Literatur der Moderne nach dem Ende des Krieges

Erinnerungen an den Existenzialismus der fünfziger Jahre in Frankreich und Deutschland - aus Anlass von Sartres 100. Geburtstag

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Für Deutschland war, ähnlich wie für Japan, das Kriegsende eine einschneidendere Zäsur als für die meisten anderen Länder. Mit dem Krieg endete in Deutschland die nationalsozialistische Diktatur, in der die Literatur unter dem Verdikt der "Entartung" über zehn Jahre lang von den internationalen Entwicklungen der literarischen Moderne isoliert oder ins Exil getrieben worden war.

Ein bedeutender Teil der Weltliteratur entstand jedoch auch noch nach 1945 im Exil. Denn die Kontinuität totalitärer Herrschaft brach in vielen anderen Ländern noch lange nicht ab. Der Kolumbianer Gabriele García Márquez lebte, bevor der meistgelesene Roman der lateinamerikanischen Literatur, "Hundert Jahre Einsamkeit" (1967), erschien, in New York und in Mexiko, danach in Barcelona. Als 1955 Vladimir Nabokows Roman "Lolita", der, in über zwanzig Sprachen übersetzt, zu einem internationalen Klassiker der Moderne wurde, in Paris erschien, lebte der gebürtige Russe, der 1919 emigriert war, in den USA, später in der Schweiz. Neben Amerika ist vor allem Frankreich nach 1945 zum Fluchtort zahlloser Exilautoren geworden. In Paris, dem Knotenpunkt internationaler Vernetzungen des literarischen Lebens, einem Zentrum auch der spanischen, lateinamerikanischen und osteuropäischen Gegenwartsliteratur, lebte seit 1948 der in Czernowitz geborene Paul Celan, der unter dem Druck des Stalinismus Rumänien verlassen hatte.

In Paris arbeitete auch der Argentinier Julio Cortázar. Der erste Teil seines Romans "Rayuella" (1963), der der lateinamerikanischen Literatur zum internationalen Duchbruch verhalf, spielt im Pariser Existenzialistenmilieu der 50er Jahre und zeigt sich in seiner Auseinandersetzung mit krisenhaften, doch zugleich auch befreienden Erfahrungen des "Absurden" selbst vom Existenzialismus geprägt. Mit engen Verflechtungen von Literatur und Philosophie hatte der Existenzialismus nach 1945, von Paris ausgehend, bis in die 60er Jahre hinein eine weltweite Ausstrahlungskraft mit unterschiedlichen Ausprägungen. Repräsentiert vor allen von Jean Paul Sartre und Albert Camus, war er die beherrschende geistige Kraft in der Nachkriegsliteratur und wurde in den Intellektuellen- und Bohemekreisen der europäischen Metropolen trotz der individualistischen Selbsteinschätzung rasch zur kollektiven Mode. Man trug sie, mit dem Jargon einschlägiger Begriffe bis hin zur schwarzen Kleidung, in einer Mischung von melancholischer und anarchischer Gestimmtheit demonstrativ zur Schau. Angeregt von den im Kontext der literarischen Moderne entstandenen oder intensiv rezipierten Philosophien Sören Kierkegaards, Friedrich Nietzsches, Edmund Husserls und vor allem Martin Heideggers sowie der Psychoanalyse Sigmund Freuds, artikulierte der Existenzialismus, der schon mit dem Titel seiner maßgeblichen Zeitschrift "Les Temps Modernes" seinen Anspruch auf Modernität erhob, eine Stimmung der Ungeborgenheit in einer unheimlichen, rätselhaften und fremden Welt, der Geworfenheit in eine absurde, d.h. widersinnige, der menschlichen Logik widerstreitende Wirklichkeit, der Konfrontation mit Tod, Scheitern und Schuld, des Ekels, der Vereinzelung und der Angst. Im Verlust tradierter Sinngebungen und Orientierungsmuster sieht das Subjekt sich zurückverwiesen auf die eigentliche Substanz des eigenen Seins: die Existenz.

