Weder autonom noch heteronom - das Ich und die Anderen

Eva Kormanns Studie zu autobiografischen Texten des 17. Jahrhunderts

Von Ruth AlbrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ruth Albrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch, dem eine 2002 an der Universität Karlsruhe angenommene Habilitationsschrift zugrunde liegt, stellt eine äußerst anregende Lektüre dar. Zum einen wegen der differenzierten Textinterpretationen und zum anderen wegen der Anregung, den theoretischen Deutungshorizont bei der Beschäftigung mit autobiografischen Texten weiter zu entwickeln. Die drei im Titel genannten Größen - Ich, Welt und Gott - stellen die Bezugspunkte autobiografischen Schreibens dar, die in ihrer Zusammengehörigkeit beachtet werden müssen, wenn die Aussagen der historischen Schriftstücke in ihrer jeweiligen Kontextualität gedeutet werden sollen. Eva Kormann entfaltet ihr Thema, indem sie sehr unterschiedliche Texte des 17. Jahrhunderts zur Basis ihrer Analysen macht, die gut fundierte Fragekategorien an die Zeugnisse einer bisher in der Autobiografie-Forschung viel zu wenig beachteten Zeitperiode herantragen. Von Frauen und Männern verfasste Autobiografik wird in einen theoretisch sorgfältig begründeten Diskursrahmen einbezogen, so dass sich sowohl neue Ergebnisse für die Autobiografie-Forschung formulieren lassen als auch Perspektiven für die weitere Forschungstätigkeit benannt werden können. Die vorliegende Arbeit basiert auf der Auswertung von autobiografischen deutschsprachigen Texten, die in gedruckter Form publiziert vorliegen. 14 Frauen und 4 Männer sind die Autorinnen und Autoren der ausgewerteten Schriftstücke, die z. T. aus selbstständigen Publikationen bestehen und z. T. nur Bruchstücke größerer Überlieferungskorpora bilden.

Kormanns Studie besteht aus zwei Hauptteilen sowie einer Zusammenfassung. Teil I (etwa 100 Seiten) bietet die theoretische Grundlegung und Teil II (etwa 200 Seiten) die Textanalysen. In dieser überzeugenden Gewichtung der beiden Teile liegt ein Reiz des Buches. Der erste Teil lässt sich als handbuchartige Einführung in den Stand der Autobiografie-Forschung unter besonderer Beachtung der Kategorie des Geschlechts lesen und verwenden. Im zweiten Teil legt die Verfasserin ihre Schwerpunkte auf drei Textgruppen: protestantische und pietistische Autobiografik, Klosterchroniken sowie autobiografische Familienchronistik.

In ihren Reflexionen zur theoretischen Grundlegung macht die Verfasserin plausibel, warum sie sich insbesondere Schriften von Frauen aus dem genannten Zeitraum zuwendet. Sie plädiert für eine "gendersensible Untersuchung", die auch Texte von Männern berücksichtigt und die auch nach der Bedeutung von Geschlecht fragt, wenn dieses nicht ausdrücklich thematisiert wird. Ihr Verständnis der Kategorie gender im Hinblick auf die Erschließung autobiografischer Texte formuliert Kormann folgendermaßen: "Eine genderorientierte Autobiographietheorie muss dagegen vor allem fragen, inwieweit Geschlechtervorstellungen (mit-)bestimmen, welche Kommunikationsbeziehungen eingegangen werden können, welche textuellen und paratextuellen Signale für deren Steuerung somit erfolgreich verwendbar sind, welche Chancen ein Text hat, in den Gattungskanon aufgenommen zu werden, und welcher Gattung Lesende einen bestimmten Text überhaupt zuordnen. Aber auch diese, die Modi von Texten betreffenden Einflüsse der Kategorie Geschlecht dürfen nicht überzeitlich als Dichotomien zwischen Autobiographien von Männern und Frauen festgeschrieben werden." Kormann fordert eine Historisierung sowohl der Autobiografiedebatte als auch der Gendertheorie.

