Endkampf gegen das Vergessen

Nationale Identität im Stelenfeld oder Warum die Berliner Republik das Holocaust-Mahnmal braucht

Von Tjark KunstreichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tjark Kunstreich

Am 15. Dezember 2004 wurde die letzte von insgesamt 2.711 Beton-Stelen gesetzt - das Denkmal für die ermordeten Juden Europas einschließlich des "Orts der Information" ist fertig gestellt. Diese unterirdischen Ausstellungsräume, an deren Decke sich das darüberliegende Stelenfeld wiederholt, soll den Besuchern über dessen Sinn Aufschluss geben. Ästhetisch paßt es zwar hervorragend zwischen das Brandenburger Tor und die Vertretungen der Bundesländer in der Hauptstadt, aber es könnte, wäre es nicht schon jetzt berühmt, alles mögliche sein. Als Erfolg kann Architekt Peter Eisenman, der den Bau nach den Wünschen des Bundestags ausführte, in jedem Fall für sich verbuchen, dass das Stelenfeld, weil es sich allzu offensichtlicher Symbolisierung entzieht, als solches schon vor seiner Einweihung im Rahmen der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Befreiung der Deutschen und einiger anderer vom Nazifaschismus am 10. Mai als Symbol gilt.

Von der Westseite sieht das Stelenfeld nicht besonders beeindruckend aus, weil die Stelen nicht eben hoch sind und der Boden zudem abgesenkt wurde. Bäume werden den Blick von dieser Seite, von der die meisten Besucher kommen, verstellen, wohl auch, um Distanz zur viel befahrenen Ebertstraße zu schaffen. Ob kritisch oder lobend behauptet - von der oft genannten Monumentalität ist nicht viel zu spüren, die Stelen wirken im Überblick wie Sarkophage oder wie eine Miniaturstadt. Wenn man nicht schon wüsste, dass es sich um das Denkmal mit dem umständlichen Namen handelt, könnte man womöglich denken, hier befinde sich ein Baustofflager für einen Monumentalbau Albert Speers.

Der Blick von der Behrenstraße aus, Richtung Süden, wo die Vertretungen der Bundesländer stehen, macht schon mehr her. Vor den kubischen Repräsentativbauten sieht das Feld aus wie ein steinerner Vorgarten, weswegen in den Medien selten Aufnahmen aus dieser Perspektive zu sehen sind. Dabei ist es dieser Blickwinkel, der wie kein anderer das Verhältnis der politischen Klasse zum Holocaust-Mahnmal vermittelt: "Die Erinnerung an Krieg und Völkermord im Nationalsozialismus ist Teil unserer gelebten Verfassung geworden. Für manche ist dieser Teil schwer zu ertragen. Aber es ändert nichts daran, dass diese Erinnerung zu unserer nationalen Identität gehört", erklärte Gerhard Schröder auf der Gedenkveranstaltung des Internationalen Auschwitz-Komitees (IAK) zum 60. Jahrestag der Befreiung des Lagers vor Überlebenden und internationalen Gästen am 25. Januar in Berlin. "Die verpflichtende Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen ist Teil unserer moralischen und politischen Identität", sprach Bundespräsident Thierse auf der Gedenkveranstaltung des Bundestags zum Tag der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar. "Meine Damen und Herren, heute stehe ich als neu gewählter Präsident der Bundesrepublik Deutschland vor Ihnen, und ich möchte hier bekräftigen: Die Verantwortung für die Shoa ist Teil der deutschen Identität", verkündete Horst Köhler am 2. Februar vor den Abgeordneten der Knesset in Jerusalem.

Die Stelen sind Bausteine dieser nationalen Identität, an der niemand mehr vorbeikann, das zeigten die Auftritte von Bundeskanzler, -präsident, -tagspräsident und -außenminister rund um den 27. Januar. Eingeleitet wurde die Gedenkwoche, mit der man sich für den 8. Mai warmlief, mit einer Gedenkveranstaltung der UNO in New York am 24. Januar, auf der Joschka Fischer vor halbleerem Saal - es blieben unter anderem zahlreiche islamische Staaten dem Gedenken fern - meinte, die UNO sei der Ort, künftige Völkermorde zu verhindern. Dass Deutschland dabei mitmachen muß, steht für ihn fest, denn "das neue, das demokratische Deutschland hat die Lehren daraus [aus dem Völkermord, T. K.] gezogen", und ist wohl deswegen für einen Sitz im Weltsicherheitsrat besonders geeignet. Wie wahr das ist, zeigten die anderen Redner, deren Diktion sich von der des Deutschen kaum unterschied. Fast keiner von ihnen vergaß, auf andere "Menschenrechtsverletzungen" hinzuweisen, von den kambodschanischen Killing fields über den Kosovo bis nach Ruanda fehlte da nicht viel. Dass Antisemitismus wie selbstverständlich unter die Rassismen subsumiert wird, gehört mittlerweile zum guten Ton. Alle scheinen von den Weltmeistern in Sachen Vergangenheitsbewältigung gelernt zu haben.

