(Post-)Moderne Sprachwirbel im Dienste einer Ästhetik der Erlösung

Zum Abschluss der Werkausgabe von Kuno Raeber (1922-1992)

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vierte Band der Kuno Raeber-Werkausgabe präsentiert das Spätwerk des 1992 verstorbenen deutsch-schweizer Autors. Er enthält das Drama "Bocksweg", das im Untertitel als "Mysterium" klassifiziert wird, den Roman "Wirbel im Abfluß", der 1989 bei seinem ersten Erscheinen den Titel "Sacco di Roma" trug, und den nachgelassenen Roman "Bilder Bilder".

"Bocksweg", dessen Inhalt in 12 Bilder untergliedert ist, besteht vor allem aus Reflexionen über die verschiedenen Aspekte des Opfers. Der Akt des Opferns bezeichnet eine für Raebers Spätwerk zentrale Handlung. Dabei wird in "Bocksweg" das Einverständnis zwischen Opferndem und Opfer in der ,Komplizenschaft' zwischen Räderer und Gerädertem auf die Spitze getrieben. Die Opferung erscheint aus beider Perspektive als ein Vorgang der Reinigung, genauer: als Dekompositionsvorgang, der durch die Beseitigung der fleischlichen Existenz zur ,Vollendung' und damit in eine höhere Daseinsform führe. Das Opfer wird von Raeber derart in eine soteriologische Dimension gerückt. Als Erlösungsakt erinnert es an die begeisterten Erzählungen des Offiziers von den verklärten Gesichtern der Hingerichteten in Kafkas "In der Strafkolonie". Bei Raeber mündet das Opferritual indes nicht in einer Art Entbindung des Geists von den Beschränktheiten der stofflichen Existenz, sondern in der Herstellung einer gereinigten, d.h. dekarnierten Reliquie. Wenn der Geopferte in "Bocksweg" am Ende auf einem Rost hereingetragen und in einem festlichen Autodafé verbrannt wird, so verweist dies auf die Gestalt des Märtyrers Laurentius, die zu einer Art poetologischem Alter Ego Raebers avancierte.

Die Geschichte des Märtyrers Laurentius bildet gewissermaßen den historischen Sockel für die sich überlagernden Handlungsschichten in Raebers Roman "Wirbel im Abfluß". Als Achse durch die Jahrhunderte dient der 10. August, an dem Laurentius im Jahr 255 verbrannt wurde, 1557 der spanische Habsburger Philipp II den französischen König Heinrich II schlug und 1792 die Tuilerien erstürmt wurden. Der Übergang von einer Ebene auf die andere wird möglich durch eine Verräumlichung der Zeit. Als Raummodell fungiert die kreisende, spiralige Bewegung ablaufenden Wassers. Der Roman setzt mit diesem Bild, das zugleich das Erzählverfahren illustriert, ein: "Das Wasser, kaum daß du den Pfropfen herausziehst, fließt aus der Wanne, langsam erst und dann schneller und schneller, den Abfluß hinunter, [...] die Spiele des Schaums, seine Kapriolen im Abfluß, einmal dicht, einmal dünner, die Tempowechsel im Zurückweichen und in der Annäherung, immer dramatisch, Adagio, Crescendo, Presto, Molto Presto, Diminuendo und Presto wieder von vorn, das ist spannend zu sehen, [...] wie sich eins aus dem andern ergibt, Streit und Versöhnung, Trennung, Umarmung, Widerstand und Ergebung, der Sacco di Roma, der Brand im Borgo wirbeln hinab." Diese Bewegung fasst Raeber nun als Modell historischer 'Abläufe' auf: Aus dem Wirbel im Abfluss wird der Geschichtswirbel, wie er sich exemplarisch im Abflussstutzen der Engelsburg ablesen lässt. Die Engelsburg eignet sich besonders gut, weil sie im Verlauf ihrer Existenz diverse Metamorphosen erlebt und u.a. als Grabmal, Speicher, Kaserne, Gefängnis und Schatzhaus fungiert hat.

