Stifters Traum vom Glück

Arnold Stadler gelingt mit "Mein Stifter" eine neue Heimweh-Liebeserklärung

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Große Schriftsteller sind oft große Leser, die im Idealfall Lesen und Schreiben auf kongeniale Weise zusammenführen. Martin Walsers Lektüre-Essays "Liebeserklärungen" zeugen von einer solch geglückten Verbindung. Mit seinem großen Essay über Adalbert Stifter gelingt dem Büchner-Preisträger von 1999, Arnold Stadler, Ähnliches. "Mein Stifter" ist ein großer Wurf, eine unterhaltend-belehrende Poetik Stifter'schen wie Stadler'schen Schreibens, eben eine "sonderbare Liebeserklärung".

"Ich hatte", stellt Stadlers Erzähler in seinem autobiografischen Roman "Mein Hund, meine Sau, mein Leben" fest, jenem Text, mit dem ihm - nicht zuletzt dank eines langen "Spiegel"-Artikels von Martin Walser - der Durchbruch bei der Literaturkritik gelang, "einen Selbstmörder als Lebenshilfe". Der Österreicher, dessen Spuren in Stadlers Werken immer wieder auftauchen, setzte bekanntlich seinem Leben 1868 mit dem Rasiermesser ein Ende. Es war seine Weise mit "dem Messer zu philosophieren", sozusagen sein "Erbarmen mit dem Rasiermesser", um Stadlers Dankesrede auf den Büchner-Preis zu zitieren. Ähnlich wie in seinem hintersinnigen Dialog mit Johann Peter Hebel über dessen Gedicht "Die Vergänglichkeit" vergegenwärtigt Arnold Stadler das Leben des österreichischen Dichterkollegen entlang eines einzigen Werkes.

Doch vor der essayistisch umkreisenden und um-schreibenden Lektüre der Stifter'schen "Roman"- Erzählung "Der Nachsommer" sowie einem kritischen Thomas Bernhard-Exkurs und dessen Stifter-Lektüre in "Alte Meister" erfolgt die Stadlersche Annäherung an den "Selbstmörder in spe" über fünf Fotografien. Arnold Stadler, der Meister der Lakonie und des hintersinnigen Humors, beschreibt einen "Menschen, unter dessen Oberfläche es brodelt", mit einer "lebenslangen Angst, sich festzulegen, einem krankhaften Zögern, einer Orientierungslosigkeit in allem". Sei es in seiner Ehe, die eher einem eigentümlichen Wechselspiel von Flucht und Gleichgültigkeit gleicht, seinen Fress- und Alkoholexzessen oder in seiner Zeit als oberösterreichischer Landeskonservator und Schulaufseher - immer ist es wie etwa bei Hebel und Mörike ein Leben in den "beengten Welten des jeweiligen Mainstream-Terrors". Dennoch oder trotzdem ist Stifters "Nachsommer" ein paradox diesseitiger "Traum vom Glück", ein "Heimweh nach etwas, das immer war und wohl nie" - eben die Verschriftlichung dessen, was Stadler als Wissen darüber bezeichnet, "wie es ist, vom Großvater auf dem Feld stehend die Welt erklärt zu bekommen und ihre Namen, und wie die Augen in die blaue Fernen gingen, [...] oder wie Kinderarbeit sich anfühlt, oder eine Heugabel oder der Boden unter den Füßen, frisch gepflügt. Und wie man von dort die blauen Fernen sehen kann. Und wie sich die Sehnsucht einstellt. Und so fort. Wie es ist, in aller Herrgottsfrühe aufzubrechen und dann das Heimweh aus dem Internat? Und die fremde Sprache dort, und wie sie über dieses und jenes Wort lachen, allein, weil sie es nicht verstehen? Und wie die Sprache und die Welt das nicht Selbstverständliche sind? Etwas anderes als die bloße Information und nur das, was zu sehen ist von ihr". Diese Seelenverwandtschaft ist weit mehr als die Nähe auf den ersten Blick: "Was verbindet mich mit ihm, dem Menschen? Die Bücher setze ich voraus. Über sie bin ich ja zu ihm gekommen. Aber hier geht es ja um die Person, die geschrieben hat. Was ist es also?" fragt sich Stadler immer wieder: "Daß es eine Photographie gibt, die meinen Ururgroßvater zeigt aus dem Jahr 1857, der genauso aussieht und dasteht wie Adalbert Stifter, die Kleidung, der Blick, als blickten sie in die Zukunft? Was noch? Daß Stifter und Amalie in jener Kirche in Wien heirateten, in der Abraham a Sancta Clara dem Kaiserhof die Leviten gelesen hat? Der hatte einst an derselben Schule wie ich Latein. So kommt alles zusammen. Aber nur irgendwie."

Eben "nur irgendwie" - tiefer sicherlich in dem Sinne, den Stadler so formuliert: "Aber wir haben ja alle unsere Geschichte, die an irgendeiner Stelle mit der Geschichte Stifters sich kreuzt. Darum schreiben wir."

Stadlers "Mein Stifter" - aus Anlass des 200. Geburtstages Adalbert Stifters am 23. Oktober - gehört unzweifelhaft zu den "Unvergleichlichkeiten, die in jenem Ortzeitgemisch vorkommen, das man Heimat nennt. Das ist das, worin keiner mehr ist." So jedenfalls hat einst Martin Walser seine Liebeserklärung in "Mein Schiller" - übrigens das "erste" und einzige Mal in dessen Lektüre-Band, dass Walser das Possessivpronomen verwendet - auf den Punkt gebracht. Arnold Stadlers wunderbares Heimat-Sehnsuchtsbuch "Mein Stifter" umschreibt so jenen Satz aus Stadlers vorletztem Roman "Sehnsucht. Versuch über das erste Mal": "Die Vergangenheit ist heute mein Heimweh, so wie damals die Sehnsucht meine Zukunft war" in poetisch eindringlicher Weise: "Denn dem Hiersein galt die größte aller Anhänglichkeiten unseres Dichters."

Titelbild

Arnold Stadler: Mein Stifter. Portrait eines Selbstmörders in spe und fünf Photographien.
DuMont Buchverlag, Köln 2005.
197 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3832179097

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