Um der Aporie zu entkommen, die in autobiografischen Texten zum Ausdruck gebrachte Subjektivität entweder als heteronom oder als autonom zu entschlüsseln, verwendet Kormann den Begriff der Heterologie, den Verena Olejniczak propagiert. Heterolog wird hier verstanden als Sprechen von Anderem, über Anderes. Kormann möchte "Olejniczaks kaum rezipierten Begriffsvorschlag konkretisieren, präzisieren und verschärfen und in die Theorie und Geschichtsschreibung der Gattung Autobiographie einführen." Kormann vertritt die These, "dass die autobiographische Selbstkonzeption von Menschen des 17. Jahrhunderts heterolog ist. Ein Ich sagt, spricht, schreibt sich über das andere, über Gott und Welt. Auch Aussagen über anderes und über andere, über die Familie, die Umgebung, die Glaubensgemeinschaft oder Gott können, dies muss stets genau analysiert werden, - heterologe - Selbstdarstellungen sein." Bei fast allen Textanalysen rekurriert Kormann auf diesen Terminus, um die Ergebnisse ihrer Detailuntersuchungen abschließend zu profilieren.

In den einzelnen Bearbeitungen der Quellentexte verwendet die Verfasserin ein variierendes Frageraster, das neben spezifischen Analysekategorien in der Regel nach dem autobiografischen Pakt fragt sowie nach Selbstkonstruktion und Geschlechterkonzeption. Als Beispiel für die protestantische und pietistische Autobiografik werden Texte von Johanna Eleonora Petersen, Anna Vetter, Barbara Cordula von Lauter, Martha Elisabeth Zitter und Johann Wilhelm Petersen herangezogen. Obgleich die Aufzeichnungen Petersens und Vetters zu den prominenten Zeugnissen autobiografischen Schreibens von Frauen gehören, erschließen sich durch die Deutungen Kormanns neue Zugänge. Bei einem Vergleich der autobiografischen Schriften des Ehepaares Petersen kommt die Verfasserin zu folgendem Ergebnis: "Johann Wilhelms Selbstkonstitution kann als heterolog bezeichnet werden, allerdings ist es eine andere Heterologie als die Johanna Eleonora Petersens: Während diese die eigene Person über ihre Beziehung zu Gott darstellt, während sie durch diese Beziehung ihr Ich überhaupt auszudrücken vermag, ist die Heterologie Johann Wilhelms daneben auch eine Mehrstimmigkeit der verschiedenen Diskursfelder und Zitatenschätze." Als Hauptunterschied zwischen diesen beiden Autobiografien hebt Kormann den Umfang hervor, den "Raum, den einzunehmen ein autobiographisches Ich wagen darf [...]. Wenn Petersen also nur siebzig Seiten füllt und ihr Mann dagegen 400, liegt dies nicht an ihrem engeren Lebensrahmen, sondern an dem eingeschränkten Raum, den die Öffentlichkeit, an die sich beide explizit wenden, einer Autorin und dem Lebenslauf einer Frau gewährt, im Unterschied zu einem Autor und dem Lebenslauf eines Mannes."

Der zweite, die Klosterchroniken behandelnde Abschnitt von Kormanns Studie rekurriert auf Textzeugnisse der Dominikanerin Maria Anna Junius, der Augustinerin Clara Staiger, der Benediktinerin Maria Magdalena Haidenbucher und des Zisterziensers Sebastian Bürster. Diese autobiografischen Schriftstücke reflektieren die Krisenerfahrungen in Folge der militärischen Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges. Aus sehr unterschiedlichen Perspektiven in Bezug auf den jeweiligen Konvent notieren die drei Autorinnen und der Autor ihre Erfahrungen, die sie mit sich, mit ihrer Umgebung und mit Gott machen. "Die Analyse der drei Nonnenchroniken hat in der Schreibhaltung zur eigenen Person zwischen Junius, Staiger und Haidenbucher größere Unterschiede registrieren müssen. Doch gleichgültig, ob die Chronistinnen von sich selbst in der ersten Person Plural oder Singular schreiben, definieren sie sich über ihre Zugehörigkeit zur Schwesterngemeinschaft. Gerade diese Zugehörigkeit ermöglicht ihnen eine starke und konturierte Selbstkonstitution."

