Wozu Moral?

Christoph Fehige begründet die Moral neu

Von Harald StückerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Harald Stücker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer schon war das große Problem der Ethik die Begründung: Warum überhaupt moralisch handeln? Eine Handlung zu begründen, kann doch höchstens heißen, nachzuweisen, dass sie vernünftig, sprich: für den Handelnden nützlich ist. Und schließen Vernunft und Moral einander nicht aus? Religiöse Ethiken scheinen es da auf den ersten Blick einfach zu haben. Über den Jenseitsjoker zaubern sie die Moral in die Vernunft hinein. Aber so wird die Moral zum Mittel für einen ganz anderen Zweck. Und wer weiß, vielleicht gibt es ja auch noch ein anderes, preiswerteres Mittel für den gleichen Zweck? Solche Überlegungen führen direkt zum Ablasshandel. Wie also kann die Moral als Zweck begründet werden?

In der nicht-religiösen Ethik herrschen vor allem zwei Begründungswege vor: der deduktiv-rationalistische über Prinzipien der Vernunft und der eher induktiv-empiristische Weg über die Erfüllung von Wünschen. Der erste Weg bringt vor allem Pflichten und Maximen hervor, welche die Vernunft unmittelbar erkennen soll und die so als Gründe fungieren. Der zweite Weg bewertet Handlungen danach, ob und wie viele Wünsche durch sie erfüllt oder frustriert werden. Oft ist dabei das Mitleid diejenige Instanz, die dem Handelnden seine Gründe gibt, moralisch zu handeln. Beide Wege standen sich bislang unvereinbar gegenüber. Kant hielt die "Neigungen" für vollkommen ungeeignet zur Moralbegründung, eben weil sie zufällig, unbeständig und vor allem nicht aus der Vernunft heraus a priori zu begründen seien. Mitleidsethiker kritisierten hingegen an der kantischen Vernunftethik, dass sie damit die eigentliche Triebfeder der Moral außen vor lasse.

Christoph Fehige bringt nun mit "Soll ich?" die beiden Kontrahenten zusammen. Worum es geht, ist in unnachahmlich prägnanter Weise auf dem Buchrücken skizziert: "Alle wünschen, dass alle glücklich sind. Erwiese sich diese These als wahr, so hätten alle einen Grund, das Glück aller zu sichern. Das wäre schön." In der Tat. Aber was heißt das genauer?

Wenn ich mir deine Freude oder dein Leid "vollständig, lebhaft und korrekt" repräsentiere, dann freue ich mich oder leide ebenso. Dies gelte a priori, d. h. unabhängig davon, wie es in der Welt tatsächlich aussieht. Bei der Konstruktion seines Arguments macht sich Fehige die Tatsache zu Nutze, dass die Repräsentation eines Sachverhalts die Repräsentation von Komponenten dieses Sachverhalts enthält, und er argumentiert dafür, dass elementare Bewusstseinszustände am besten durch sich selbst repräsentiert werden. Konkret bedeutet das: Meine Vorstellung, wie es für dich ist, gefoltert zu werden, hätte die Vorstellung zu umfassen, wie es ist, gefoltert zu werden; diese Vorstellung wiederum hätte das Gefühl zu involvieren, gefoltert zu werden. Da dieses Gefühl unangenehm ist, dürfen wir schließen, dass die gesamte Vorstellung deiner Folter für mich unangenehm ist. Das mir die Vorstellung von etwas unangenehm ist, heißt aber, dass ich wünsche, dieses Etwas sei nicht der Fall. Ich wünsche somit, dass du nicht gefoltert wirst, und ich wünsche das genau so, wie ich wünsche, dass ich selbst nicht gefoltert werde. Mit diesem Wünschen habe ich einen Grund, deine Folter zu verhindern. Dieser Grund ist zudem genauso stark wie der Grund, den ich habe, meine eigene Folter zu verhindern. Dabei muss ich den Wunsch, du mögest nicht gefoltert werden, nicht ausdrücklich, also explizit, hegen. Ich muss nicht ständig daran denken, ebenso wenig wie ich ständig daran denken muss, wie schön es ist, dass ich selbst gerade nicht gefoltert werde.