Die mit diesen Zeitringen korrespondierende räumliche Figur ist die Spirale. Da sie quasi aus den aufeinander liegenden Jahresringen besteht, ist sie eine offene unabgeschlossene Form. Raeber hat daraus die radikale erzähltechnische Konsequenz gezogen, den gesamten Roman als einen unabgeschlossenen Satz zu schreiben. Dieser einzige Satz ist eine spiralige Rampe, auf der man sich in beide Richtungen bewegen kann. Die Bewegung wird von Raebers Sprache genau nachgebildet, indem sie in Spiralen, Varianten, Paraphrasen, Arabesken und Strudeln kreiselnd vor- und zurückschreitet. Von der Erzählstruktur her ähnelt "Wirbel im Abfluß" am ehesten Raebers "Alexius"-Roman von 1973. Waren dort Alexius und die Katze die Brennpunkte einer elliptischen Erzählkonstruktion, so sind es in "Wirbel im Abfluß" ein anonym bleibender Erzähler - eine zeitlose Herrscherfigur - und Zazibao, ein kleiner seidenhaariger Rhombus mit einem Scheibengesicht. Zazibao bewegt sich die Rampe hinauf und hinunter, betritt unterwegs diesen und jenen Gedächtnisspeicher und stiftet dadurch Bezüge zwischen verschiedenen geschichtlichen Ebenen. Raeber will auf diese Weise einen Zusammenhang zeigen, der auf eine Einheit in allem aufmerksam macht.

Der nachgelassene Roman "Bilder Bilder", der 1994 erstmals erschien, knüpft an diese Konzeption und die erzählerische Struktur an. In zweierlei Richtung wird dabei das Spiegelungsverfahren erweitert. Den Figuren aus dem alten und neuen Testament gesellen sich nun im mittleren Teil noch Göttergestalten aus dem alten Ägypten, die sich zudem in Personen reinkarnieren, die der Gegenwartsebene angehören. Zu dieser Interkulturalität tritt noch eine Intermedialität, insofern die Protagonistin des ersten Teils einem Bild entstammt, das sie auf der Suche nach ihrer Erinnerung verlassen hat. Die bildlichen Darstellungen von Christi Schweißtuch und dem abgetrennten Haupt von Johannes dem Täufer liefern die rekurrierenden Motive dieser Wanderung, die in Form einer Metempsychose gestaltet ist. "Bilder Bilder" erscheint als konsequente Fortsetzung von Raebers erzählerischer Entwicklung, insofern hier nicht ,nur' die Grenzen von Zeit und Raum, sondern auch diejenigen zwischen Kunst und Wirklichkeit aufgesprengt sind. Dem ,Weltgedicht', dem sein Schreiben zustrebte, wird damit auch die Kunstwelt inkorporiert.

Der abschließende fünfte Band bietet ,Essays und kleine Schriften', unter denen sich auch zahlreiche ungedruckte Texte befinden. Raeber hat seine freie Autorenexistenz vor allem durch kritische und journalistische Auftragsarbeiten für Printmedien, Verlage und Rundfunkanstalten finanziert. Aus diesem umfangreichen Material haben die Herausgeber ihre Auswahl getroffen und in den fünf Abteilungen ,Persönliches', ,Zeitgenossen', ,Vergangenheit', ,Die Schweiz' und ,Reisebilder' angeordnet.

In der ersten Abteilung liefern die drei kurzen Aufsätze "Die königlichen Abbilder" mit ihrer eingehenden Betrachtung eines Bildes von Velázquez sowie "Der Tempel von Edfu" und "Lebenslange Reise nach Ägypten" mit ihren Schilderungen ägyptischer Architektur und Totenkulte aufschlussreiche Hintergründe für den Handlungsraum und die künstlerische Vorstellungswelt im Roman "Bilder Bilder". Natürlich sind in dieser Abteilung auch die beiden vielleicht wichtigsten ästhetischen Standortbestimmungen Raebers, "Meine Geschichte mit der Kirche" und die "Rede an Yvonne Böhler", aufgenommen worden. In ihnen tritt am klarsten Raebers Intention zu Tage, mit seinem Werk ein ästhetisches Analogon zum geistigen Reich der katholischen Kirche zu schaffen, eine Art ,Weltgedicht', das noch die widersprüchlichsten Phänomene der Wirklichkeit in die harmonische Architektur seiner Sprache zu integrieren vermag. Man mag unter diesem Aspekt bedauern, dass Interviews mit Raeber keine Aufnahme gefunden haben.

Die umfangreichste und interessanteste Abteilung ist die zu den Zeitgenossen. Dabei sind die von dem Wahlrömer Raeber in Rom geführten Interviews mit bekannten Literaten wie Ingeborg Bachmann, Max Frisch und Uwe Johnson eher unergiebig, hingegen seine Portraits von Borges, Ernst Jünger und Thomas Mann erhellend für das eigene schriftstellerische Selbstverständnis. An Borges betont Raeber vor allem seine geschichtsübergreifende Perspektive, seinen zeitenthobenen Blick aus einem Elfenbeinturm, der mehr Übersicht gewährt als die zeitverhaftete Sehweise des engagierten Autors. An Ernst Jünger fasziniert Raeber der Umschlag seines gesteigerten Nationalismus in den Entwurf eines Weltstaates und seine romantische und aufklärerische Traditionen verschmelzende Geistigkeit, die sich in luziden Traumbildern manifestiere. Thomas Mann schließlich hat schon dem jungen Kuno Raeber mit Gestalten wie Tonio Kröger oder Gustav Aschenbach Modelle eines Künstlertypus geliefert, die für ihn vorbildlich wurden. Besondere Affinität zu Mann verspürt Raeber auch wegen dessen künstlerischer Leistung, moderne Erzählweisen mit einer Vervollkommnung klassischer Sprache zu synthetisieren.