Für die Darstellung der autobiografischen Familienchronistik zieht die Verfasserin als Autorinnen heran: Maria Elisabeth Stampfer, Anna Höfel, Esther von Gera, Maria Cordula von Pranck, Eva Maria Peisser, Anna Wolff und Susanne Mayer; dazu kommen die männlichen Chronisten Hans Peisser und Elias Holl. "Bei allen hier analysierten familienbezogenen chronikalisch-autobiographischen Texten, gleichgültig ob aus dem Adel oder dem Bürgertum, gleichgültig ob von Frauen geschrieben oder von Männern, hat sich die Selbstkonzeption als heterolog erwiesen, das Ich der Schreibenden konturiert sich in seinen Bezügen, nicht im Kontrast zu anderen und in seinen Leistungen".

Eva Kormanns Untersuchungen beziehen sehr unterschiedliche Texte des 17. Jahrhunderts ein, die als Belege für autobiografisches Schreiben gewertet werden; dieses Schreiben findet in einem Beziehungsgeflecht statt und reflektiert gleichzeitig dieses Netz von sozialen Bezügen. Die vorgestellten Schriftstücke werden unter einer literaturwissenschaftlichen Perspektive erschlossen, die sowohl jeden einzelnen autobiografischen Bericht differenziert analysiert als auch diesen in den Gesamtkontext autobiografischen Schreibens einordnet. Die von Kormann schwerpunktartig verwendete Interpretationskategorie der Heterologie leuchtet in ihrem Aussagegehalt ein; denn sie markiert die Andersartigkeit von Selbstkonzeptionen gegenüber den lange von der Literaturwissenschaft für prototypisch gehaltenen Modellen des 18. und 19. Jahrhunderts. Allerdings bleiben aus der Sicht einer Kirchenhistorikerin, die diese Rezension verfasst, dabei noch Fragen offen. Kormann unterstreicht pointiert, dass ihre Untersuchung sich auf das "Ich im Text" bezieht und nicht auf ein "Ich hinter dem Text". Auch wenn diese Einschränkung einer literaturwissenschaftlichen Methodik gemäß ist, so muss trotzdem in Betracht gezogen werden, dass die in dieser Studie als heterolog bezeichneten Zuordnungsgrößen gerade nicht nur auf der sprachlichen Ebene vorhanden sind. Die hier vorgestellten Personen umschreiben ihr Ich, indem sie auf der sprachlichen Ebene Beziehungen abbilden, die sie als real erleben wie den Generationenverband der Familie, die Klostergemeinschaft oder das Verhältnis zu Gott. Die weitere diskursive Beschäftigung mit den Anregungen Kormanns muss erweisen, ob der Terminus heterolog sich als tragfähige Bezeichnung für das Verständnis frühneuzeitlicher Autobiografik bewährt. Eva Kormann hat mit ihrer Studie einen Prozess vorangebracht, auf dessen Fortgang man nur gespannt sein kann.

Am Schluss seien noch zwei Marginalien zur Verwendung kirchengeschichtlicher Terminologie angefügt. Der Begriff "protestantisch" für die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen hat seinen historischen Ort in den Auseinandersetzungen des 16. und wird erneut wichtig in den theologischen und kirchlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert hingegen zeichneten sich die Konfessionen durch strenge Abgrenzungen gegeneinander ab; die Trennungslinien verschoben sich durch den Pietismus, wurden jedoch nicht beiseite geschoben. Im Zusammenhang mit Anna Ovena Hoyers taucht in Kormanns Studie das Wort "Wiedertäufer" auf - diese Bezeichnung entstammt der konfessionellen Polemik und zielt auf die Häretisierung der so gebrandmarkten Gruppen ab. Diese selber verstanden sich als "Täufer", da es nach der Grundüberzeugung aller christlichen Kirchen nur eine Taufe gibt, die nicht wiederholt werden kann. Die Täuferbewegung vollzog gerade deshalb Taufen an Erwachsenen, weil sie die Kindertaufe nicht als gültig betrachtete. Die Anerkennung dieses Selbstverständnisses hat sich mittlerweile in der allgemein verwendeten Terminologie unter Verzicht auf die Partikel "wieder" niedergeschlagen.

Titelbild

Eva Kormann: Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert.
Böhlau Verlag, Köln 2004.
357 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 341216903X

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