Gerade weil das Holocaust-Mahnmal mit seinem Stelenfeld für jede Interpretation offen ist, steht es nicht im Widerspruch zur Verallgemeinerung von Auschwitz, sondern ist ihre betongewordene Verewigung. Aber wie kann überhaupt ein Verbrechen Bestandteil einer nationalen Identität sein? Als der Kanzler auf der Veranstaltung des IAK die Probe aufs Exempel machte, klappte es auf Anhieb. Schröder, der anlässlich der Eröffnung der Flick-Collection vor wenigen Monaten kein Wort über diejenigen verlor, die als Zwangsarbeiter während des Nationalsozialismus den Erbteil erwirtschafteten, mit dem Friedrich Christian Flick sein Mäzenatentum finanziert, erlaubte sich folgende Interpretation: "Meine Damen und Herren, es stimmt: Die Verlockung des Vergessens und des Verdrängens ist sehr groß. Doch wir werden ihr nicht erliegen. Das Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals im Herzen Berlins kann den Opfern weder Leben noch Würde zurückgeben. Den Überlebenden und ihren Nachfahren kann es vielleicht als Symbol ihres Leidens gelten. Uns allen dient es als Signal gegen das Vergessen." Wie ein Knoten im Taschentuch - irgendwann weiß man nicht mehr, woran einen der Knoten erinnern soll. Ob unfreiwillig oder nicht, Schröder räumt ein, man brauche das Mahnmal als Selbstverpflichtung, ansonsten laufe man Gefahr, der lockenden Versuchung zu erliegen. Wieder sind die Deutschen Opfer, wieder kämpfen sie einen heroischen Endkampf.

Die Oberflächlichkeit der Schröder'schen Rede - er spricht im Zusammenhang von Auschwitz von "dem Bösen", was sich dort gezeigt habe - korrespondiert mit der glatten Oberfläche der Stelen, die von einem Degussa-Produkt gegen Graffiti geschützt wird. Von den Plattenbauten aus gesehen, die einstmals unmittelbar hinter der Mauer standen, verliert sich das Stelenfeld im Tiergarten, sieht aus wie ein Teil postmoderner Landschaftsplanung. Zwischen den Landesvertretungen und dem Denkmal befindet sich eine kleine Stichstraße, die den Namen Hannah Arendts trägt und außer dieser Benennung keine Funktion hat. Von dieser Seite aus wird das Stelenfeld am häufigsten gezeigt, im Hintergrund sind das Brandenburger Tor und der Reichstag zu sehen. Das ist die gewünschte Perspektive, sämtliche steingewordenen Symbole der nationalen Identität kommen zur Geltung. Das Brandenburger Tor steht für Teilung und Wiedervereinigung, der Reichstag für die ruhm- und opferreiche Geschichte der deutschen Demokratie und das Stelenfeld zur Erinnerung gegen das Vergessen. Wovon noch gleich?

Mit dem Holocaust-Mahnmal ergibt das Ensemble einen Sinn, indem es Anspruch auf die Deutung der Geschichte erhebt. Diese wird selbstverständlich nicht den Einzelnen überlassen, der "Ort der Information" gibt sie didaktisch vor. Im Foyer soll der "historische Kontext" aufgezeigt, im ersten Raum in "kontemplativer Atmosphäre zeitnahe Selbstzeugnisse von Verfolgten sowie Angaben zu den Opferzahlen in den einzelnen europäischen Ländern unter nationalsozialistischer Herrschaft" präsentiert werden. Im zweiten Raum werden "15 exemplarische Schicksale" beschrieben, um den "Kontrast zwischen dem Leben vor, während und nach Verfolgung, die Zerstörung dieser Kultur sowie den damit verbundenen Verlust" zu veranschaulichen. Raum 3 kreist akustisch und visuell um die Namen der Ermordeten, die israelische Gedenkstätte Yad Vashem stellt dafür die Datenbank mit bislang etwa 3,5 Millionen Namen zur Verfügung, wobei immer nur bis zu vier Namen an die Wände projiziert werden. In Raum 4 geht es um die Orte der Vernichtung, an "Hörstationen" kann man sich "einen Eindruck von den individuellen Erfahrungen der Opfer mit Gewalt und Tod verschaffen". Schließlich wird noch ein Gedenkstättenportal eingerichtet, in dem man sich über "authentische Stätten des Gedenkens" informieren kann. (Alle Zitate finden sich auf www.holocaust-mahnmal.de.)