Ein für jede Moraltheorie zentraler Punkt ist der Universalismus, der besagt, dass es moralisch keinen Unterschied machen darf, wer Lust oder Leid empfindet (und insbesondere nicht, ob ich es bin). Während dieser Universalismus oft nur gefordert oder behauptet wird, folgt er in Fehiges Theorie wie nebenbei aus der Kompositionalität des Repräsentierens. Das ist elegant.

Was Kant nur für die Begriffe der Vernunft gelten ließ, dehnt Fehige nun auch auf Wünsche aus. Sofern es um elementare Freud- oder Leiderlebnisse geht, gelte eine Empathie a priori. Damit ist das Mitleiden keine Frage des Gemüts mehr - und also unabhängig vom bloßen Zufall , ob jemand ein großes Herz hat-, sondern fest verankert in der Vernunft. Fehige holt also die Moral in die praktische Vernunft hinein - ganz ohne Joker -, und zeigt, dass wir gute Gründe haben, ihr zu genügen.

In einer Szene einer Grisham-Verfilmung ("A Time to Kill") wird Fehiges Repräsentationsthese sehr eindringlich inszeniert. Es geht um die Selbstjustiz eines schwarzen Vaters, der die weißen Vergewaltiger seiner Tochter erschossen hat. Seine Chancen vor der weißen Jury stehen denkbar schlecht, bis es sein Anwalt in seinem Abschlussplädoyer mit einem psychologischen Kunstgriff schafft, dass sich die Jurymitglieder das Leiden der Tochter "vollständig, lebhaft und korrekt" repräsentieren. Er beschreibt zunächst ganz allgemein die Vergewaltigung eines zehnjährigen Mädchens auf schwer erträglich detaillierte Weise. Dann sein letzter Satz: "Und jetzt stellen Sie sich vor, das Mädchen sei weiß." Wo vorher latenter Rassismus herrschte, wird auf einmal der implizite Wunsch schockartig explizit: Kein Mädchen möge diese Qualen durchleben, also a fortiori auch nicht dieses - schwarze - Mädchen.

Hat also Empathie a priori auch empirisch Konsequenzen? Nur scheinbar. Die Jurymitglieder erschraken, als ihnen bewusst wurde, dass auch die eigenen weißen Töchter Opfer hätten sein können. Vor dem rhetorischen Trick sahen sie den impliziten Grund nicht, den sie immer schon hatten. Die Menschen in unserer Welt ziehen das eigene Wohl und das ihrer Kinder völlig anti-universalistisch vor und werden das wohl auch weiterhin tun. Evolution und Geschichte scheinen vor Fehiges Argument die Schultern zu zucken. Auch der Autor selbst gibt sich, was die weltverbessernde Kraft seines Arguments angeht, keinen Illusionen hin. Unter dem Titel "Was nützt es?" widmet er den Grenzen der Wirksamkeit einen eigenen Abschnitt.

Ist der Nutzen beschränkt, so steckt in diesem Reclam-Bändchen doch echter philosophischer Fortschritt. Dass sich die Welt in absehbarer Zeit nicht darum kümmern wird, kann schwerlich als Gegenargument gelten, und wenn, dann träfe es alle Moralbegründungen gleichermaßen. Fehige treibt moralphilosophische Grundlagenforschung und bietet einen völlig neuen Ansatz zur Begründung von Moral. Trotz der Neuheit und systematischen Stringenz verankert er seine Gedanken auch in der Geschichte der zentralen Begriffe: Mitleid, Wunsch und Empathie. Das Argument ist in seiner Grundstruktur einfach, doch in manchen Details unvermeidlich schwierig. Es wird klar, deutlich und mit Esprit entwickelt. Wenn sich die deutschsprachige Philosophie diesen Stil zum Vorbild nähme, wäre sie einen großen Schritt weiter.

Derek Parfit schreibt am Ende seines ebenfalls bahnbrechenden Werkes "Reasons and Persons", dass die Geschichte der nicht-religiösen Ethik als wissenschaftlicher Disziplin noch ganz am Anfang stehe. Daher sei es durchaus legitim, große Hoffnungen in sie zu setzen. "Soll ich?" erfüllt solche Hoffnungen und gibt eine Ahnung davon, wie nicht-religiöse Ethik arbeitet und was zu leisten sie imstande ist.

Titelbild

Christoph Fehige: Soll ich?
Reclam Verlag, Ditzingen 2004.
263 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-10: 3150183391

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