Ins Innere eines U

Zum Lyrikdebüt Andreij Glusgolds

Von Ron WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ron Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem der jüngeren Gedichte von Volker Braun heißt es mürrisch: "Das Großeganze ist geschenkt / von Einzelheiten werd ich satt." Unter die immer wieder aufkeimenden Utopieversuche ist ein vorläufiger Schlussstrich gezogen, eine hoffen machende Summe aus der Diagnose der Gegenwart nicht zu bilanzieren.

Wo Volker Braun noch in einer Mischung aus Verstocktheit und (antrainierter) Courage am beschädigten Leben laboriert, ist vielen jungen Lyrikern hierzulande der Mangel an großenganzen Idealen bis zur Kenntlichkeit vertraut. Dass größere Utopien auf unbestimmte Zeit außer Betrieb sind, ist elementar geworden.

Die Poesie nimmt die Position einer kritischen Vehemenz kaum mehr ein: Das Wissen um den Verlust an gesellschaftlicher Perspektive wird vorausgesetzt und gehört mithin zum Subtext vieler Lektüren.

Man operiert zwischen dekadenter Metaphorik, so etwas wie "linker Melancholie" und einem manchmal gut gelaunten, manchmal rachitischen Pragmatismus.

"Der Unsinn waltet", schreibt der 1967 geborene Andrej Glusgold zweideutig lapidar in einem Gedicht seines Debütbands "Ein Mann unter Einfluss". Gegen den äußeren "Unsinn" etabliert er den Wahnwitz einer überdrehten Poesie. Aus einem "Traumunterstand" heraus spielt er mit der Ambivalenz des Aufzeichnens möglicherweise kleiner Dinge. Er wird nicht zwangsweise von Einzelheiten satt, sondern hat regelrecht einen Hunger darauf entwickelt: auf Szenen des Alltags, die er zart böse und grimmig humorvoll in poetische Cartoons verwandelt.

Eine "Postkarte aus Sanssouci" berichtet: "Hier ist es fast wie auf Capri. / Die Statuen und Palmen kommen super / in abendlicher Technicolor-Beleuchtung. / Ein paar Übriggebliebene ziehen sich / schweißüberströmt zu den Bussen zurück, / während die Parkarbeiter die letzten Kamelien / auf einem Gabelstapler aus der Orangerie / rausfahren. An den Teichen geben die Frösche / mit Walkie-talkies leise Entwarnung."

Oft sind es Szenen einer prinzipiellen Unausgefülltheit, die Glusgold ver- und überzeichnet. Nahezu floskelhafte Situationen von Makel, aus denen (eigens erzeugte) grelle Singularitäten leuchten. "Blaue, glitschige Kurtisanen" neben den schönen, aber heillosen Versuchen, auszuwandern "ins Innere eines U" oder "die Geschwindigkeit / des eigenen Blutes auf die Witterung abzustimmen".

Glusgold sondiert das Leben auf der Suche nach kleinen Sensationen. Und sortiert sie dann wie verschrobene Elementarteilchen auf die Perlenketten seiner lakonisch und nüchtern platzierten Statements, die oft reizend ungelenk wirken.

Die Szenerie ist bei Glusgold die einer eigenartigen Heimatmelange aus Metropole und no land. In einer Nachbemerkung zu vorliegendem Band beschreibt René Hamann ihn als "Dichter im Invalidenpark" bezeichnet. Es ist ein Park, den Daniil Charms und Franz Kafka ganz ähnlich betreten haben.

Titelbild

Andrej Glusgold: Ein Mann unter Einfluss. Gedichte und Zeichnungen.
Revonnah Verlag, Hannover 2004.
80 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3934818218

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