Vom Nomos der Projektion

Ute Schneider gewährt Einblick in die Archive der Seefahrer und Landmächte

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem üppigen Bildband, der sich zu einem Bestseller des Primus-Verlags entwickelt, dokumentiert die Historikerin Schneider nicht nur die Geschichte der Kartografie, sondern legt deren Konstruktionsprinzipien offen, die sie zugleich mit ihren historischen Funktionsbedingungen spiegelt: Die "mappa mundi" der frühen Neuzeit etwa, in denen sich die Wiederentdeckung des ptolemäischen Darstellungsverfahrens niederschlägt. Diese Karte konkurriert mit und verdrängt schließlich die Heils-, Pilger- und Wegekarten des Mittelalters, die geostet oder gesüdet waren und entweder den Zweck hatten, alle Wege nach Rom zu beschreiben oder Jerusalem als Mittelpunkt des Leib Christi zu präsentieren, der die Ökumene (Alte Welt) umfasst.

Ein Leckerbissen für alle Kulturwissenschaftler dürfte einerseits die Waldseemüller-Karte darstellen, auf der erstmalig der Name "Amerika" auftaucht. 2002 hat Sigrid Weigel just diese Karte als Differentialgegenstand der deutschen und angelsächsischen Kulturwissenschaften ausgemacht und an ihr den "topographical turn" derselben herausgehoben: Der Theologe Martin Waldseemüller hatte dem italienischen Seefahrer Americo Vespucci irrtümlich die Entdeckung des neuen Doppelkontinents zugeschrieben und auf dem südlichen Teil den Namen "America" eingetragen, während andere Kartografen sich zunächst auf "terra nova" verlegten. Der in mehrfacher Hinsicht "projektive" Akt Waldseemüllers ließ die einzig erhaltene Karte zum Objekt US-amerikanischen Begehrens werden und wurde 2001 schließlich für die Library of Congress erworben. Aus hiesiger Sicht ein typischer Akt der ethnografisch (positiv wie kritisch) eingestellten Cultural Studies, deren Objektverständnis wenig Platz lässt für die technischen Aspekte der Karte.

Aber auch Leser Carl Schmitts werden den "Atlas" gerne in die Hand nehmen, enthält er doch Abbildungen sowohl einer spanischen als auch einer portugiesischen Karte, auf der die erste "globale Linie", welche die noch unerkannten Gebiete - "terrae incognitea" - bereits vor ihrer Eroberung, geschweige denn ihrer Vermessung verteilt. Schmitt hatte genau in diesem Akt die Manifestation des neuen, globalen Verhältnisses zur bisher nur begrenzten Welt gesehen, wonach die "Nahme" des Bodens mit der Schaffung eines Rechtsraumes in eins fällt und der "Nomos der Erde" also ein zugleich universelles wie machtpolitisches Ethos etabliert. Eindrucksvoll sind dahingehend die von Schmitt nicht mehr beachteten Teilungen des Erdraums, wie besonders die mehrfache Aufteilung und Auslöschung Polens am Kartentisch. So besiegelten 1939 Josef Stalin und Adolf Hitlers Vertreter Joachim von Ribbentrop Polens Schicksal mit einem Strich und zwei Unterschriften auf der Karte.

Anders als noch zuletzt der Philosophie-Atlas von Holenstein, der den fundamentalen Konstruktionsaspekt der Karten über weite Strecken ausblendet (vgl. http://www2.uni-jena.de/philosophie/phil/tr/22/guenzel.php), ist es Ute Schneider gelungen, mit klaren Worten und der Kraft der Bilder die Doppelzüngigkeit der Objektivität zum Ausdruck zu bringen: Repräsentation ist nicht nur manipulativ, sondern konstruktiv, insofern die Idee der korrekten Abbildung eine Fiktion ist, die uns seit dem wir alle Karten lesen lernten in Fleisch und Blut übergegangen ist. Und wären sie nicht manipulativ, böten sie keine Orientierung: Die Navigation auf See macht zur Bedingung, dass eine gerade Linie auf der Karte gezeichnet, einem angepeilten Kurs entspricht. Dass diese die Flächen der Erde entstellende Karte einmal zum Bild der Welt im 20. Jahrhundert werden sollte, entzieht sich der Macht des Zeichners. Die Karten entfalten ihre eigene.

Titelbild

Ute Schneider: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute.
Primus Verlag, Darmstadt 2004.
144 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3896782436

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