Das ,Filetstück' dieser Abteilung ist sicherlich der lange Radio-Essay über "Die Bekehrung Salvador Dalís" von 1961. Geschickt entwickelt Raeber hier mittels zahlreicher Anekdoten aus Dalís Autobiografie das Portrait einer Künstlergestalt, die ihn gleichzeitig als extremen Individualisten wie als Repräsentanten seiner Epoche erscheinen lässt. Raeber argumentiert auch hier sowohl auf der biografischen wie ästhetischen Ebene dialektisch. Er stilisiert Dalí zum Vollender der individualistischen Epoche, der eine Moral höherer Ordnung vertrete. Sein solipsistischer Habitus resultiere aus der Dissoziation aller moralischen Wertsysteme, so dass sich ihre einzelnen Elemente jenseits von Gut und Böse verselbstständigt hätten und frei kombinierbar geworden seien. Diese Konstellation wiederholt sich für Raeber auch in Dalís Ästhetik. Seine surrealistische Bildsprache schaffe eine höhere Ordnung, in welcher die membra disiecta einer zerfallenen Wirklichkeit in die Wesenseinheit ihrer ästhetischen Durchformung reintegriert werden. Diesen künstlerischen Transformationsprozess verknüpft Raeber mit Dalís ,Bekehrung', d.h. der Versöhnung seiner phantastisch-subjektiven Weltanschauung mit der katholischen Orthodoxie. Man sieht hier sehr schön, wie Raeber (bereits 1961!) im Portrait Dalís die eigene geistige und künstlerische Physiognomie zeichnet. Wenn er Dalís Gestalt und Schaffen als Mischung aus Modernität und Archaismus, Ordnungsliebe und Anarchie, schamloser Direktheit und metaphysischer Abstraktheit charakterisiert, so benennt er zugleich wesentliche Ambivalenzen beziehungsweise Polaritäten der eigenen Existenz und literarischen Praxis.

Die übrigen drei Abteilungen sind rasch abzuhandeln. In der dritten, ,Vergangenheit', hält der längere Aufsatz "Die deutschen Intellektuellen und das Reich Gottes" leider nicht, was der Titel verspricht. Raeber überträgt hier Beobachtungen aus seiner Sebastian Franck-Dissertation auf die 60er Jahre und stellt eine Analogie zwischen den Spiritualisten des 16. Jahrhunderts und den engagierten Autoren der Gegenwart fest, insofern beide mit der Aporie zu kämpfen haben, das Credo revolutionärer Praxis in einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten, die sie selbst für veränderungsresistent halten.

Die Beiträge zur Schweiz umkreisen das Verhältnis von Dialekt und Hochsprache und lassen sich in ihren autobiografischen Teilen als Fragmente eines geplanten Rechenschaftsberichts mit dem Titel "Meine Geschichte mit der Schweiz" lesen. Die ,Reisebilder' schließen mit einer Betrachtung zum Thema "Venedig in der Literatur", die in einer letzten dialektischen Volte die Mutation von Venedig zu einer ästhetischen Chiffre zeigt.

Mit der von Christiane Wyrwa und Matthias Klein herausgegebenen und kenntnisreich kommentierten Ausgabe der "Werke in 5 Bänden" liegt nun Raebers literarisches und kritisches Oeuvre in umfassender und gut zugänglicher Form vor. Bleibt zu wünschen, dass sich eine Leserschaft für dieses Werk findet und nicht zuletzt die Literaturwissenschaft sich dieses Autors, an dem wesentliche Tendenzen der (post-)modernen Literatur des 20. Jahrhunderts zu studieren sind, in gebührender Weise annimmt.

Titelbild

Kuno Raeber: Werke in 5 Bänden. Band 4: Romane und Dramen. Bocksweg. Wirbel im Abfluß. Bilder Bilder.
Herausgegeben von Christiane Wyra und Matthias Klein.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2004.
624 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3312003016

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Titelbild

Kuno Raeber: Werke in 5 Bänden. Band 5: Essays und kleine Schriften.
Herausgegeben von Christiane Wyrwa und Matthias Klein.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2004.
408 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3312003024

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