Ein Guerillero des Denkens

Michaela Otts Einführung in das Werk von Gilles Deleuze

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deleuzes wildes, nomadisches Denken in einer schmalen Monografie einfangen zu wollen darf als kühn bezeichnet werden. Die Philosophin, Filmwissenschaftlerin und Übersetzerin Michaela Ott stellt sich dieser Herausforderung mit Geschick und zeigt dabei die Grenzen der im Junius Verlag erscheinenden Einführungsreihe auf. Der 1995 verstorbene Franzose bürstet in seinem Werk nämlich nicht nur gängige philosophische Konzepte gegen den Strich, sondern schafft auch eine ausufernde Terminologie, die für sich allein einen Band beanspruchen könnte. Wer sich anschickt, einen Abriss der Deleuze'schen Denkbewegungen zu verfertigen, hat sich folglich zwischen Reduktion und Verstümmelung einen Weg zu bahnen, selbst wenn dergestalt nicht mehr als ein Abglanz der vorgestellten Schriften bleibt. Anders gesagt: Uneingeweihten wird dieser "Gilles Deleuze" lediglich eine Ahnung von dem französischen Meisterdenker vermitteln, dessen Hervorbringungen in Fachkreisen nicht unumstritten sind.

Seine Rezeption in Deutschland spaltet die Leserschaft in zwei Lager. Abgelehnt wird Deleuze von den akademischen Philosophen, die ihn für hermetisch und unwissenschaftlich halten. Zustimmung erfährt er hingegen von jungen Kunst- und Medientheoretikern, die den "Guerillero der Philosophiegeschichte" zur Kultfigur hochstilisieren.

Angesichts der vielfältigen Stoßrichtungen des Deleuz'schen Œuvres fragt sich der Laie naturgemäß, wie der Einstieg in diese Gedankenwelt erfolgen sollte. Eine erste Fühlungnahme könnte über seine philosophiekritischen Arbeiten erfolgen, die Hume, Kant, Nietzsche und anderen gewidmet sind. Auf der Suche nach der inneren Ordnung des jeweiligen philosophischen Systems kommt der Zeitgenosse Foucaults zu überraschenden, mitunter befremdlichen Ergebnissen. Bei Kant findet er etwa das Scheitern der Vernunftkritik, Nietzsches "Wille zur Macht" ist seiner Auffassung nach als "Wille zum Willen" zu lesen. Auf diese Weise befreit er die Macht von seinem Unterwerfungsgestus und stellt sie in die Perspektive einer sich perpetuierenden schöpferischen Kraft.

Deleuzes Lektüre literarischer Texte, namentlich jener Prousts, Kafkas oder Melvilles, eröffnet einen weiteren Zugang zu seinem rhizomatischen, d. h. sich verzweigenden Werk. Dass in diesen Arbeiten verblüffende Affinitäten freigelegt werden, versteht sich von selbst. So steht Prousts perseverierendes Aufrufen der Vergangenheit in der "Recherche" Deleuzes Wiederholungskonzept aus "Différence et répétition (1967) / Differenz und Wiederholung" nahe, mit Hilfe dessen er in immer neuen Anläufen Erkenntnis zu gewinnen sucht. Deleuze spricht so die Nostalgie Prousts vom Verdacht der Zwanghaftigkeit frei und transformiert sie in eine positive Energie.

Dank der Zusammenarbeit mit Félix Guattari gelingt es Deleuze, seine Kritik der Psychoanalyse zu systematisieren und dem Unbewussten - um nur einen kleinen Aspekt dieser neuen Facette seines weit ausgreifenden Denkens hervorzukehren - eine ernst zu nehmende epistemologische Rolle zuzuweisen. Bahnbrechend scheint in diesem Zusammenhang "L'Anti-Œdipe. Capitalisme et schizophrénie (1972) / Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie", in dem die Autoren "ein freiheitliches Gegenmodell zum kritisierten ödipalen Modell" entwerfen. Michaela Ott weist darauf hin, wie sehr diese Schrift von den Ereignissen des Mai 1968 geprägt ist, die ihrer Ansicht nach "zu thematischen Entgrenzungen und epistemologischen Umbrüchen" im Deleuz'schen Kosmos geführt hätten.

Eine abermalige Wende erfährt seine Arbeit in den Schriften zu Malerei und Film, die sich in jüngster Zeit großer Beliebtheit erfreuen. Gerade der Film bietet Deleuze, dessen Philosophie auf den Invarianten "Zeit", "Bewegung" und "Wiederholung" basiert, ein ideales Betätigungsfeld. Mit Exkursen in die Malerei wie in "Logique de la sensation (1981) / Logik der Sensation" gelingt es ihm, einen Nexus zwischen den Medien der statischen und bewegten Bilder herzustellen. Von Francis Bacon über Buster Keaton und Hitchcock bis hin zu Herzog reicht der Bogen seiner Analysen, die zum unverzichtbaren Bestandteil der medientheoretischen Literatur geworden sind. An dieser Stelle scheint der Hinweis auf seine Kategorisierung der Filmgeschichte angebracht, die dies- und jenseits des Zweiten Weltkriegs in aktionsbetonte "Bewegungsbilder" bzw. narrationsarme, selbstreflexive "Zeit-Bilder" zerfällt. Es besteht kein Zweifel, dass sich Deleuzes Schrifttum nicht zuletzt dank derartiger Typologien in der universitären Lehre einsetzen lässt und seine unorthodoxen Denkfiguren insbesondere auf eine junge Generation von PhilosophInnen befruchtend wirken, die nicht willens sind, sich von der Phalanx geistesgeschichtlicher Ikonen einschüchtern zu lassen.

Michaela Otts schmale Schrift leistet insofern Respektables, als sie nicht versucht, Deleuze seiner Sperrigkeit zu entledigen und seine philosophisch-poetischen Rasereien populärwissenschaftlich auszuschlachten. Deleuze ist und bleibt ein schwieriger Autor, darüber vermag auch diese konzise Einführung nicht hinwegzutäuschen, die behutsam auf eine eventuelle Lektürebegegnung mit dem Franzosen vorbereitet.

Titelbild

Michaela Ott: Gilles Deleuze. Zur Einführung.
Zweite Auflage 2010 erschienen.
Junius Verlag, Hamburg 2005.
155 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3885066033
ISBN-13: 9783885066033

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