Der Verlust metaphysischen und sozialen Halts, der eine Reaktion auf die beschleunigten Modernisierungsprozesse im 20. Jahrhundert war und sich mit den Desillusionierungen angesichts totalitärer Ideologien verstärkte, bedeutete dabei zugleich auch eine Befreiung von falschen, den Erfahrungen des Absurden ausweichenden Denk- und Glaubensmustern zu einer spezifisch menschlichen Würde. Sie besteht nach Camus' einflussreichem Essay "Der Mythos von Sisyphos" (1943) in einer Haltung, die aus der erkannten Sinnwidrigkeit des Lebens nicht etwa die Konsequenz des Selbstmords zieht, sondern ihr ein heroisches Dennoch entgegensetzt. Sisyphos ist dazu verurteilt, unablässig einen Felsblock den Berg hinaufwälzen, von dessen Gipfel der Stein wieder hinunterrollt. Denn die Götter "hatten mit einiger Berechtigung bedacht, daß es keine fürchterlichere Strafe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit." In Camus' Version ist Sisyphos ein tragischer Held und ewiger Rebell, der der Absurdität seiner Existenz bewusst standhält, sich mit selbstbewusster Verachtung über sein Schicksal erhebt, es sich zu eigen macht und damit den Göttern enteignet. "Der Kampf gegen den Gipfel", so endet der Essay, "vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." In dem 1947 erschienen Roman "Die Pest" erscheint Sisyphos in veränderter Gestalt. Der Protagonist im Kampf gegen die Seuche, von der eine Stadt an der algerischen Küste heimgesucht wird und die dabei als Metapher für die Schrecken des 20. Jahrhunderts fungiert, ist Arzt. An die Stelle einer individualistischen, selbstbezogenen Revolte gegen das Absurde ist eine Form des Widerstands getreten, die sich mit dem Leiden der anderen solidarisiert. Das Ethos der Rebellion wird in der Metapher des Arztes zum Ethos humanen Engagements, das der wiederkehrenden "Herrschaft des Schreckens" trotzt. Der Roman, der weltweite Resonanz fand, stilisiert sich am Ende selbst zum "Zeugnis" dessen, was alle jene bewundernswerten "Menschen vollbringen müssen, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen die Herrschaft des Schreckens und seine unermüdliche Waffe ankämpfen, die Heimsuchungen nicht anerkennen wollen, keine Heiligen sein können und sich dennoch bemühen, Ärzte zu sein."

Nach Sartre steht der seiner eigentlichen Existenz entfremdete Mensch einerseits in lähmender Abhängigkeit von vorgegebenen Umständen, insbesondere vom "Blick des Anderen", in dem er die eigene Identität zu spiegeln gezwungen ist und der ihm das Leben zur Hölle machen kann. Die "Hölle, das sind die anderen", lautet eine Art Resümee von Sartres berühmtem Einakter "Bei geschlossenen Türen" (1945), in dem drei Personen in einem spiegellosen Raum einander im Kampf um Anerkennung ihrer Selbsteinschätzung ausgeliefert sind. Andererseits jedoch ist der Mensch in jeder vorgefundenen Situation dazu befähigt, ja sogar gezwungen, sich zu entscheiden, wie weit er sie für sich und sein zukünftiges Handeln akzeptiert oder negiert. Er ist zur Freiheit der Wahl "verdammt", er muss sich in jedem Moment neu im Hinblick auf zukünftige Möglichkeiten entwerfen. In Sartres philosophischem Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" (1943) steht der Satz: "es gibt keinen Unterschied zwischen dem Sein des Menschen und seinem Freisein." Entscheidend ist nach Sartre nicht, "was man aus dem Menschen gemacht hat, sondern was er aus dem macht, was man aus ihm gemacht hat." Diese Freiheit ist auch belastend, weil der einzelne damit vollkommen verantwortlich für sein Leben ist, die Schuld für ein mögliches Scheitern selbst trägt, ständig in der Angst existieren muss, falsch zu wählen. Erst in dieser Angst indes wird der Mensch sich seiner Freiheit bewusst.