Die verordnete Kontemplation - man will ja schließlich niemanden zum Gedenken zwingen - trägt die pathetische Aufteilung. Die sachliche Darstellung ist dem Foyer vorbehalten. Raum 1 soll die richtige Stimmung vermitteln (Kontemplation heißt lt. Duden "beschauliches Nachdenken u. geistiges Sichversenken"), Raum 2 Betroffenheit auslösen, Raum 3 den Schrecken individualisieren und Raum 4 denselben spiritualisieren. Anstatt zum Beispiel auf die Nennung von Namen zu verzichten, weil die Ermordeten sie nicht mehr trugen, als sie der Vernichtung anheimfielen, oder der Sinngebung des Massenmords sich zu verweigern, indem man die Frage nach dem Kultur-Verlust gerade nicht stellt, setzen die Initiatoren auf Gedenk-Esoterik - wie anders wäre der Eindruck einer individuellen Todeserfahrung zu vermitteln?

Die Gleichzeitigkeit von Ideenarmut und Betroffenheit, vom Willen zur Geste und der Unfähigkeit dazu, verweist auf eine Bewältigung ohne Begriff. War vor zehn Jahren noch die Zueignung "Den ermordeten Juden Europas" der Versuch, die Dimension der Vernichtung zu thematisieren, spricht sie heute den Stolz auf die europäische Aufarbeitung der Geschichte aus und verschweigt zugleich, dass die Nazis, entgegen ihren Zielen, über Europa nicht hinauskamen. Außerdem sind die Formulierungen, bis auf die Nennung der Juden als Opfer, auf eine Weise austauschbar, dass mit der gleichen Konzeption in jeder größeren Stadt auch ein Denkmal für die Opfer des "Bomben-Holocausts" eingerichtet werden könnte. Deswegen ist der NPD auch nicht vorzuwerfen, dass sie sich diese Begrifflichkeiten zu eigen macht. Sie spielt im nationalen Gedenktheater den dringend benötigten Buhmann.

Am "Ort der Information" soll es zudem um andere "Opfergruppen" gehen, ein kleines Zugeständnis an jene Minderheit, die gefordert hatte, es solle ein Denkmal für alle Nazi-Opfer geben. Henryk M. Broder etwa lehnte es ab, die Hierarchisierung, die durch die Nazis vorgenommen wurde, zu übernehmen: "Es bedeutete, daß die Sonderbehandlung fortgesetzt wurde, diesmal mit positiven Vorzeichen" ("Jüdische Allgemeine"). Vor allem jedoch hätte die Widmung des Denkmals für alle Ermordeten deren größte Gemeinsamkeit hervorgehoben - ihre Mörder.

Vom Holocaust-Mahnmal aus ist es nur ein kurzer Weg zur "Topographie des Terrors", jener Freiluftausstellung mit Info-Container auf dem Gelände der einstigen Zentralen von SS, Gestapo und Reichssicherheitshauptamt, vorbei am ersten Großprojekt der Nazis, Görings 1935 fertig gestelltem Reichsluftfahrtministerium, dem nach wie vor größten Gebäude der Gegend, in dem sich heute das Bundesfinanzministerium befindet. Ursprünglich sollte das Denkmal für die ermordeten Juden Europas hier entstehen, im Schatten des Gropiusbaus und einem letzten Mauerrest, der heute die Ausstellung schützt. Der Blick vom Gropiusbau nach Osten offenbart, weshalb das Denkmal hier nicht entstehen konnte: Görings Bau würde es überragen, egal, wie monumental es angelegt wäre.

Das "Böse", das "Unfassbare", von der politischen Führung gerne im Munde geführt, wäre allerdings an dieser Stelle durchaus fassbar. Es ist die Distanz zu den historischen Tatorten, die die Abstraktion geradezu verlangt. Deshalb vor allem hat man sich zu ihr entschlossen. Denn nur so kann ein Verbrechen zum Bestandteil "nationaler Identität" werden. Am Tag von Köhlers Rede in der Knesset wurde bekannt, dass Deutschland die Lieferung von Panzerfahrzeugen an Israel verhindern wird. Wenige Tage später forderte der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, der deutsche General Kujat, einen Einsatz im Nahen Osten, natürlich mit deutscher Beteiligung. Die deutsche Geschichte sei kein Hindernis, sondern "geradezu die Herausforderung" dazu ("FAZ"). Um sie zu bewältigen, braucht Deutschland sein Holocaust-Mahnmal.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zuerst in "konkret" 03/2005. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.