Ausgrabungsarbeiten im familiären Umfeld

In Malin Schwerdtfegers Roman "Delphi" geht es um die Fundamente

Von Andrea DienerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Diener

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Malin Schwerdtfeger ist eine Spezialistin für komplizierte Verhältnisse. Ehen, die keine mehr sind, Familien, die allmählich auseinanderfallen und Orte, an denen man sich bemüht, heimisch zu werden, es aber doch nie wirklich schafft. Schon in ihrem Debütroman "Café Saratoga" hält nichts recht zusammen: Die Eltern geschieden, aber nicht voneinander loskommend, die Töchter zu verschieden, die Sehnsuchtsorte, die sich als fehlerhafte Paradiese entpuppen. Niemals wird alles gut werden, irgendetwas liegt immer im Argen.

Nun der zweite Roman "Delphi". Dem Vater, einem Archäologen, folgend, zieht die Familie von Griechenland nach Jerusalem. Während die altkluge Tochter Linda auf die Kleinen mehr oder weniger aufpasst, füllt die Mutter ihre leere Zeit mit Engagement für eine jüdisch-orthodoxe Sekte: aus Susanne wird Schoschana. Die Welt bekommt für sie eine neue, klare Ordnung, es gibt rein und unrein, daneben gibt es nichts.

Wenn Linda hingegen nicht mehr weiter weiß, konsultiert sie das Orakel. Die während ihrer Kindheit in Delphi aufgeschnappten Mythen funktionieren für sie tatsächlich, die Antike ist allgegenwärtig und noch lange nicht vergangen. Ihre kleine Schwester Pepita weiht sie der heiligen Johanna, und manchmal, wenn sie mit ihrem Bruder allein ist, tut sich die Erde auf.

Auch für den Vater tut sich die Erde auf, er allerdings ist eher auf der Suche nach Schichten, in denen er anhand früherer Fundamente den damaligen Stadtverlauf Jerusalems rekonstruieren kann. Ohne greifbaren Beweis nutzt ihm ein Mythos nichts.

Und dann gibt es noch den Großvater Jopie in Butjadingen, der während des Kriegs die Ertrunkenen, die das Meer freigab, auf seinem privaten Friedhof begrub - eigenhändig, denn die oft nicht identifizierbaren Leichen sämtlicher kriegsbeteiligter Nationen hätten ohne lange Bürokratie vermutlich nicht so schnell und einfach beigesetzt werden können.

Die Erzählerin ist die zweitjüngste der Geschwister, auch einfach die Andere genannt, die zwar immer dabei ist, aber niemandes Liebling. Weil man sich nicht um sie kümmert, beobachtet sie die Geschehnisse in der Familie, ohne jemals selbst involviert zu sein. Wie der Vater die Fundamente, legt sie Schritt für Schritt die Erinnerung frei, auch die Erinnerung an Zeiten, die sie selbst noch nicht miterlebt hat. Am Ende ist die Erzählerin nicht mehr da, und ihre Abwesenheit bewirkt mehr, als ihre Anwesenheit je vermocht hätte. Nicht nur für die Familie, auch für diese Geschichte. Denn, so Schwerdtfeger: "Nicht die Lebenden erzählen von den Toten, sondern umgekehrt."

Dieser Kunstgriff ermöglicht eine objektive Erzählweise, ohne auf ein Erzählsubjekt zu verzichten: Für die zweitjüngste Schwester ist die Vergangenheit nun ewige Gegenwart, der Prozess der Erinnerung mit all seinen Fehlern und Lückenhaftigkeiten nicht mehr nötig. Dadurch bekommt der Roman eine seltsame Zeitlosigkeit, alles scheint gleichzeitig zu geschehen, und doch ist es eine stringente Geschichte mit Anfang und Ende, die ein Kinderleben lang dauert und doch nicht von diesem Kinderleben handelt.

Soviel zum Konstrukt, das ein bißchen nach künstlicher Kulisse klingt, sich aber ganz und gar nicht so liest. Man erfährt eine Menge in diesem Buch, begibt sich in fremde Welten und Wirklichkeiten, wundert sich über Details. Und wer aufmerksam liest, findet auch den dezenten, knochentrockenen Humor, der Scherdtfegers Bücher ausmacht.

Titelbild

Malin Schwerdtfeger: Delphi. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004.
296 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3462034022

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