Die existenzialistische Philosophie des Absurden inspirierte in den 50er Jahren das "Absurde Theater", das, anders als die Stücke von Camus oder Sartre, aus der Negation tradierter Sinnorientierungen die formalen Konsequenzen zog. "Die kahle Sängerin", das 1950 in Paris uraufgeführte "Anti-Stück" in zwölf Szenen des rumänisch-französischen Autors Eugen Ionesco, entzieht den Dialogen zwischen den indifferent nebeneinander lebenden Ehepartnern die kommunikative Bedeutung. Das Sprechen wird zur Farce, die Banalitäten und Gemeinplätze der alltäglichen Rede schlagen durch parodistische Übertreibungen in groteske Komik um. Die sprachlichen Zeichen werden tendenziell zu bedeutungsleeren Geräuschen. Die psychologische Motivierung des Verhaltens fehlt dem "Absurden Theater" ebenso wie ein strukturierter Handlungsverlauf. An ihre Stelle treten die Inszenierungen ritualisierter Abläufe, in sich kreisender Wiederholungen oder zur Eskalation treibender Geschehensrhythmen. In der Vorbemerkung zu seinem 1952 ebenfalls in Paris uraufgeführten Einakter "Die Stühle", neben "Die Nashörner" (1959) eines seiner bekanntesten Stücke, beschreibt Ionesco seine Figuren als "Gestalten, die im Unzusammenhängenden umherirren und die nichts ihr eigen nennen außer ihrer Angst, ihrer Reue, ihrem Versagen, der Leere ihre Lebens." Solche Figuren "können nur grotesk erscheinen". Jedes Verstehen und Erklären erweise sich da sogar für den Autor selbst als unmöglich: "Wie könnte ich, da die Welt mir unverständlich bleibt, mein eigenes Stück verstehen? Ich warte, daß man es mir erklärt." Das Warten auf die fehlende Sinngebung ist charakteristisches Kennzeichen des "Absurden Theaters". In dem 1953 in Paris uraufgeführten Stück "Warten auf Godot", das zu einem der größten Theatererfolge der Nachkriegszeit wurde, unternahm der irische, in englischer und französischer Sprache schreibende Autor Samuel Beckett, der sich 1937 in Frankreich niedergelassen hatte, den paradoxen Versuch, die Statik des vergeblichen Wartens und der Langeweile zu dramatisieren. Hatte Camus den vergeblich wiederholten Anstrengungen seines Sisyphos noch heroischen Ernst zugeschrieben, so setzt Becketts Stück gleich zu Beginn vergleichbare Bemühungen in clowneske Belanglosigkeit um. Die wiederholten Versuchen des Landstreichers Wladimir, sich die Schuhe auszuziehen, enden in dem Eingeständnis, mit dem der Dialog beginnt und zugleich schon ein Resümee des ganzen Textes ausgesprochen ist: "Nichts zu machen." Mit dem absurden Theater, das in Becketts "Endspiel" (1957) seine wohl radikalste Ausformung findet, kippt der tragische und erhabene Ton des Existenzialismus ins Tragikomische um. Unter dem Einfluss Kafkas und Becketts entstanden die schwarzen "Komödien der Bedrohung" des englischen Dramatikers Harold Pinter, dessen 1958 uraufgeführtes Stück "Die Geburtstagsparty" dem Autor internationales Ansehen verschaffte. In der deutschsprachigen Literatur sind es zunächst Wolfgang Hildesheimer, der 1960 in seiner "Rede über das absurde Theater" dieses "eine Parabel über die Fremdheit des Menschen in der Welt" nannte, und vor allem Friedrich Dürrenmatt, später auch Thomas Bernhard, die, vom Existenzialismus geprägt, dem Absurden grotesk-komische Aspekte abgewinnen. Friedrich Dürrenmatts tragische Komödie "Der Besuch der alten Dame" (1956) und seine im Irrenhaus spielende Komödie "Die Physiker" (1962), die auf dem Hintergrund kollektiver Ängste vor einer Atomkatastrophe ausmalt, wie sich eine verrückte Irrenärztin das zerstörerische Potential physikalischen Wissens aneignet, sind von einer Komödientheorie begleitet, die ihrerseits auf einem unverkennbar existenzialistisch geprägten Credo basiert: "Die Welt steht für mich als ein Ungeheures da, als ein Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muß, vor dem es jedoch kein Kapitulieren geben darf." Einer sinn- und vernunftwidrigen Welt, die mehr durch den Zufall bestimmt ist als durch ethisch verantwortliches Handeln, ist nach Dürrenmatt nur noch durch die Komödie beizukommen. Im Scheitern verantwortlichen Handelns und in katastrophalen Grenzsituationen vermag sich so etwas wie Wahrheit offenbaren.

Der Verzicht auf psychologische Motivierung des Figurenverhaltens, auf handlungstragende "Helden" und Gegenspieler, die Aufhebung zeitlich linearer Geschehensabläufe, der Entzug von Sinnangeboten wurden analog und zeitgleich zum absurden Theater auch zu Kennzeichen des Nouveau Roman, durchgesetzt und repräsentiert von Autoren wie Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet, Michel Butor oder auch Beckett (mit seiner Romantrilogie "Molloy", "Malone stirbt" und "Der Namenlose". Sarrautes "Portrait eines Unbekannten" (1948), von Sartre in seinem Vorwort als "Anti-Roman" bezeichnet, legte die existenzialistische Problematik des vom Blick des Anderen zum Objekt reduzierten Subjekts gleichsam unters Mikroskop, registrierte "Tropismen", d.h. winzige vorbewusste Reaktionen auf Reize, die von der Umwelt auf den einzelnen ausgehen.

