen. An eben diesem Punkt setzt Schillers Programm der "ästhetischen Erziehung" in seinen berühmten Briefen an. Die ästhetische Erziehung will den Menschen zur Mündigkeit führen, doch so, daß er seine sinnliche Natur, seine Empfindungswelt, die noch in den Banden des Aberglaubens, des Vorurteils, der physischen Gewohnheit und Annehmlichkeit lebt, Grad um Grad auf die Selbstbestimmung einstimmt, ohne den Verlust der fremden Leitung, der väterlichen Führung stärker zu empfinden als den Gewinn der Eigenständigkeit des Verstandes. Dergestalt wird die ästhetische Erziehung zur List der aufgeklärten Vernunft.

In seinem letzten abgeschlossenen Drama "Wilhelm Tell" hat Schiller ein einziges Mal versucht, das Programm der ästhetischen Erziehung - den Weg in einen aufgeklärten Staat ohne tragische Dialektik - auch auf der Bühne einzulösen, das Ende einer Vaterwelt ohne Opfer des Herzens darzustellen. Auf der einen Seite steht hier - im Falle zumal des Titelhelden - die väterliche Fürsorge als die 'heilige' Stütze der Naturinstitution der Familie, auf der anderen Seite das durch die Fremdherrschaft der habsburgischen Vögte entfremdete patriarchalische Regiment des Kaisers, das sich als Destruktion und Pervertierung der naturrechtlich begründeten Vaterordnung darstellt.

Die Freveltaten der Vögte sind eine Serie von Angriffen auf die Integrität der Familie, insbesondere auf die väterliche Schutzpflicht, so die Blendung des alten Melchthal - des Vaters, der aufgrund seiner hausväterlichen Fürsorgepflicht für seinen Sohn eingestanden ist -, und der wahrhaft 'diabolische', die Naturordnung pervertierende Befehl Geßlers, Tell solle auf das Haupt des eigenen Kindes schießen. Durch diesen Befehl zwingt Geßler Tell zu der gleichen Unväterlichkeit, deren sich das patriarchalische Regiment der Habsburger schuldig gemacht hat. (Geßler ist bezeichnenderweise kinderlos, und alle väterlichen Instinkte gehen ihm ab.) Tells Tyrannenmord, als Notwehr und Satisfaktion der beleidigten Natur, erfolgt symbolisch zugespitzt in dem Moment, da Geßler sich weigert, den Kindern Armgards den ohne Richterspruch eingekerkerten Vater zurückzugeben. Die Tötung Geßlers wird als Rächung der "heiligen Natur" dem Vatermord Parricidas als deren Schändung rigoros entgegengesetzt.

Dieser Vatermord ist jedoch seinerseits die symbolische Strafe dafür, daß der Kaiser kein echter "Vater seiner Völker" gewesen ist. Die despotische Pervertierung der väterlichen Fürsorgepflicht und im Falle Melchthals und Tells die zynische Schändung der Vaterordnung wirken auf ihre Urheber zurück. Die patriarchalische Regierung führt sich selbst ad absurdum. Aus den Untertanen einer väterlichen Herrschaft werden Bürger eines brüderlichen Gemeinwesens. Auch da, wo patriarchalische Herrschaftsbeziehungen noch in naturhafter Integrität vorwalten, ist doch ihr Ende nahe. "Und vaterlos laß ich euch alle, alle zurück", klagt der sterbende Attinghausen. Daß er indessen keine unmündigen Kinder zurückläßt, sondern mündige Bürger, welche der väterlichen Führung nicht mehr bedürfen, erfaßt er, als er von dem ohne Unterstützung des Adels zustande gekommenen Rütli-Bund erfährt, mit seherischer Klarheit: "Ja, dann bedarf es unserer nicht mehr, / Getröstet können wir zu Grabe steigen, / Es lebt nach uns -."

Der Versuch der Ablösung der patriarchalischen durch eine brüderliche Ordnung vollzieht sich im "Wilhelm Tell" - wie erwähnt zum ersten und letzten Mal in Schillers dramatischer Dichtung - ohne tragisches Vorzeichen, ohne dialektischen Umschlag in neuen Despotismus, ohne Verzerrung seiner ursprünglichen Intentionen. Schiller traumatische Erfahrung des Vaterverlusts - im "Wilhelm Tell" ist sie ein einziges Mal poetisch bewältigt.