Konzentrationslager sind Lager, in denen man Konzentration lernt

Der Schauspieler Michael Degen erinnert sich an seine Kindheit als jüdischer Junge im nationalsozialistischen Berlin

Von Heike BüsingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Büsing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Konzentrationslager sind Lager, in denen man Konzentration lernt", denkt sich der achtjährige Michael Degen, als sein Vater im September 1939 in das Lager Sachsenhausen abtransportiert wird. Bei dessen Anblick auf dem Sterbebett traut er sich jedoch nicht mehr, den Vater nach der Art der Konzentration zu fragen, die dieser dort eingeübt hat.

Michael Degen wächst als jüdischer Junge im nationalsozialistischen Berlin heran. Seine Kindheit findet schnell ein Ende, als sich die Judenverfolgung Ende der dreißiger Jahre immer weiter zuspitzt - aus dem verspielten Kind wird innerhalb kürzester Zeit ein erwachsener, verantwortungsbewusster Junge.

Nach dem Tod des Vaters und der Verschickung des älteren Bruders nach Palästina muss er sich gemeinsam mit seiner Mutter in der deutschen Hauptstadt allein durchschlagen. Im Sommer 1942 können die beiden nur knapp ihrem Tod entrinnen, als sie gerade noch rechtzeitig beobachten, wie die jüdischen Nachbarn aus ihren Häusern abgeführt werden. Auf der Flucht vor den Deutschen macht hinfort die ständige Sorge, Helfer oder sich selbst in akute Gefahr zu bringen, die Suche nach immer neuen Verstecken nötig. Ein Leben in Todesangst, geprägt von Hunger und Verzweiflung, findet erst sein Ende, als eines Tages die ersten russischen Soldaten in einem der Berliner Vororte, in dem sie Zuflucht gefunden haben, einmarschieren.

Der aus Theaterproduktionen mit Bertolt Brecht und Peter Zadek bekannte Schauspieler Michael Degen, der durch seine Fernsehrollen in "Diese Drombuschs" oder "Geheime Reichssache" große Popularität erlangte, leistet mit seinem Kindheitsbericht einen wichtigen Beitrag zu der glücklicherweise immer weiter anwachsenden Zahl von schriftlich fixierten jüdischen und nichtjüdischen Schicksalen unter der NS-Diktatur.

Der Schauspieler Degen präsentiert sich in seinem autobiographischen Kindheitsroman als großer Erzähler: Mit den Augen des kleinen Jungen, dem der erwachsene Degen immer wieder einen zaghaften Blick über die Schulter wirft, erzeugt der heute 68jährige in seinem Roman eine Sichtweise, die ein reflektiertes Bild von der damaligen Zeit zulässt, dabei aber die Perspektive des Kindes nie ganz verlässt. Beeindruckend ist auch die Sprachgewandtheit Degens, mit der es ihm bei der Beschreibung der Zufluchtsstätten und ihrer Bewohner gelingt, die Leser emotional zu beteiligen. Humoristischer Charme, der nicht selten in Sarkasmus umschlägt, ermöglicht es zudem, die geschilderte Angst, Einsamkeit und Stille leichter zu ertragen: "'Aber ich habe es satt immer davonzulaufen. Die müssen das nie.' - 'Doch die müssen uns hinterherlaufen. Das ist genauso anstrengend. Und vielleicht ändert sich das ja bald. Dann spurten die, und wir spurten denen hinterher.' Ich sah meine Mutter an und fing an zu lachen."

Degen unterscheidet in seinem Buch sehr genau zwischen denjenigen Menschen, die sein Leben bedrohten, und den vielen Helfern. Denn eines hat er in den Jahren des Untergrunds in Berlin gelernt: Nicht alle waren Mörder. Und das war vielleicht einer der Gründe, weiter in Deutschland zu leben und schließlich dieses überaus lesenswerte Buch zu schreiben.

Titelbild

Michael Degen: Nicht alle waren Mörder. Eine Kindheit in Berlin.
Econ Verlag, München 1999.
331 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3430120497
ISBN-13: 9783430120494

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