Nicht weniger als in die französische Literatur hat sich der Existenzialismus in die deutschsprachige Literatur der Nachkriegszeit eingeschrieben. Konfrontationen mit persönlichen oder kollektiven Katastrophen in "Grenzsituationen" (ein Begriff von Karl Jaspers), zu denen vor allem Erfahrungen des alle überkommenen Sinngebungen in Frage stellenden Todes gehören, soziale Außenseiterfiguren, meist scheiternde Aufbrüche aus vertrauten, jedoch fragwürdigen Gewohn- und Sicherheiten in die freie Ungewissheit "eigentlicher" Existenz prägten die Themen, Motive und Handlungsmuster zahlloser Werke. "Die Stadt hinter dem Strom", die der Orientalist Dr. Robert Lindhoff in Hermann Kasacks 1947 enthusiastisch aufgenommenen Roman bereist, ist ein unheimliches, sinnentleertes Zwischenreich der Gestorbenen, das als Bild der Agonie im Deutschland der letzten Kriegsjahren gelesen wurde. Ebenfalls 1947 erschien Hans Erich Nossacks Roman "Nekya", zu deutsch "Totenopfer". Dieser "Bericht eines Überlebenden", so der Untertitel, aus einer leblosen, menschenverlassenen Stadt, bezog sich auf die Zerstörung Hamburgs im Juni 1943, die der Autor aus der Nähe miterlebt hatte und die ihn zum Bruch mit seiner Vergangenheit veranlasste. Der Roman Kasacks und der Nossacks evozieren am Ende die Hoffnung auf einen kollektiven Neuanfang.

In den fünfziger Jahren bekommen die geschilderten Aufbrüche in den vom Existenzialismus geprägten Werken eher privaten Charakter. In Nossacks Roman "Spätestens im November" (1955) verlässt die Frau eines Geschäftsmannes ihren gesicherten Lebensbereich und geht mit einem jungen Schriftsteller einer ungesicherten Zukunft entgegen. Die neue Beziehung scheitert, doch nach dem Muster von Sartres Drehbuch "Das Spiel ist aus" (1947) versucht die Frau (wiederum vergeblich) ein zweites Mal, diese Liebe zu realisieren. Die Angst vor den Wiederholungszwängen im eigenen Verhalten, vor den Bildern, mit denen andere die eigene Identität fixieren, sowie die Schuld bei den Versuchen, sich den Ansprüchen der anderen zu entziehen, prägt das gesamte Werk Max Frischs - von dem "Tagebuch 1946-1949" bis hin zu dem Theaterstück "Triptychon" (1978), in dem die Unterhaltungen der Toten am industrieverseuchten Fluss der Unterwelt sich in monotonen Wiederholungen erschöpfen und der Tod dabei zum Bild einer wandlungsunfähigen Existenz wird. In seinem 1954 erschienenen Roman "Stiller" wehrt sich die Titelfigur, die nach der Flucht vor zwei Frauen in die Schweiz unter falschem Namen zurückgekehrt ist, gegen die Festlegung seiner Identität mit dem berühmten Satz seiner Gefängnisaufzeichnungen, der den Roman eröffnet: "Ich bin nicht Stiller!" Dem Satz ist bezeichnenderweise ein Motto von Kierkegaard vorangestellt, das die Schwierigkeit, sich selbst frei zu wählen, thematisiert.

Die Nachwirkungen des Existenzialismus reichen im deutschsprachigen Raum weit über die fünfziger und sechziger Jahre hinaus. Ingeborg Bachmann, die 1949 in ihrer Dissertation zur philosophischen Heidegger-Rezeption die Unzulänglichkeiten einer Philosophie der Angst kritisierte und ihr am Beispiel eines Sonetts von Baudelaire programmatisch eine Literatur der Angst entgegensetzte, erzählt in ihrem späten Todesarten-Zyklus von vielfältigen Angstarten. Und auch in Thomas Bernhards Werken bleiben seit seinen Romanen "Frost" (1963) und "Das Kalkwerk" (1970) die renitenten, doch oft scheiternden Anstrengungen der verrückten und kranken Protagonisten, sich gegenüber ichfremden, "uneigentlichen" Rollen- und Naturzwängen selbst zu behaupten, bis hin zum opus magnum "Auslöschung" (1986) kennzeichnend.

Im Existenzialismus vereinten sich die neuzeitlichen Autonomieansprüche des Subjekts mit Erfahrungen komplexer Abhängigkeiten und bedrohlicher Katastrophen. In den letzten Kriegs- und in den ersten Nachkriegsjahren entsprach die existenzialistische Suggestion, in jedem Augenblick neu entscheiden, in jeder Situation das Vorgegebene im Hinblick auf neue Selbstentwürfe negieren zu können, kollektiven Bedürfnissen in einer historischen Situation, in der der Krieg von vielen als übermächtige und undurchschaubare Katastrophe empfunden wurde, in der man nach einem Neuanfang suchte und bereit war, sich unabhängig von alten, fragwürdig gewordenen Sinnangeboten aktiv zu engagieren.